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Frankreich: Eine Art Gewohnheitsrecht

Die Kriegserklärung von Präsident Hollande gehorcht keinem Augenblicksreflex, sondern politischer Tradition

Von Rudolf Walther

Nachdem François Hollande noch in der Nacht des Infernos von einer "Kriegshandlung, begangen von einer terroristischen Armee" gesprochen hatte, war die griffigste Metapher im verbalen Überbietungswettbewerb bereits besetzt. Oberhalb von "Krieg" stand im verbalen Arsenal nur noch das Wort "Weltkrieg" im Angebot, das Papst Franziskus und der FAZ-Herausgeber Berthold Kohler sofort besetzten . Nicolas Sarkozy, Ex-Präsident und Chef der konservativen Partei Les Républicains, sprach dagegen vom "totalen Krieg", den die acht Pariser Attentäter entfacht haben sollen.

Die Wortwahl verweist auf zweierlei - den Stand der historischen Bildung beim Rechtsanwalt Sarkozy im Besonderen sowie den Umgang mit der Metapher Krieg und mit dem wirklichen Krieg in Frankreich im Allgemeinen. Als die ganze Welt am 8. Mai 1945 aufatmete und den Frieden feierte, begann die Grande Nation einen fast 20 Jahre dauernden Kolonialkrieg: Am 8. Mai 1945 schlugen französische Truppen in der algerischen Stadt Sétif einen Aufstand nieder, bei dem 10.000 Algerier umkamen. Bei einer Revolte in der Kolonie Madagaskar starben bis zum 30. März 1947 80.000 Menschen. Bereits am 19. Dezember 1946 begann der französische Kolonialkrieg in Indochina. Er dauerte bis Mai 1954 und forderte 800.000 Opfer. Nicht zu vergessen die Schlacht um Algerien, die 1962 endete und mindestens eine Million Menschenleben kostete.

Auch nach der Entkolonialisierung brach Frankreich fast ununterbrochen zu Militäreinsätzen mit und vor allem ohne UN-Mandat im frankofonen Afrika auf. Niemand in Paris konnte daher überrascht sein, als Hollande jetzt "den Barbaren" den Krieg erklärte. Die politische Elite sieht in der Kriegführung - parteiübergreifend - seit der Monarchie und Napoleon eine Art Gewohnheitsrecht.

Gut 12.000 Dossiers

Wie schon nach den Anschlägen auf die Redaktion des Magazins Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris ist François Hollande bemüht, durch einen patriotischen Auftritt im Schloss Versailles die nationale Einheit in Zeiten der Gefahr zu schmieden. Die Konservativen und den Front National holte er mit der Ankündigung ins Boot, die Verfassung gründlich zu demontieren, so dass neben Ausbürgerungen von Franzosen und Ausweisungen von Ausländern auch Ausgehverbote, Wohnungsdurchsuchungen ohne Gerichtsbeschluss und anderes aus dem Repertoire des Polizeistaates möglich werden. Obendrein unterband er mit der Ausrufung des Notstands, dass das rabiate Vorhaben in den Wahlkampf zu den Regionalwahlen Anfang Dezember gelangen kann. Die resolutesten Anregungen zum "Krieg gegen den Terror" kamen von Pascal Bruckner, einem der Linken zugerechneten Essayisten: "Den 3.000 als potenziell gefährlich Eingestuften im Land die Freiheit entziehen. Sofort alle zweifelhaften Imame und Hassprediger abschieben; die salafistischen Moscheen schließen."

Mit dem gerade erst reformierten Geheimdienstgesetz erhielten die französischen Dienste Kompetenzen, die jeder freiheitlichen Vorstellung von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten Hohn sprechen. Ein auf 6.500 Mitarbeiter aufgestockter Apparat verwaltet gut 12.000 mit "S" gekennzeichnete Dossiers über Personen, die der islamistischen und terroristischen Radikalisierung verdächtigt werden. Dank des schon vor dem 13. November erfolgten Ausbaus der sicherheitsstaatlichen Prävention und elektronischen Überwachung sind den Diensten die meisten Personen, die bisher an Anschlägen beteiligt waren, vorher auch bekannt gewesen.

Das hat in den Medien wie in der Politik aber bislang nur dazu geführt, dass nach jedem Attentat der Ruf nach weiter verschärften Sicherheitsgesetzen und robusterem polizeilichen Zugriff laut wurde. Dabei hat Frankreich mit der Spezialeinheit Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) eine Polizeitruppe, deren Kapazitäten europaweit ihresgleichen suchen.

Zehn Reformpläne seit 1977

Nach den Attentaten von Anfang Januar brach in Paris eine regelrechte Sicherheitshysterie aus. Rituell sprachen François Hollande und sein Premier Manuel Valls schon damals vom "Krieg gegen den Terrorismus" und davon, 736 Millionen Euro dafür investieren zu wollen. Valls verlangte, sofort die Haftbedingungen zu verschärfen. Um die Radikalisierung inhaftierter Muslime zu verhindern, sollten sie in Einzelhaft kommen. Fachleute und Justizministerin Christiane Taubira widersprachen, denn 84 Prozent der wegen islamistischer Gewalt Inhaftierten hätten sich nicht innerhalb, sondern außerhalb der Gefängnisse radikalisiert.

Die Wurzeln des Terrorismus sind nicht nur mit polizeilicher Überwachung und schon gar nicht mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Die Gründe für die politisch-religiöse Radikalisierung junger Männer aus Frankreichs Banlieue sind auch sozialer Art und liegen unter anderem in struktureller Benachteiligung, die von staatlichen Institutionen - im Wohnungs- und Städtebau, im Bildungssystem, in einem verrottenden Gesundheitssystem und Verkehrswesen - seit 30 Jahren reproduziert wird.

In zehn Reformplänen seit 1977 für mehr soziale Fürsorge an dieser Peripherie werden die gleichen Defizite analysiert und Gegenmaßnahmen präzise benannt. Geändert hat sich nichts, sieht man von sich häufenden Großrazzien ab. Die Arbeitslosigkeit unter den 15- bis 29-Jährigen aus den Vorstädten liegt mit 47 Prozent doppelt so hoch wie im französischen Landesdurchschnitt.

Empirische Recherchen belegen, dass die Chancen junger Männer mit arabisch klingenden Namen oder mit Adressen in der Banlieue, sich erfolgreich um eine Stelle zu bewerben, um 40 Prozent niedriger liegen als bei gleich qualifizierten Bewerbern mit französischen Namen oder einem anderem Wohnort. Fehlende Bildungschancen und Massenarbeitslosigkeit sind zentrale Faktoren der sozialen Exklusion seit über 30 Jahren. Darauf hat noch keine französische Regierung auch nur den Ansatz einer Antwort gefunden.

Quelle: der FREITAG vom 30.12.2015. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Rudolf Walther und des Verlags.

Veröffentlicht am

30. Dezember 2015

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