Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Selbstwertstörung als Massenphänomen

"Deutschland" - ein Kampfbegriff

Dr. med. Michael Wilk (*1956) ist Arzt und Umweltaktivist. In graswurzelrevolution 398 berichtete der anarchistische Autor aus Rojava/Nordsyrien. Nun analysiert er die Verschärfung des Asylrechts und den Aufschwung von Rassismus und Nationalismus, der sich unter anderem durch PEGIDA, die aktuellen Wahlerfolge der AfD und viele rassistische Angriffe und Brandanschläge auf Flüchtlingsheime zeigt. (graswurzelredaktion-Red.)

Von Michael Wilk

"Ihr Heuchler, die ihr euch Demokraten und Humanisten schimpft, aber für eine Verschärfung des Asylrechts stimmt - ich wünsche euch einen Aufenthalt in einem von Bomben zerfetzten Land, ohne Trinkwasser, Strom und medizinische Hilfe, eine Trennung von euren Familien, die Angst und den Schrecken. Ich wünsche euch die Strapazen der Flucht, die Ausbeutung der Schlepper, die es nur gibt, weil ihr eine direkte und legale Einreise verbaut. Ihr seid Feiglinge, die vor dem Mob der Rassisten und völkischen Stimmungsmacher zurückweichen, weil ihr den Popularitätsverlust fürchtet. Behauptet später nicht, dass ihr nicht gewusst habt, was ihr tut."M. Wilk, Facebook, Posting nach der Asylrechtsverschärfung.

Besser fühlen durch Nationalgefühl - die Erhöhung des eigenen Seins durch nationale/völkische Identität hat Hochkonjunktur.

Selbstaufwertung durch nationalistisches "Wir"-Gefühl wirkt stabilisierend, aufbauend fürs schwache, in seiner Befindlichkeit bedrohte Ich.

Gründe, in die wohlfeile völkisch-nationale deutsche Befindlichkeit zu driften, hat offensichtlich nicht nur der klassische Einfach-Nazi, der sich besser fühlt, indem er sich als Mitglied einer "überlegenen Rasse" definiert. Die Stabilisierung des angeschlagenen Selbstwerts durch nationale Zugehörigkeitsgefühle ist längst zum Massenphänomen geworden. "Wir-sind-das-Volk"-Parolen werden zum patriotischen Mentalkleister, der emotional zusammenpappt und Gemeinsamkeit beschwört.

Ein System, das den Menschen über die Einbindung in den sozialen Mainstream Halt, Sicherheit und soziale Gemeinschaft zu vermitteln versteht, erzeugt im Umkehrschluss Angst und Unsicherheit, sobald die Position in der Mitte der Gesellschaft gefährdet erscheint.

In Zeiten ökonomischer Verschärfung, wachsender Konkurrenz und ausgedünnter sozialer Sicherungssysteme passiert genau dies - in gesteigertem Maß und massenhaft. Dieser Effekt zeigt sich nicht nur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, wo ganze Regionen ökonomisch abgehängt aufgegeben haben auf blühende Landschaften zu warten, sondern eben überall, wo Entfremdung, Sinnentleerung und Konkurrenzverhalten nicht mehr durch Konsummöglichkeit und Teilhabe am Höher-Schneller-Weiter kompensiert und belohnt werden.

Die Enttäuschung und die Angst vor Deklassierung können individuell verarbeitet werden. Die Ursache des "gesellschaftlichen Scheiterns" wird hierbei weniger beim System kapitalistischer Verwertung als vielmehr schuldhaft bei sich selbst gesehen. Immer offener und häufiger jedoch erzeugt die Angst, aus der Mitte der Gesellschaft weiter an den Rand gedrängt zu werden, jene üblen Reaktionen auf andere, die als Minderheiten zu Störenfrieden der sozialen Gemeinschaft erklärt werden.

Fremde, Geflohene, Sozialhilfeempfangende, Homosexuelle, Wohnungslose, aber auch Menschen mit Behinderung werden nicht mehr als Menschen wahrgenommen, denen solidarisch zu begegnen ist, sondern sie dienen zunehmend als Ventil der Wut für diejenigen, die nicht gelernt haben, sich emanzipativ gegen die eigentlichen Ursachen der Misere zu stellen.

Es dominiert das Gefühl, im Verteilungskampf auf der Strecke zu bleiben, um verknappende Ressourcen kämpfen zu müssen, zu verteidigen, was noch bleibt, gegen die, die anders erscheinen, oder die noch viel weniger haben und trotzdem als Bedrohung empfunden werden.

