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Flüchtlingspakt: Klar zur Wende

Die von der Bundesregierung lange ausgeschlossenen Grenzschließungen und Obergrenzen für Flüchtlinge wurden durch den Deal mit der Türkei faktisch besiegelt

Von Lutz Herden

Einst verfocht die NATO eine Abschreckungsdoktrin gegenüber dem Ostblock, besonders der Sowjetunion, der unterstellt wurde, auf dem militärischen Sprung nach Westen zu sein, und die deshalb wissen müsse, was sie eine Expansion kosten werde. Tatsächlich wurde mit dem Abschreckungsgebot permanenter Aufrüstungsdrang bemäntelt, der angesichts der Dynamik des West-Ost-Konflikts zu einer analogen Dynamik des Wettrüstens führte. Abschrecken bedeutete nicht zuletzt, auf der anderen Seite Wirkung hinterlassen, indem die gezwungen wird, sich tot zu rüsten.

Zwischen der EU und der Türkei wurde nun ein Abkommen besiegelt, dass eine Lösung der Flüchtlingskrise dort suggeriert, wo in Wirklichkeit gleichfalls Abschreckung dominiert. Wer aus Syrien, dem Irak, Eritrea, Somalia oder Afghanistan aufbricht, um in Europa Schutz wie ein Auskommen zu suchen und ein Lebensrecht zu finden, dem wird signalisiert, sich auf ein womöglich jahrelanges Ausharren in der Türkei einzulassen, und somit die Frage gestellt: Ist es bei solch verschreckender Perspektive nicht geraten, gar nicht erst loszuziehen?

Einzelgänger waren Vorreiter

Mit dem jüngsten EU-Gipfel hat sich die Staatenunion de facto der Doppelverriegelung Europas verschrieben. Jetzt sind nicht nur die Grenzen im Südosten des Kontinents weitgehend dicht. Gleiches wird ebenso für die EU-Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei angestrebt.

Die Regierung Merkel hat keinen Grund mehr, die Blockade der Balkan-Route zu kritisieren und mutmaßliche Alleingänge von Österreich über Slowenien bis Mazedonien zu missbilligen. Wie sich zeigt, handelten von Wien bis Skopje keine Einzelgänger, sondern Vorreiter. Was maßgeblich unter deutscher Federführung in Brüssel vereinbart wurde, zielt auf den gleichen Effekt: Die Geflüchteten aufhalten und abweisen, die Flüchtlingszahlen senken, den Abschreckungsfaktor nicht vernachlässigen.

Die dafür als geeignet und gerechtfertigt erachteten Mittel heißen Grenzschließung und Obergrenze, wenn von einem Aufnahmelimit in Europa die Rede ist, das bei 72.000 Syrern endet. Damit wird der sich lange schon anbahnende Wandel in der Flüchtlingspolitik Angela Merkels zur Wende. Es muss blind sein, wer das nicht bemerkt - zu einer Wende der Makel und rechtlichen Grauzonen, wenn nicht Rechtsverstöße, allerdings.

Dass es künftig eine "legale Migration" geflüchteter Syrer aus der Türkei geben soll und besagte 72.000 in Europa Zuflucht finden, ist wodurch garantiert? Was sind die in Brüssel formulierten Absichtserklärungen wert, wenn statt der bisher als unverzichtbar hingestellten Kontingentlösung auf das Prinzip der freiwilligen Aufnahme gesetzt ist? Wer wird sich daran beteiligen? Ungarn und die Slowakei erklärtermaßen nicht. Polen reagiert ebenso reserviert wie Tschechien, von Frankreich ganz zu schweigen.

Was also geschieht, wenn sich wie bisher eine Mehrheit der EU-Staaten verweigert oder nur zu minimalen Kontingenten durchringt? Es sei daran erinnert, dass die von den EU-Innenministern im September 2015 gegen etliche Stimmen aus Osteuropa beschlossene Verteilung von 160.000 Geflüchteten bis heute nicht stattgefunden hat.

Frage der Glaubwürdigkeit

Es ist außerdem davon auszugehen, dass die faktische Kappung des Asylrechts für Iraker, Kurden, Eritreer, Pakistaner, Afghanen und Menschen aus anderen Nationen zu einem Einspruch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte führt. Auch dürften dort die geplanten Massenabschiebungen aus Griechenland in die Türkei auf Widerspruch stoßen. Mit andern Worten, der Verzicht auf elementare Rechtsnormen wird ein Nachspiel haben.

Ganz abgesehen davon, dass der Deal mit Ankara und dem autoritären Regime Tayyip Erdogans keinen Flüchtling aus der Welt schafft, nur weil die Hilfesuchenden von Europa ferngehalten werden.

Angela Merkel hat in Brüssel zwar offiziell für Europa, aber letztlich in eigener Sache verhandelt, reagiert sie doch mit ihrem Schwenk auf den Widerstand im eigenen Land und eigenen Lager. Es wird deutlich, wie die sich hinter der AfD aufbauenden und verschanzenden Verbitterungsmilieus gerade durch ihre Abkehr von der herrschenden Politik politische Relevanz entfalten. Im Blick auf diese Klientel hätte Merkel ihre Kehrtwende begründen sollen, ohne sich zum Kotau genötigt zu fühlen. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, um Politikverdruss und Wutbürgerei in den Arm zu fallen. Egal, wie zwecklos das im Augenblick auch scheinen mag.

Es sei dazu ein nachvollziehbarer Gedanke aus Bertolt Brechts Gedicht "Lob der Zweifels" repetiert. Er schreibt: "Du, der du ein Führer bist, vergiss nicht, dass du es bist, weil du an Führern gezweifelt hast - so gestatte den Geführten zu zweifeln."

Quelle: der FREITAG vom 21.03.2016. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

24. März 2016

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