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Vor dem Überfall

Unter Vorspiegelung wirtschaftlicher Kooperation hat das NS-Reich die Sowjetunion bis zum 21. Juni 1941 - heute vor 75 Jahren, einen Tag vor dem Überfall auf das Land - zur Lieferung kriegswichtiger Rohstoffe veranlassen können. Daran erinnern Untersuchungen von Historikern. Hintergrund ist die Ausweitung des bilateralen Handels gewesen, für die Berlin Moskau im Sommer 1939 gewinnen konnte. Während das Deutsche Reich dringend Rohstoffe benötigte, über die die Sowjetunion verfügte oder die sich aus von Japan kontrolliertem Gebiet über sowjetisches Territorium heranschaffen ließen, hoffte die sowjetische Regierung, aus Deutschland Investitionsgüter sowie moderne Rüstungstechnologie zu bekommen, die sie zur Verteidigung benötigte, die zu liefern Großbritannien und die USA aber nicht bereit waren. Der Deal schloss an die deutsch-sowjetische Kooperation während der Zeit der Weimarer Republik an, die Berlin nutzte, um unter Bruch des Versailler Friedensvertrags Kampfflugzeuge und Giftgas zu produzieren. In der Hoffnung, NS-Deutschland durch die Bereitstellung von Rohstoffen von einem Angriff abhalten zu können, habe die sowjetische Staatsspitze 1941 die Lieferung von Treibstoffen und Getreide sogar noch ausgeweitet, berichtet der Historiker Heinrich Schwendemann. Die Hoffnung, die Zusammenarbeit mit Berlin werde einen Krieg abwenden können, trog.

Geheime Rüstungskooperation

Begonnen hatte die deutsch-sowjetische Kooperation bereits im Jahr 1920, als Berlin und Moskau erste Gespräche über eine geheime Militär- und Rüstungskooperation aufnahmen. Hintergrund war auf deutscher Seite das Interesse, zentrale Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages zu unterlaufen, die der Reichswehr strikte Grenzen setzten. Die sowjetische Seite hingegen war darum bemüht, ihre Rüstungsindustrie zu modernisieren und vor allem ihre Isolierung durch die Mächte Westeuropas sowie die USA zu durchbrechen. Anfang 1921 wurde im Reichswehrministerium eine "Sondergruppe R" ("R" für Russland) eingerichtet, die die Verhandlungen koordinierte. Auf dem Fortschritt in den Gesprächen aufbauend, schlossen das Deutsche Reich und die Sowjetunion am 16. April 1922 den Vertrag von Rapallo, der die Rüstungskooperation nicht ausdrücklich erwähnte, aber mit der offiziellen Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen und einer Förderung der wirtschaftlichen Kooperation recht günstige Rahmenbedingungen für sie schuf. Am 26. November 1922 konnte die deutsche Firma Junkers einen Vertrag über die Produktion von Kampffliegern und Motoren in Fili bei Moskau unterzeichnen; es folgten der Aufbau einer Giftgasproduktion in der Nähe von Samara sowie die Aufnahme der Artilleriemunition-Herstellung an mehreren Standorten in der Sowjetunion.

Spione und Agenten

Zu ersten Schwierigkeiten kam es bereits nach wenigen Jahren. Sowjetische Stellen konstatierten, dass die deutsche Seite zum einen keinerlei Interesse erkennen ließ, die Modernisierung der sowjetischen Industrie wie geplant zu unterstützen, dass sie zum anderen aber die Rüstungskooperation zu nutzen schien, um im Innern der Sowjetunion subversive Aktivitäten zu entfalten. Man sei zu dem Schluss gekommen, dass "praktisch alle leitenden deutschen Mitarbeiter" der involvierten Firmen "Spione und Agenten" seien und Berlin das Fernziel verfolge, ein "monarchistisches Rußland" wiederherzustellen, hieß es in Moskau.Sergej A. Gorlow: Geheimsache Moskau-Berlin. Die militärpolitische Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich 1920-1933. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 44 (1996). S. 133-165. Die deutsche Flugzeug- und die Giftgasproduktion mussten 1927 beendet werden. Allerdings wurde die Kooperation nicht insgesamt zurückgefahren, sondern nur "auf andere Gleise überführt", wie sowjetische Stellen festhielten: Die Reichswehr richtete unter anderem eine Fliegerschule bei Lipezk, eine Panzerschule bei Kazan und eine Chemiewaffenschule bei Saratow ein. Begleitet wurde die militärische Kooperation vom Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, die ab 1928 vom neu gegründeten Russland-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft systematisch gefördert wurde.

Rohstoffe gegen Technologie

Während die Militärkooperation 1933 eingestellt wurde - sie war aus deutscher Sicht nicht mehr nötig, da das Reich sich nun stark genug fühlte, um zu offener Aufrüstung und zum offenen Bruch des Versailler Vertrags überzugehen -, wurde die ökonomische Zusammenarbeit zwischen den zwei Ländern fortgesetzt: Der Russland-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft stellte seine Tätigkeit erst 1941 ein.Sven Jüngerkes: Diplomaten der Wirtschaft. Die Geschichte des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Osnabrück 2012. S. 30. Tatsächlich nahm die Wirtschaftskooperation nach dem Abschluss eines deutsch-sowjetischen Kreditabkommens am 19. August 1939 sogar einen neuen Aufschwung. Motiv für den Abschluss des Abkommens war auf deutscher Seite das Bemühen, nach dem Überfall auf Polen und den absehbaren internationalen Reaktionen seine Rohstoffversorgung zu sichern, vor allem den Bedarf an Mineralöl und Getreide; ergänzend hoffte Berlin, die Genehmigung für den Import von Nichteisenmetallen, Kautschuk und Sojabohnen aus von Japan kontrollierten Gebieten mit der Transsibirischen Eisenbahn über sowjetisches Territorium zu erhalten. Moskau erfüllte der deutschen Regierung beide Wünsche. Im Gegenzug setzte die sowjetische Regierung darauf, in Deutschland den Zugang zu Investitionsgütern und zu moderner Rüstungstechnologie zu erhalten, den Großbritannien und die USA ihr berharrlich verweigerten. Zudem meinte sie, wie der Historiker Heinrich Schwendemann von der Universität Freiburg schreibt, einen Krieg mit dem Deutschen Reich vermeiden zu können, indem sie mit ihm wirtschaftlich kooperierte.Heinrich Schwendemann: Stalins Fehlkalkül: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion 1939-1941. In: Christoph Koch (Hg.): Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt? Charakter, Bedeutung und Deutung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939. Frankfurt am Main 2015. S. 293-312.

