Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS



Suche in www.lebenshaus-alb.de
 

Der Flüchtlings-Aufbewahrungsstaat

Mehr als 14.000 Flüchtlinge saßen am vergangenen Mittwoch in Idomeni an der gesperrten griechisch-mazedonischen Grenze fest. Über die Lage dort sprach german-foreign-policy.com mit Dorothee Vakalis. Die ehemalige Pfarrerin der Evangelischen Kirche deutscher Sprache in Thessaloniki und ihre Organisation NAOMI sind seit rund fünf Jahren in der Flüchtlingshilfe aktiv. In Idomeni kümmern sie sich um die Nahrungsversorgung und verteilen gemeinsam mit anderen Freiwilligenorganisationen bis zu 13.000 Essensportionen pro Tag.

german-foreign-policy.com: Frau Vakalis, Sie fahren aus Thessaloniki nach Idomeni, um die Flüchtlinge zu unterstützen, die an der Grenze nach Norden festsitzen. Wie ist die Lage dort?

Dorothee Vakalis: Es ist dramatisch. Idomeni ist mittlerweile für knapp 4.000 Menschen ausgelegt, für die es beheizbare Zelte, Duschen und Toiletten gibt. Es sind aber inzwischen 14.000 Flüchtlinge hier, und es werden täglich mehr. Da reicht nichts aus. Ein Großteil der Flüchtlinge lebt in kleinen privaten Zelten auf den umliegenden Feldern. Es gibt aber auch Flüchtlinge, die nicht einmal ein Zelt haben und unter freiem Himmel übernachten müssen. Heute hat es die ganze Nacht geregnet, es ist kalt. Bis gestern hatten wir wenigstens tagsüber noch an die 20 Grad, da konnte man sich aufwärmen und die Wäsche trocknen; hier hängt bei 14.000 Menschen, die seit Wochen auf der Flucht sind, natürlich sehr viel Wäsche auf improvisierten Leinen. Heute scheint die Sonne aber leider nicht rauszukommen, man kann sich nicht aufwärmen, nichts trocknet richtig. Ein Kälteeinbruch ist angesagt. Sie können sich vorstellen, das sind Zustände, die die Gesundheit stark beeinträchtigen.

Wie steht es denn um die medizinische Versorgung für die Flüchtlinge?

Vakalis: Darum kümmern sich große NGOs wie "Ärzte ohne Grenzen" oder "Ärzte ohne Welt", aber sie können den immensen Bedarf gar nicht bewältigen. In Griechenland ist die medizinische Versorgung allgemein wegen der Kürzungen im Verlauf der Krise vollkommen unzulänglich. Es fehlt in den Krankenhäusern an Medikamenten, es fehlt an Betten, es fehlt an Personal; die Ärzte bringen teilweise Hilfsgüter von zuhause mit. Entsprechend ist das Krankenhaus hier in der Nähe jetzt, wo auch noch Flüchtlinge kommen, erst recht überfordert. Angestellte aus dem Krankenhaus kommen sogar zu den NGOs bei uns in Idomeni, um von ihnen Medikamente zu erbitten, die sie selbst nicht beschaffen können. Im Lager machen sich zunehmend Erkrankungen der Atemwege, Fieber und Durchfall breit. Es ist ganz erstaunlich, dass die Flüchtlinge all das überhaupt durchstehen. Manche Familien sind schon zwei Wochen hier, zwei Wochen ohne jede vernünftige Infrastruktur, und das in dieser Kälte.

Familien?

Vakalis: Ja, das hat sich seit dem vergangenen Sommer deutlich geändert. Es kommen immer mehr Familien, wir schätzen den Anteil der Kinder auf vielleicht 40 Prozent, darunter sehr viele kleine Kinder, Säuglinge. Dass inzwischen so viele Familien kommen, hat sicherlich auch damit zu tun, dass sie Angst haben, weil die Familienzusammenführung nach Deutschland gar nicht mehr oder allenfalls sehr schleppend erfolgt; das hat wohl viele Frauen und ihre Kinder, die vergeblich auf die Zusammenführung gewartet haben, auf den mörderischen Weg in die Boote getrieben. Das ist umso tragischer, als Kinder weit überproportional auf der Flucht in der Ägäis ertrinken.

Warum kommen die Menschen denn noch nach Idomeni, wenn die Grenze doch dicht ist? Wäre es für sie nicht günstiger, in Athen zu bleiben?

