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Uri Avnery: Der Messias ist nicht gekommen

Von Uri Avnery

DER MESSIAS IST NICHT gekommen und Bibi ist nicht gegangen.

Das ist das traurige Ergebnis.

Traurig, aber nicht das Ende der Welt.

Wie ein amerikanischer Spruch lautet: "Heute ist der erste Tag des Rests deines Lebens."

Ich würde sagen: "Heute ist der erste Tag des Kampfes um die nächsten Wahlen!"

Der Kampf für die Rettung Israels muss jetzt sofort beginnen.

EINIGE sagen, der beste Kurs sei jetzt eine sogenannte nationale Einheitsregierung.

Sieht aus, als wäre es eine gute Idee. Einheit klingt immer gut.

Ich kann einige gute Argumente dafür nennen: Die Verbindung der beiden großen Parteien schafft einen Block von 54 (von 120) Sitzen. Eine derartige Koalition braucht nur eine weitere Partei, um die Mehrheit zu bilden. Dafür gibt es einige Möglichkeiten, angeführt von Mosche Kachlons 10 Sitzen.

Die Befürworter dieser Entscheidung haben ein gutes Argument: Es ist das kleinere Übel. Die einzige andere Möglichkeit ist eine extrem rechte-religiöse Regierung, die nicht nur jeden Schritt in Richtung Frieden aufhalten wird, sondern die auch die Siedlungen ausweiten, mehr Gesetze zur Unterdrückung der Demokratie erlassen und uns reaktionäre religiöse Gesetze aufzwingen wird.

Es ist ein gutes Argument, aber es muss uneingeschränkt verworfen werden.

Die Einheitsregierung würde von der Rechten beherrscht. Bestenfalls wäre es eine Regierung der vollkommenen Unbeweglichkeit. Sie wäre unfähig und nicht willens, auch nur die kleinste Bewegung in Richtung Beendigung des historischen Konflikts zu tun und die Besetzung zu beenden und Palästina anzuerkennen. Die Siedlungen würden in atemberaubender Geschwindigkeit ausgedehnt. Die Möglichkeit, dass es endlich Frieden gäbe, würde noch weiter wegrücken.

Die Einheitsregierung würde eine Menge Schaden anrichten. Die Arbeitspartei wäre verpflichtet, den katastrophalen Kurs zu rechtfertigen und zu beschönigen. Eine Einheitsregierung würde auch die Obama-Regierung und progressive jüdische Kräfte in der ganzen Welt entwaffnen. Die Partei wäre ein riesiges Feigenblatt für das Unheil, das die Regierung anrichtet.

Eine Einheitsregierung würde auch bewirken, dass es in Israel keine wirksame Opposition gäbe. Wenn die Regierungskoalition irgendwo auf dem Weg zusammenbrechen würde, wäre die Arbeitspartei zu sehr besudelt, als dass sie eine glaubhafte Alternative darstellen könnte. Der Anfangserfolg Jitzchak Herzogs bei der Auferweckung der alten Partei aus ihrem komatösen Zustand kann nicht wiederholt werden. Die Arbeitspartei hätte ihre Kraft verausgabt und würde nur noch dahinvegetieren.

ÜBRIGENS: EINE seltsame Nebenwirkung einer Regierung der nationalen Einheit wäre, dass der Führer der (Arabischen) Gemeinsamen Liste Ayman Odeh zum Oppositionsführer würde.

Nach dem Gesetz wird der Titel automatisch dem Führer der größten Oppositionspartei verliehen. Er überträgt seinem Inhaber viele der Privilegien eines Kabinettministers. Der Ministerpräsident ist verpflichtet, regelmäßig mit ihm zu konferieren und ihm Regierungsgeheimnisse mitzuteilen.

Aber auch wenn es keine Einheitsregierung gibt und Herzog zum Oppositionsführer wird, ist die Veränderung der Situation der Araber in der Knesset ein hervorragendes Ergebnis.

Es liegt ein gewisser Humor darin. Der fast pathologische Araber-Hasser Avigdor Lieberman war es, der die Knesset dazu anstiftete, die 3,25-Prozent-Klausel einzuführen. Die Absicht war, die drei kleinen arabischen Parteien auszuschließen (darunter die Kommunisten, die auch einige jüdische Wähler haben). Diese reagierten allerdings damit, dass sie ihre Meinungsverschiedenheiten und gegenseitigen Empfindlichkeiten überwanden und eine gemeinsame Liste aufstellten. Lieberman hatte große Schwierigkeiten, die von ihm aufgestellte Hürde zu nehmen, und Eli Jischais Partei, zu der auch die Erben des Faschisten Meir Kachane gehören, schaffte es Gott sei danke nicht in die Knesset.