Liefern gegen den Krieg

Tatsächlich kam es zu einem starken Aufschwung im bilateralen Handel. Hatte der Warentausch zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion 1939 bei 60 Millionen Reichsmark gelegen, so stieg er 1940 auf einen Wert von mehr als 600 Millionen Reichsmark an und erreichte im ersten Halbjahr 1941 sogar ein Volumen von rund 440 Millionen Reichsmark. Vom 18. Dezember 1939 bis zum 30. April 1940 erhielt das Reich 103.000 Tonnen Getreide und 116.000 Tonnen Treibstoffe aus der Sowjetunion. Danach stockte die Ausfuhr kurzzeitig, da Berlin seinerseits nicht lieferte. Nachdem das Reich aber vereinbarungsgemäß die ersten Kampfflieger überführt und einen Kreuzer nach Leningrad gebracht hatte, nahm Moskau die Exporte wieder auf; von Anfang Juni bis Ende August 1940 gelangten fast eine Million Tonnen Rohstoffe aus der Sowjetunion nach Deutschland. Es sei sogar "zu Stauungen an der Grenze zum deutschen Machtbereich" gekommen, "da die Reichsbahn große Probleme hatte, die Massengüter transportmäßig abzuwickeln", berichtet Schwendemann.Heinrich Schwendemann: Stalins Fehlkalkül: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion 1939-1941. In: Christoph Koch (Hg.): Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt? Charakter, Bedeutung und Deutung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939. Frankfurt am Main 2015. S. 293-312. 1941 weitete Moskau die Ausfuhren noch weiter aus. Während die Hinweise auf die Vorbereitungen für den deutschen Überfall auf die Sowjetunion zunahmen, habe Moskau geglaubt, Berlin mit einer erneuten Steigerung seiner Rohstofflieferungen zufriedenstellen und so den Krieg abwenden zu können, schreibt Schwendemann. Im März 1941 hätten sich "an den Grenzbahnhöfen … die Züge mit Getreide, Treibstoffen, NE-Metallen" gestaut, da "die deutsche Seite nicht mehr mit dem Umladen fertig wurde". Im Mai 1941 seien Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion im Rekordvolumen von 88 Millionen Reichsmark eingetroffen.

Liefern für den Krieg

Berlin war zufrieden. Auf das Vorhaben, "einen rassistischen Vernichtungskrieg mit dem eingeplanten Mord an Millionen von Menschen zu führen", war man längst eingeschworen, hält Schwendemann fest. Die deutsche Seite habe trotzdem dafür gesorgt, der Sowjetunion noch bis kurz vor dem Überfall auf sie Maschinen zu liefern, um Moskau in Sicherheit zu wiegen, "die sowjetischen Vorleistungen an Rohstofflieferungen bis Angriffsbeginn zu sichern und gleichzeitig die Kriegsvorbereitungen mittels der Aufrechterhaltung einer weitgehenden Normalität im Handelsverkehr zu tarnen".Heinrich Schwendemann: Stalins Fehlkalkül: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion 1939-1941. In: Christoph Koch (Hg.): Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt? Charakter, Bedeutung und Deutung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939. Frankfurt am Main 2015. S. 293-312. Der Plan ging auf. Noch im Mai gestattete Moskau Sonderzügen mit 5.000 Tonnen Kautschuk aus Ostasien die Durchfahrt durch Sibirien in den deutschen Machtbereich "und beseitigte damit in letzter Minute den deutschen Engpaß in der Reifenproduktion für das Unternehmen Barbarossa", berichtet Schwendemann. Und nicht nur das: "Ohne die sowjetischen Treibstofflieferungen - etwa eine Million Tonnen - hätte die Wehrmacht 1941 nicht bis kurz vor Moskau vorstoßen können".

Zum Losschlagen bereit

Der 1920 eingeleitete Versuch der Sowjetunion, durch eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland gemeinsame Interessen zu schaffen und auf diese Weise deutschen Aggressionen vorzubeugen, scheiterte in dem Moment, als Berlin - in der Kooperation mit Moskau erstarkt - sich in der Lage fühlte, seine Expansion nach Osten mit militärischer Gewalt durchzusetzen. "Der letzte Getreidezug passierte in der Nacht von 21. auf 22. Juni 1941 die deutsch-sowjetische Demarkationslinie in Polen", schreibt Schwendemann.Heinrich Schwendemann: Stalins Fehlkalkül: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion 1939-1941. In: Christoph Koch (Hg.): Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt? Charakter, Bedeutung und Deutung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939. Frankfurt am Main 2015. S. 293-312. Er erreichte sein Ziel, als die Wehrmacht "zum Losschlagen bereitlag".

Quelle: www.german-foreign-policy.com   vom 21.06.2016.

Fußnoten

Veröffentlicht am

23. Juni 2016

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