Dies ist nicht möglich ohne den verstellten Blick auf die eigentlichen Verhältnisse: dass es mehr als genug für alle gäbe, wäre es nur anders verteilt, und dass es darüber hinaus um mehr gehen könnte als die gewohnte, an Konsum- und Arbeitsfähigkeit geknüpfte Wertigkeit als Mensch.

Das Gefühl der Entwertung wird zudem nicht nur durch ökonomische Faktoren gespeist, es ergreift auch manche jener durchaus etablierten Bürgerinnen und Bürger, die nicht von pekuniärer Verelendung bedroht sind. Die Kälte der Gesellschaft, der Mangel an Respekt und Menschlichkeit, schaffen ebenso wie die zunehmende Isolation und Vereinzelung starke Bedürfnisse nach stabilisierender Kompensation. In Ermangelung emanzipativer Strategien finden sich Lösungen in Identitäten: als ordentliche Deutsche oder auch Verteidiger einer abendländischen Kultur. Nicht nur grotesk, sondern gefährlich wird die Kompensation eines gefürchteten Statusverlustes von Angehörigen einer "deutschen, weißen Mittelstandskultur", wenn sie fließend in rassistische Angst vor Überfremdung übergeht, die zudem regelmäßig als öffentliches Massenereignis zelebriert wird. Hier bietet sich die Chance, endlich jemand zu sein, aufbegehren zu können, gegen die Medien und gegen die Verantwortlichen, aber nicht emanzipativ, egalitär und human, sondern jenen neuen Führerinnen und Führern folgend, die populistisch aufgreifen, was die Verunsicherten bewegt.

Brachial-autoritäre Muster haben Hochkonjunktur, vor allem bei jenen, die nie lernten, an Autoritäten zu zweifeln und sie in Frage zu stellen. Die ungebrochene Einbindung ins Machtsystem schafft jenes antiemanzipative Verhalten, das auf bedrohliche Situationen nicht nur mit Überanpassung und vorauseilendem Gehorsam, sondern auch mit Aggressionen gegen Minderheiten reagiert. Die Angst vor Deklassierung erzeugt jene reaktionäre Wut, die sich vordergründig gegen Regierende richtet, aber auf Grund der Identifizierung mit Macht und Herrschaft nicht in der Lage ist, das autoritäre Muster an sich in Frage zu stellen.

Die Wut wird vielmehr umgelenkt, auf die, die schwächer sind, und an denen ausgelassen, die am Rande des gesellschaftlichen Mainstreams stehen. Es entsteht zusammen mit der archaischen Abwehrreaktion vor Fremden/Unbekannten eine rassistische, tödliche Gemengelage. Die Erhöhung des eigenen Seins durch das Völkische und nationale Kriterium wertet die Fremden, die Anderen, die Nicht-Deutschen ab.

Pegida und andere völkische Bewegungen sind Ausdruck und Massenphänomen dieses Musters, das zur Abwehr eigener Unsicherheit und Angst billige Lösungen anbietet. Die völkische Identität einer Deutsch-abendländischen Kultur, die es angeblich zu verteidigen gälte, wird zum legitimierenden Hirngespinst jener Menschen, die sich besser fühlen, indem sie andere ausgrenzen, letztlich angreifen und dem Tode preisgeben. In letzter Konsequenz wird den an den Grenzen Europas zum Abschuss freigegebenen Geflohenen von Frau von Storch, Frauke Petry und anderen AfD-PolitikerInnen das Lebensrecht abgesprochen, eine barbarische Denke, die in den terroristischen Brandanschlägen auf bewohnte Unterkünfte exekutiert wird.

Machtverlust und rassistische Stimmungsmache

Bezeichnend ist, dass das Entsetzen der etablierten Parteien und der Staatsvertreter sich weitaus weniger an belagerten Bussen, brennenden Unterkünften von Geflüchteten entzündet, sondern dann, wenn sich der Rechtsruck in Kommunal- und Landtagswahlen manifestiert. Gefürchtet wird offenbar weniger die Bedrohung von Leib und Leben der Geflohenen als die Irritation der gewohnten Sitzordnung in der Ratsversammlung. Erst jetzt, angesichts des eintretenden eigenen Machtverlustes auf parlamentarischer Ebene, wird sich über das Übel rechter populistischer Stimmungsmache echauffiert. Laut lamentierend wird geflissentlich vergessen, dass nicht erst AfD und NPD sich des völkisch-nationalistischen Geistes bedienen. Auch die Funktionalisierung des Deutschen ist kein Alleinstellungsmerkmal besagter Parteien.