Die Flüchtlinge hoffen ganz stark, dass die Grenze doch noch geöffnet wird oder dass sie es - auf welchen Wegen auch immer - trotz allem schaffen, sie zu überwinden. Einige sind inzwischen in Aufnahmelagern in der Nähe untergebracht worden, in Cherso und in Nea Kavala. Die beiden Lager sind jetzt schon voll; ich nehme übrigens an, dass das der Grund dafür ist, dass die Regierung Idomeni noch nicht evakuiert hat - sie weiß schlicht nicht, wohin mit all den Menschen, fast 40.000 sind es inzwischen in Griechenland. Aber zurück zu der Hoffnung, irgendwie doch noch über die Grenze zu kommen: Auch aus Lagern wie Nea Kavala machen sich immer wieder Leute zu Fuß oder auch mit dem Taxi auf den Weg zurück nach Idomeni. Die Hoffnung, in die reichen Länder Europas zu gelangen, ist einfach nicht zu bändigen. Und, bedenken Sie: Die Menschen, die hier ankommen, das sind Menschen mit ungeheurer Lebenskraft; die aufwendige, gefährliche Flucht, die sie bewältigt haben, die übersteht man nur mit großer Energie und mit immenser praktischer Intelligenz. Hier gibt es Mütter, die das alles mit sechs Kindern geschafft haben. Unglaublich tatkräftige Menschen wie sie werden kaum einfach in den Lagern sitzen und warten, bis man sie am Ende vielleicht auch noch abschiebt.

Wissen Sie, wir haben seit fast zwei Jahren Erfahrungen mit der Balkanroute. Bis sie im Sommer geöffnet wurde, hatten wir ein Schlepper- und Bandenwesen, eine Mafia, die die Flüchtlinge auf dieser Route ausgeraubt und fürchterlich malträtiert hat - wie uns berichtet wurde, oftmals unter den Augen der Polizei in Mazedonien. Aus Idomeni haben wir Informationen, dass Schleuser jetzt wieder Reisen in Richtung Westeuropa für 2.500 Euro anbieten - pro Person. Neue Routen werden gesucht werden. All das wird jetzt wieder zunehmen.

Dennoch scheint Griechenland für die meisten zur Endstation ihrer Flucht zu werden. Wie werden sich die Dinge Ihrer Ansicht nach entwickeln?

Vakalis: Wenn die politische Entscheidung jetzt dahin geht, Griechenland zum Aufbewahrungsstaat für Flüchtlinge zu machen, dann muss eines ganz klar sein: Die Strukturen, die man dafür benötigen würde, die gibt es hier nicht. Es gibt nicht einmal eine Grundversorgung für die Bevölkerung. Wir haben fünf Jahre lang mit Asylbewerbern gearbeitet, die bis zu acht Jahre auf ihren Asylbescheid warten mussten. In dieser Zeit erhielten sie keinerlei Grundversorgung; sie mussten sich all die Jahre irgendwie selbst über Wasser halten, auch diejenigen, die Kinder hatten. Wenn jetzt die Flüchtlingszahlen steigen, dann muss man ganz klar feststellen: Es gibt für sie hier keine Grundversorgung, und es gibt auch keine weiteren Strukturen, die sie auffangen könnten. Unter diesen Bedingungen ist ihre Integration schlicht unmöglich. Das heißt, dass in Griechenland eine riesige Zahl Menschen ohne jede Chance auf gesellschaftliche Teilhabe isoliert verwahrt werden wird. Und, noch einmal: Das sind Menschen, die unglaublich tatkräftig sind, die alles verkauft, die alles auf sich genommen haben, um nach Europa zu gelangen. Das wird eine hochbrisante Situation.

Gibt es denn wirklich keinerlei staatliche Bemühungen, die Lage zu verbessern?

In der Planung ist, soweit ich das überblicke, so eine Art Massen-Bed and Breakfast - Massenunterkünfte und eine wie auch immer geartete Versorgung mit Nahrungsmitteln. Das war’s. Wir beobachten schon jetzt in den Aufnahmezentren, dass alles, was über die einfache Nahrung hinausgeht - also etwa Kleidung, Hygienemittel, Babynahrung -, dass all dies von der Bevölkerung zur Verfügung gestellt wird, von den einfachen Menschen. Das ist übrigens etwas, was mich immer sehr berührt: die spontane Hilfsbereitschaft, die überwältigende Solidarität aus der griechischen Bevölkerung.