Es ist zu hoffen, dass die Gemeinsame Liste nicht auseinanderbrechen wird. Odeh vertritt eine neue Generation arabischer Bürger, die sehr viel eher bereit ist, sich in die israelische Gesellschaft zu integrieren. Vielleicht werden das nächste Mal die alten Tabus auf Dauer verschwinden und die arabischen Bürger werden wirklich zum politischen Leben Israels gehören. Dieses Mal wagte die Arbeitspartei noch nicht, die Gemeinsame Liste als vollwertiges Mitglied einer linken Koalition zu akzeptieren.

ICH SAGE nicht gerne: "Ich hab’s euch ja gesagt". Das macht einen nicht gerade beliebter. Dieses Mal kann ich es aber nicht vermeiden, weil daraus eine Lehre zu ziehen ist.

Zu Beginn des Wahlkampfes schrieb ich zwei Artikel in Haaretz. Darin schlug ich vor, dass der anfängliche Schwung, den die Herzog-Livni-Vereinigung geschaffen hatte, dadurch fortgesetzt und intensiviert werden sollte, dass man eine viel größere Gemeinsame Liste schuf. Sie sollte aus dem "Zionistischen Lager" (Arbeitspartei), Meretz, Lapids Jesch Atid [Es gibt eine Zukunft] und, wenn möglich, sogar Mosche Kachlons neuer Partei bestehen.

Die Reaktion? Überhaupt keine. Keine der Parteien nahm offiziell auch nur Notiz davon.

Die Idee dabei war, dass eine solche gemeinsame Front einen unwiderstehlichen Schwung schaffen und Wähler anziehen würde, die keine dieser Parteien einzeln (oder die überhaupt nicht) wählen würden. Zusammen mit der Gemeinsamen arabischen Liste hätte sie eine Kraft dargestellt, die den Likud blockiert und sein Comeback unmöglich gemacht hätte.

Ich fügte hinzu, dass alle betroffenen Parteien, wenn der Vorschlag nicht akzeptiert würde, es einmal bereuen würden. Es tut mir sehr leid, dass ich recht gehabt zu haben scheine.

AM MORGEN nach den Wahlen (als es aussah, als ob Meretz auf vier Mandate gesunken ist) trat die Führerin von Meretz Sehawa Galon zurück. Es war eine ehrenhafte Handlung.

Meretz kam knapp über die 3,25-%-Hürde und schrumpfte auf fünf Sitze, obwohl viele Wähler (darunter auch ich) ihr im letzten Augenblick zu Hilfe eilten.

Die Partei leidet unter einer langen Reihe farbloser Führer. Aber ihre Misere liegt viel tiefer. Sie ist existenziell.

Von Anfang an war Meretz eine Partei der aschkenasischen intellektuellen Elite. Sie sagt das Richtige. Aber die Masse der orientalischen Juden grollt ihr, die Religiösen hassen sie und die russischen Einwanderer stoßen sie zurück. Sie lebt auf einer einsamen Insel und ihre Mitglieder vermitteln den Eindruck, sie seien recht glücklich, dass sie unter sich sind und ohne das Lumpengesindel.

Sehawa Galon ist eine gute Person: ehrlich und wohlmeinend, und ihr Rücktritt macht ihr alle Ehre. Aber die Partei ist - nun ja - langweilig geworden. Lange, lange Zeit kam nichts Neues von ihr. Ihre Botschaft ist richtig, aber schal.

Meretz braucht als Führer oder Führerin eine inspirierende Person, die Begeisterung weckt. Aber vor allem braucht sie eine neue Haltung - eine, die ihr erlaubt, aus ihrem Schneckenhaus herauszukommen und aktiv Wähler anzusprechen, die ihr jetzt noch aus dem Weg gehen. Sie muss sehr schwer daran arbeiten, dass sie Orientalen, Russen, Araber und sogar gemäßigte Religiöse anspricht.

ABER ES wäre unfair, das nur von Meretz zu verlangen. Es gilt für den gesamten sozialen und liberalen Teil Israels, für das Lager für Frieden und soziale Gerechtigkeit.

Die Wahlergebnisse zeigen, dass die finsteren Prophezeiungen über eine eindeutige, unumkehrbare Verschiebung in Richtung rechts unbegründet sind. Die Trennungslinie verläuft durch die Mitte und kann verändert werden.

Um das jedoch zu erreichen, muss die Bereitschaft vorhanden sein, ganz von vorne anzufangen.

Die gegenwärtige Aufstellung der israelischen Linken wird nicht genügen. Das ist die einfache Wahrheit.

Bei diesen Wahlen sticht besonders die Tatsache hervor, daß das Resultat genau der demographischen Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft entspricht. Der Likud bezieht seine Stimmen vor allem aus der orientalisch-jüdischen Gemeinschaft, die mit den unteren sozio-ökonomischen Schichten identisch ist. Außerdem blieb ein Teil der aschkenasischen Gesellschaft dem Likud treu.