Beispielsweise versuchte im Jahre 2005 die breit angelegte Initiative "Du bist Deutschland" eine von Medienunternehmen gepuschte und von Bertelsmann koordinierte Sozial-Marketing-Kampagne, ein neues deutsch-nationales Wir-Gefühl zu etablieren [die GWR berichtete].

Auf von Medien zur Verfügung gestellten Anzeigenplätzen für rund 35 Millionen Euro wurden krude Parolen verbreitet: "Genauso wie sich ein Lufthauch zu einem Sturm entwickelt, kann Deine Tat wirken. […] Dein Wille ist wie Feuer unterm Hintern. […] Du bist 82 Millionen. Behandle Dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn […] Du bist Deutschland."

Die breit, auch von liberal-demokratischen Prominenten unterstützte Propaganda, distanzierte sich vordergründig vom Nationalsozialismus, bemühte sich jedoch inhaltlich darum, einen positiven Deutschland-Begriff wieder hoffähig zu machen. Verbreitet mit dem benannten Ziel, "eine neue Machermentalität begründen, die Deutschen zu mehr Zuversicht ermutigen und - in einer zweiten Kampagnenwelle - eine kinderfreundliche Atmosphäre schaffen"Zit. n. www.fischerappelt.de/cases/du-bist-deutschland/ , verfolgte die Kampagne eine einbindende und identitätsstiftende Aufwertungsstrategie im Sinne eines Nationalismus light. Ein gefährliches Kalkül.

Die Ankoppelung der eigenen Wertigkeit ans Vaterland ist, trotz eigentlicher Absurdität, nie harmlos. Es ist vielmehr ein elementarer Schritt in der selbstüberhöhenden Psychodynamik chauvinistischer Genese, die das Ich zum national-völkischen Wir transformiert. Einmal angekommen im "Wir sind das Volk"-Schreier-Kollektiv, wird Barbarisches leichter möglich: Das chauvinistische "Wir"-Empfinden stärkt und legitimiert die Unterscheidung in Wert und Unwert, in Drinnen und Draußen. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob mehr das Abendländisch-Europäische, statt des Deutschnationalen als Diskriminierungschiffre dient.

Sammelbewegung der Abgehängten

Bezeichnend ist, dass die "Angst, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein", ausgerechnet bei denen zur Triebfeder chauvinistischer Aktivitäten wird, die eines ganz bestimmt noch nie waren: Herr im Haus. Die unübersehbar erstarkte völkische Sammelbewegung speist sich aus den Abgehängten und den vom gesellschaftlichen Wertverlust Bedrohten.

Verlierer eines Systems, das völlig anderen Ordnungsprinzipien folgt als völkisch-nationalen.
Gegenwärtige Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen folgen einer globalisierten Ökonomie, für deren Verwertungsmaxime Herkunft und Abstammung von Menschen von sekundärem Interesse ist.

Vielmehr stehen Fertigkeiten und Konsumkraft, die Potenz als Produzent und Konsument im Vordergrund. Es geht um Benutz- und Verwertbarkeit, Hautfarbe und nationaler Herkunftsrahmen sind höchstens dann von Belang, wenn sie bei ersterem eine Kosten- oder Nutzenrolle spielen (z.B. "Arbeitsschutzgesetze" in Bangladesch). Nationale Grenzen sind hier im Zweifel eher störend und werden zugunsten von Freihandelsabkommen zumindest auf Handelsebene modifiziert.

Neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik, und die damit verbundene Ausdünnung sozialer Sicherungssysteme, führen zu gesellschaftlichen Verwerfungen. Sie führen zu jener Angst und Unsicherheit, die nun zum Nährboden rassistischer Reflexe werden.

Durch deregulative Maßnahmen erodiert ein System staatlicher Herrschaft, das über Fürsorge und soziale Sicherung tragfähige Identifikationsebenen herstellt und damit die Menschen einbindet. Zudem stabilisiert durch eine gewisse Gewinnbeteiligung vieler am Ergebnis globalisierter Ausbeutung, mit dem Gefühl, am Kuchen beteiligt zu sein.

Eine subtile und perfide Methode der Herrschaftssicherung durch Konfliktvermeidung und Einbindung, etwas teurer, aber dafür umso reibungsloser und wirkungsvoller. Imperiale Skrupellosigkeit, Krieg, Mord und Totschlag haben ebenso wie offene Ausbeutung von Mensch und Natur außerhalb der Grenzen stattzufinden. Eine wirkungsvolle Strategie, die mit zunehmender neoliberaler Deregulation und schwindender Konsumkraft ins Wanken gerät.

