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“Unterbrechung der Gewalt”

Lektüreempfehlung: Friedensethische Perspektiven in einer Arbeit des Theologen Michael Schober

Von Peter Bürger

Unsere Zivilisation geht einher mit einer anhaltenden Geschichte der - staatlich sanktionierten - Menschenverachtung, deren Abgründigkeit und Ausmaß wir ob unserer Zerbrechlichkeit nicht wirklich begreifen können. Da jede wahrheitsgetreue Aufklärung über den ökonomisch-politisch-militärischen Komplex der "Barbarei" die Selbstbilder eines "christlichen Abendlandes" oder des Westens als eines zivilisatorischen "Heilsbringers für den ganzen Globus" augenblicklich zum Zerplatzen bringt, ist nicht nur den Herrschenden, sondern auch allen kleinen Nutznießern daran gelegen, eine solche Beunruhigung zu unterdrücken. Die Unsichtbarmachung der "Barbarei", in unseren Tagen zu höchster Perfektion gebracht, gehört seit jeher zu den zentralen Techniken der Macht. "Barbaren" und Täter sind immer "die anderen". Das Hässliche durch gründliche historische Forschungen oder aktuelle Investigationen aus der Verdrängung ins Bewusstsein zu zerren, ist zweifellos ein subversives Unterfangen. Gleichwohl geht dieses aufklärerische Projekt stets mit der Gefahr einher, uns noch weiter in Gefühle der Ohnmacht und Ausweglosigkeit hineinzutreiben. Am Ende müssen wir in Traurigkeit versinken.

Dieser Falle können wir nur entkommen, wenn gleichzeitig dem subversiven Wissen um die mögliche Schönheit jedes Menschen und unserer Gattung höchste Bedeutung zugemessen wird. Forschungen über Nichtanpassung, Verweigerung und Widerstand leisten dazu einen unersetzlichen Beitrag. Sie führen uns schließlich zur Königsfrage: Unter welchen Bedingungen können Menschen immun werden gegenüber den Apparaturen der "Barbarei"? Hierbei geht es gerade nicht um einen Heiligenkult, d.h. um wenige Ausnahmegestalten, die das Menschenmögliche in einem gleichsam übernatürlichen Heroismus überschreiten.

Der Theologe, Politikwissenschaftler und Germanist Michael Schober bringt in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf Johann Baptist Metz, Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle und andere die Kategorie der "Unterbrechung von Gewalt" ins Spiel. Mit Blick auf die Militärmaschine zeigt er in seiner 2012 erschienenen Dissertation auf, wie Soldaten den "Eigen-Sinn" wahren oder (wieder-)entdecken. Schober sucht vier exemplarische "Schauplätze" auf. Die jeweiligen historischen und biographischen Kontexte werden anschaulich vermittelt. Zurück in den ersten Weltkrieg führen Abschnitte zu den legendären Waffenruhen an der Westfront (Weihnachten 1914) und das Beispiel des Elsässers Dominik Richert, eines "Pazifisten in Uniform" (S. 15-66). Von Unterbrechungen der Gewalt während des Eroberungs- und Vernichtungskrieges der deutschen Wehrmacht 1939-1945 zeugen die nachfolgenden Kapitel über den späteren Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (S. 67-112) und den Juristen im Offiziersrang Heinz Droßel (S. 113-157), der selbst wiederum Zeuge wird, wie ein anonymer Verweigerer aufgrund seiner - fast "sachlich" wirkenden - Gewissenstreue (S. 147: "das ist eine grundsätzliche Sache") den eigenen Tod in Kauf nimmt.

Nach den Verbrüderungen an der Westfront im Dezember 1914 ging das mechanisierte und arbeitsteilig-anonymisierte Massenmorden noch jahrelang weiter. Manch ein kühler Kopf hat die durchaus nicht nur vage überlieferten Geschehnisse als sentimentale Weihnachtsgeschichte belächtet. Hierbei zeugt allein schon die Denunziation des Gefühls (Sentiment) von Ignoranz. Ein altes münsterländisches Weihnachtslied beginnt mit den Versen: "Menschen, die ihr wart verloren, / lebet auf, erfreuet euch!" Spricht es nicht unbedingt für unsere Gattung, dass so viele Menschen sich vom Weihnachtswunder an der Westfront noch hundert Jahre später ergreifen lassen und hernach umso inniger glauben wollen, dass die Kriegsreligion auf Erden nicht das letzte Wort behält?