Das Zionistische Lager und Meretz bezogen ihre Stimmen aus der wohlsituierten aschkenasischen Schicht - und zwar nur daher und sonst nirgendwoher.

Die Einstellung der Likud-Wähler zum Likud entspricht der Haltung von Fußballfans gegenüber ihrer Mannschaft: Es steckt viel Gefühl darin.

Ich war immer überzeugt, dass Wahlpropaganda und der ganze Wahlrummel wenig oder gar keinen Einfluss auf die Abgabe der Stimmen haben. Entscheidend sind die demografischen Tatsachen.

Die Linke muss sich dieser Wirklichkeit entsprechend neu erfinden. Sonst hat sie keine Zukunft.

WENN EINE der vorhandenen Parteien es schafft, gut. Wenn nicht, muss sich eine neue politische Kraft bilden. Jetzt.

Außerparteiliche Organisationen, mit denen Israel reichlich ausgestattet ist, können diese Aufgabe nicht erfüllen. Sie können versuchen - und das tun sie auch -, viele vorhandene Mängel zu beheben. Ihre Aktivisten kämpfen für die Einhaltung der Menschenrechte, propagieren gute Ideen, beugen Missbrauch vor. Aber sie können die Hauptarbeit nicht leisten: die Staatspolitik verändern. Dafür brauchen wir eine politische Partei, eine, die Wahlen gewinnen und eine Regierung bilden kann. Das ist die wichtigste Aufgabe. Ohne ihre Erfüllung steuern wir auf eine Katastrophe zu

Zuerst einmal müssen wir unsere Misserfolge zugeben und analysieren. Dazu gehört der verhängnisvolle Misserfolg, einen großen Teil der orientalischen jüdischen Gemeinschaft, sogar der zweiten und dritten Generation, zu überzeugen. Das ist keine gottgegebene Tatsache. Sie muss erkannt, analysiert und untersucht werden. Das ist durchaus möglich.

Dasselbe und in sogar noch stärkerem Maße gilt für die Einwanderer aus der früheren Sowjetunion. Sie sind der Linken vollkommen entfremdet. Dafür gibt es im heutigen Israel keinen Grund. Die zweite und dritte Generation muss überzeugt werden.

Das Tabu, das die jüdische Linke davon abhält, sich mit den arabischen politischen Kräften zu vereinen, muss gebrochen werden. Es ist eine Selbstkastrierung (auf beiden Seiten) und verurteilt die Linke zur Impotenz.

Ebenso wenig gibt es einen Grund für einen vollkommenen Bruch zwischen der säkularen Linken und gemäßigten religiösen Kräften. Der für einige Teile des Zentrums und der Linken typische provokative antireligiöse Widerstand ist einfach dumm.

WAS IST also zu tun?

Zuerst einmal muss eine neue Führungsschicht zum Hervortreten ermutigt werden. Sehawa Galons anfänglich lobenswertem Beispiel sollten mehr Menschen folgen, auch sie selbst. Wirklich neue Führer müssten hervortreten, Führer, die keine Nachbildungen der alten sind.

Die große Gefahr ist, dass nach dem ersten Schock alles wieder so wird, als wäre nichts geschehen.

Entschlossene Bemühungen müssen unternommen werden, um die Reibungspunkte zwischen der Linken und den ihr entfremdeten Sektoren genau festzustellen. Versuchsgruppen müssen eingerichtet werden, die zu bewussten und unbewussten, praktischen und emotionalen Ursachen der Entfremdung vorzustoßen.

Überhebliche Haltungen müssen abgelegt werden. Kein einzelner Sektor hat exklusiv das Recht auf den Staat. Jeder hat das Recht, angehört zu werden und seine tieferen Gefühle und Ansprüche auszudrücken. Exklusivität, die oft unbewusst ist, muss durch Inklusivität ersetzt werden.

Meiner Ansicht nach ist es ein Fehler, wenn wir unsere Überzeugungen verbergen. Im Gegenteil, die Tatsache, dass die Wörter "Frieden" und "Palästina" im gesamten Wahlkampf nicht genannt wurden, hat der Linken nicht genützt. Ehrlichkeit ist die wichtigste Voraussetzung, wenn man Menschen überzeugen will.

Kurz gesagt: Wenn die Linke das nächste Mal gewinnen will - die Gelegenheit dazu kann viel früher kommen, als erwartet - muss sie damit beginnen, sich zu reformieren, und sie muss dieses Mal die Gründe für ihren Misserfolg überwinden.

Das ist möglich. Der Zeitpunkt, um damit zu beginnen, ist eben jetzt.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Weblinks:

Veröffentlicht am

21. März 2015

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