Die Ursachen der Eskalation

Zeitgleich eskalieren Konflikte, die ebenfalls zum größten Teil Folgen imperialer und postkolonialer Politik sind. Millionen Menschen werden durch Krieg und Zerstörung, durch Hunger und Elend zur Flucht gezwungen. Tausende sterben auf gefährlichen Fluchtwegen, im Bemühen, sichere Länder zu erreichen. Die Phase, in der die Grenzen wenigstens für die offen gehalten wurden, die das Mittelmeer überlebten, dauerte nur kurz. Die Grenzen werden geschlossen, Frontex macht Jagd auf Schlepper, die es nur gibt, weil keine legale Einreisemöglichkeit besteht. Geflohene werden zudem zum Faustpfand nationaler Interessen, in der Durchsetzung politischer Ziele.

Verräterisch die Diktion in der Debatte: Flüchtlingsproblem. Menschen fliehen, weil sie in Not sind, Probleme haben, wenn man Krieg und Terror überhaupt so bezeichnen kann. Aber aus der Sicht mitteleuropäischer Befindlichkeit werden die Opfer zum Problem. Da wird es als legitim betrachtet, das Asylrecht zu verschärfen, immer mehr Krisenzonen zu sicheren Herkunftsländern zu erklären und mit dem türkischen Staat Geschäfte auszuhandeln, während dieser selbst eine autoritäre Politik gegenüber der Opposition verfolgt und kurdische Menschen attackiert. Grund- und Menschenrechte gelten nicht für Geflohene, sie sind lästig, nicht gewollt, ein Kostenfaktor.

Das rassistische europäisch-deutsch-nationale-Abendland-Gebrüll verunsichert durchaus auch Teile der etablierten Politik. Die Forderung nach kompletter Schließung der Grenzen und die völkischen Parolen sind "unschön", ebenso wie der die Unterkünfte belagernde und brandstiftende Mob. Das brachiale Auftreten stört das Bild vom zivilisierten Deutschen und zeigt, wie fruchtbar er noch ist, der Schoß, aus dem das kroch.

Bei aller vordergründigen Distanzierung der etablierten Parteien vom rassistischen Geschrei, unübersehbar zeigt sich eine Tendenz des Zurückweichens, ein Eingehen auf die "berechtigten Sorgen der Mitbürger". Dabei werden nicht die zugrundeliegenden Machtverhältnisse hinterfragt, dazu wäre es notwendig, sich mit seiner eigenen Rolle kritisch auseinanderzusetzen, sondern populistische Elemente werden übernommen.

An einem Bewertungsmerkmal sind sich jedoch die etablierten Parteien einig: in der Einschätzung der ökonomischen Verwertbarkeit von Geflohenen als positivem Aspekt, vor allem auch in Sachen Akzeptanzschaffung. Kein neues Moment in der Auseinandersetzung.

Schon vor 25 Jahren versucht der grüne multi-kulturelle Stadtrat Frankfurts, Daniel Cohn-Bendit, die Quotenregelung für EinwandererInnen als arbeitsmarktpolitische Vernutzungsmöglichkeit schmackhaft zu machen: "Die Bundesrepublik, am besten ganz Europa, müsste sich zur Einwanderungsregion erklären. Eine Einwanderungsbehörde bestimmte dann, welchen Bedarf es in der Bundesrepublik oder in Europa gibt. Die Zahl sollte mit den Arbeitsämtern festgelegt werden", z.B. "ließen sich Ausländer in sechs Monaten als Hilfspfleger ausbilden". (D. Cohn-Bendit, Spiegel 35/91)Michael Wilk, "Der Malstrom, Aspekte anarchistischer Staatskritik", Haug/Wilk, Trotzdemverlag, Grafenau 1995.

Das Argument, die deutsche Wirtschaft und auch die Rentenkasse würden sich über gut integrierte und arbeitswillige Geflohene freuen, zeigt einmal mehr, dass es mit dem Ideal der Menschenliebe, die unabhängig von ökonomischer Verwertbarkeit Bedürftige einfach willkommen heißt, nicht gut bestellt ist. Schon damals musste festgestellt werden, was heute mehr denn je gilt: "Düster zeichnet sich das Bild real ausgerichteter Politik: Nicht mehr die Ursachen von Flucht, Vertreibung und Ausbeutung von Menschen sind die Maxime, sondern Kategorien der Akzeptanz der deutschen Bevölkerung."Ebenda.

Ein gefährlicher Parameter, insbesondere dann, wenn sich nicht an den Hundertausenden aktiv solidarischen Menschen orientiert wird, sondern an besagter völkisch-rassistischer Reaktion.

Quelle: graswurzelrevolution 408 gwr april 2016.

Fußnoten

Veröffentlicht am

08. Mai 2016

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