"Unterbrechung" kann etwas sehr Fragiles sein. Sie führt noch nicht zwingend zu entschiedenem Widerspruch oder gar Widerstand. Keiner der drei vorgestellten katholischen Soldaten "ist den Weg der offenen Kriegsdienstverweigerung gegangen, alle drei waren auch Soldaten im Kampf" (S. 195). Heinrich Böll "weiß nur, dass der Krieg ein Verbrechen ist", und bleibt in seiner Haltung keineswegs frei von Zwiespältigkeit. (Götz Aly hat auf einen der frühen Feldpostbriefe Bölls verwiesen, in dem sogar von der "Möglichkeit eines kolonialen Daseins hier im Osten nach einem gewonnenen Krieg" die Rede ist). Bedeutsame Frucht der "Unterbrechung" ist das Nachkriegs-Engagement dieses Schriftstellers, der für sich nie eine Zugehörigkeit zum Widerstand reklamiert hat.

In den autobiographischen Kriegserinnerungen von Heinz Droßel, der mit seiner Familie mehreren jüdischen Verfolgten das Leben gerettet hat, kommen Leiden am eigenen Versagen und sogar ein Suizidversuch zur Sprache. Schon im Juli 1941 ist Droßel zu Beginn des Russlandfeldzuges Zeuge eines Massakers an Juden geworden: "Ich stehe im Dienst eines Mörders."

Adornos Diktum "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" (S. 146) verweist auf die Unmöglichkeit, im "System" zu verbleiben und sich doch als uniformiertes Rädchen der Kriegsapparatur zu entziehen. Das Phänomen der "Unterbrechung von Gewalt" eröffnet eine - mitunter denkbar bescheidene - Perspektive, in der "richtiges Leben" als Erinnerung, Ahnung oder Vorgriff in das Dunkel des Abgrundes hineinleuchtet: "Unterbrechung hat eine radikale Entschiedenheit und einen scharfen Stachel gegen Entwicklungen, die zu Strukturen der Hoffnungslosigkeit führen. Unterbrechung ist aber auch ein Begriff, dem eine Bescheidenheit eignet: In ihm ist das Wissen um die Grenzen des Menschenmöglichen angelegt" (Wolfram Weiße, zitiert auf S. 181).

Der evangelische Soldatenkatechismus für den Zweiten Weltkrieg enthielt das Axiom: "Der christliche Soldat zweifelt nicht." (S. 191) Auch die römisch-katholischen Bischöfe wiesen ihre Schäfchen an, das Denken und die Verantwortung der Obrigkeit zu überlassen. Schober stellt dem Konzept des blinden Gehorsams das "Lob des Zweifels" (Bertolt Brecht) entgegen: "Schönster aller Zweifel aber / Wenn die verzagten Geschwächten den Kopf heben und / An die Stärke ihrer Unterdrücker / Nicht mehr glauben!" (vgl. S. 158-165) Die Dynamik des Zweifelns, oftmals in Gang gesetzt durch konkret benennbare Impulse, kann zur Unterbrechung und schließlich sogar zu einer grundlegenden "Neuorientierung in Richtung Überwindung der Gewalt" führen (S. 165-181).

"Ex negativo" wissen wir, welche Faktoren es begünstigen, dass "ganz normale Menschen" sich am Verbrechen des Krieges beteiligen und zu Mördern werden (S. 186-189): Verantwortungsabgabe an eine Instanz (Autoritätsglaube); eigene Lebensgefahr; Distanz zwischen Täter und Opfer bzw. ‚Entmenschlichung des Feindes’ (bes. Anonymität der Opfer, Rassismus); militärische Techniken bzw. Konditionierung (wieder die Tötungshemmung); ideologische Indoktrinierung (heute auch hegemoniale Militärdiskurse, die sich ganz "rational" präsentieren); Karrierismus und Anpassung (auch Gruppenzwang, Kameradschaftsideologie) … Gegenläufige Impulse zur Unterbrechung der Gewalt scheinen fast immer mit Erfahrungen der gemeinsamen Menschheit (Menschenwürde) zusammenzuhängen.

Wenn das potentielle Opfer etwa nackt badet, die Sonne anlacht, eine Mahlzeit einnimmt oder sich eine Zigarette erbittet, so kann dies schon das gewöhnliche - im militärischen Tötungsdrill vorausgesetzte - "Setting" durchkreuzen. Plötzlich kommt zum Vorschein "ein Mensch wie ich". Kulturelle Bereiche (Musik, Literatur), Sprache, Alltagshandelns (z.B. S. 132: Tauschgeschäfte an der Ostfront), Sport oder Religion können Brücken sein (S. 172). Eine französische Dorfjugend spielt gegen bzw. mit deutschen Wehrmachtssoldaten Fußball (S. 134). Ein intuitives Kreuzzeichen kann lebensrettend sein (S. 59). Multikulturelle Kompetenzen (Sprache!) konnten schon immer ein hohes Friedenspotential bergen. (Dieser Spur werden wir unter dem Vorzeichen von "Globalisierung" besondere Aufmerksamkeit schenken müssen.) Nicht zuletzt lenken viele Impulse zur Unterbrechung der Gewalt unseren Blick auf die Dimension des Schönen - mitten im Abgrund der Hässlichkeit des Krieges (S. 53: wiederholt taucht in Schilderungen zum ersten Weltkrieg das "Motiv des ‚jungen hübschen Menschen’" auf; S. 133: die Russen "singen herrlich").