Erstaunlich für ein Land, das in den vergangenen Jahren wegen der Austeritätsdiktate aus Brüssel massiv verarmt ist.

Wissen Sie, es wird hier sehr viel von Fluchterfahrungen, vom kollektiven Gedächtnis gesprochen. Griechenland ist ein Land, das bis 1949 ständig in Kriege und Bürgerkriege verwickelt war, Kriege und Bürgerkriege übrigens, die ihm meist von anderen Ländern aufgezwungen oder die von fremden Staaten befeuert wurden. Es gab Massenflucht, es gab furchtbare Hungersnöte, die schlimmste übrigens wohl die, die Griechenland aufgrund der deutschen Besatzung erlitt. Die sogenannten Gastarbeiter, die später in die Bundesrepublik gingen, verließen das Land meist aus einer krassen Notlage heraus. Das alles ist im kollektiven Gedächtnis tief eingeprägt. Kriegs- und Fluchterfahrungen gibt es nun in vielen Ländern, aber dort schlagen sie häufig um, wenn das eigene Land irgendwann wieder zu den Gewinnern gehört. In Griechenland ist es anders; die griechische Bevölkerung steht heute wegen der Wirtschaftskrise wieder einmal auf der Seite der Verlierer. Diese Erkenntnis hat die Menschen hier hellwach werden lassen, und man kann weithin ein sehr klares politisches Bewusstsein über die Ursachen der Wirtschaftskrise beobachten.

Es gab zuletzt Berichte über Proteste gegen den Aufbau von Flüchtlingslagern, es klang ein wenig wie in Deutschland. Schlägt die Stimmung um?

Wir hoffen alle, dass das nicht passiert. Bisher ist es gelungen, die faschistischen und rassistischen Kräfte, die in einzelnen Orten gegen den Aufbau von Flüchtlingslagern protestierten, an den Rand zu drängen. Dabei war die Situation nicht gerade günstig: Viele Gemeinden sind von der Regierung mehr oder weniger überfallen worden mit der Ankündigung, in drei Tagen werde das Militär kommen und im jeweiligen Ort ein Lager errichten. Aber in dem Moment, in dem Familien mit Kindern ankamen, in dem ältere Menschen auf Rollstühlen geschoben oder von jüngeren auf dem Rücken getragen wurden, da schlug die Stimmung in der Bevölkerung regelmäßig um. Cherso, ein Ort in der Nähe von Idomeni mit vielleicht 800 Menschen - dort haben die Einwohner sich prompt organisiert, stehen in ganz engem persönlichem Kontakt zu den Flüchtlingen im Lager, sammeln Hilfsgüter, haben eine Facebook-Seite eröffnet, auf der sie über ihre Aktivitäten berichten. Was man aus Deutschland hört, diese furchtbare Gewalt gegen Flüchtlinge, das haben wir hier so gut wie gar nicht erlebt. Und wir hoffen, dass das auch so bleibt….

… dass also die Solidarität der Bevölkerung mit den Flüchtlingen nicht aufgerieben wird.

Ja, darin besteht vielleicht unsere einzige Hoffnung - darin, dass die große Solidarität sich mit der Kraft der Flüchtlinge verbindet, um endlich dieses System der Einschränkungen, der Sperren, der Kürzungen zu durchbrechen, dieses System der Restriktionen und der Austerität, das offensichtlich an sein Ende gekommen ist. Wenn das nicht geschieht, sieht es schlecht aus. Es gibt im Moment einige Initiativen im Europaparlament; Portugal etwa hat sich angeboten, eine größere Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen. Ohne Initiativen, die die Lage entspannen könnten, droht für die Flüchtlinge eine Katastrophe. Und wenn man ehrlich ist, nicht nur für sie: Wenn, wie es jetzt geplant wird, Flüchtlinge nicht mehr individuellen Anspruch auf eine Überprüfung ihrer Rechte haben, sondern kollektiv in Massen in die Türkei abgeschoben werden, dann werden ganz zentrale Grundlagen unseres hiesigen Rechtssystems außer Kraft gesetzt. Dann aber muss man sich fragen: Wie weit kann der Abriss unserer Rechtsgrundlagen denn noch gehen? Welche Grundrechte sind denn als nächste bedroht? Das trifft uns alle.

Quelle: www.german-foreign-policy.com   vom 10.03.2016.

Veröffentlicht am

15. März 2016

Artikel ausdrucken