Ernst Jünger hat überliefert, wie ein britischer Offizier ihm ein Familienfoto entgegenhielt und es dann nicht zum tödlichen Schuss aus seiner Pistole kam (S. 170). Da ist ein Mensch, zugehörig, von den Seinen geliebt. Da liegt ein "blutjunges Kerlchen" totenweiß auf dem Schlachtfeld … Wer kann sich denn jetzt noch der Wahrheit verschließen, dass die "Schönheit der Stahlgewitter" ein psychiatrisches Wahngebilde ist?

Die Erfahrungen der gemeinsamen Menschheit, insbesondere die "gemeinsam erfahrene Verletzlichkeit", führen zur zentralen Kategorie des Mitgefühls. Dies darf freilich nicht verengt werden auf ein oberflächliches Wiedererkennen des Vertrauten oder Ähnlichen. M. Schober misst zu Recht positiven Zugängen zur "Andersheit" der anderen einen besonders hohen präventiven Wert bei. Auch dies können wir mit der Erfahrung der gemeinsamen Menschheit und der Befähigung zum Mitgefühl in Beziehung setzen: Wir sind ja eben auch "Andere" (und wissen dies, sofern es zur "Menschwerdung" kommt). Dem Krieg dient, was die Entwicklung von Empathie verhindert oder das Mitgefühl betäubt. Täter werden stets rekrutiert aus dem Heer jener Ungeliebten, die der eigenen Verletzlichkeit nie inne werden und also auch kein Mitgefühl mit sich (wie mit anderen) erlernen durften. Hier geht es nicht um einen abstrakt-philosophischen Menschenrechtsdiskurs, sondern um leibhaftige Erfahrungen, die zur ‚Bewahrheitung’ und Achtung der Menschenwürde führen (S. 178).

Schober teilt jedoch Dietmar Mieths Anliegen, "auch in einer die Gefühle einbeziehenden Ethik das Moment der Reflexivität im Sinne eines ‚Fühlen des Fühlens’ zu erhalten" und somit das ethische Handeln nicht allein auf - oftmals zufällige - "affektive Motive der Solidarität und Sympathie" zurückzuführen (S. 179). - In zwei Weltkriegen haben sich nun freilich die Traditionen der ethischen Reflexion im "real existierenden" Christentum unseres Landes als weithin wirkungslos erwiesen. Man betete folgsam die jeweilige Kriegsdoktrin nach und schenkte jeder noch so aberwitzigen "Gewaltlegitimation" Glauben. War dies nur der Korrumpierung durch staatskirchliche Privilegien (bzw. Vorteilsrechnungen) und der Anpassung an die hegemoniale Kultur geschuldet? Müssen wir nicht gerade angesichts der Verantwortung zur Reflexion jene ökonomischen, massenkulturellen, politischen … Verhältnisse in den Blick nehmen, die die Entwicklung einer Kultur der Empathie schon im Keim ersticken? Dem "transzendentalen", unbedingten Anspruch, der mit dem Begriff der Menschenwürde verbunden ist, stehen ja mannigfache Beschädigungen "auf der Ebene der Selbst- und Fremderfahrung" entgegen (S. 195; Anmerkung 951).

Das Phänomen der "Unterbrechung" kann in seiner Dynamik zu Ungehorsam (Nicht-Kooperation) und Widerstand führen. Doch "Erfolg" ist nicht garantiert, unter Umständen auch gar nicht intendiert. Unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit bzw. Wirksamkeit handelt es sich zunächst in den meisten Fällen nur um einen "Tropfen auf dem heißen Stein" (oder nicht einmal um das). Hochfahrende Widerstandsstrategen werden deshalb das Phänomen der "Unterbrechung" belächeln und kaum erahnen, dass "Episoden der Menschlichkeit" (S. 141-146) möglicherweise die Kraft in sich tragen, weit über sich hinauszuweisen. Hier regen M. Schobers Ausführungen zum "Sinn des Ineffizienten" (S. 181ff) zu weiterem Nachsinnen an. Denn wenn der Widerstand gegen die "Barbarei" sich der herrschenden Kategorie des "Nützlichen" verschreibt, hat er schon verloren, bevor er überhaupt angefangen hat: "Tut das Unnütze, singt die Lieder, / die man aus eurem Mund nicht erwartet! // Seid unbequem, seid Sand, / nicht das Öl im Getriebe der Welt!" (Günther Eich)

Michael Schober: Zeugnisse der Unterbrechung von Gewalt im Krieg. Grundlegung einer theologischen Ethik des nicht suspendierten Zweifels (Dissertation). Tübingen 2012. Frei im Internet abrufbar: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/43675 [222 Seiten]

Veröffentlicht am

27. September 2015

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