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Tourias Strümpfe - Eine Liebeserklärung an den islamischen Kulturkreis

Von Peter Bürger

In den frühen 1990er Jahren habe ich im Krankenhaus als Pfleger mit einer muslimischen Kollegin zusammengearbeitet. Sie hieß Latifa und wusste, dass ich mein Christentum ernst nehmen möchte. Latifa hatte hier in Deutschland Glaubenszweifel bekommen - und sie meinte vor allem, Gott sei streng, sehr streng, und sie müsse Angst haben.

Von dieser Angstreligion wurde sie durch einen Traum befreit, den sie mir damals anvertraute: Im Traum führte sie ihr Lieblingsonkel aus Marokko in eine große Gemeinde. Sie konnte Gott nicht sehen, aber alle spürten irgendwie, dass er da ist, und das war wunderbar. Ihr Onkel sagte im Traum: "Siehst Du jetzt, dass Gott nicht so ist (wie Du ihn dir vorstellst). Siehst Du, wie groß er ist und wie gut?" - Zwischen Latifa und mir gab es beim Austausch über unsere religiösen Wege keine Verständigungsprobleme.

Deutlich später - im Jahr 2000 - bin ich während meiner Urlaubswochen in Latifas Heimatland gefahren. Davon erzählt der nachfolgende Text, den ich 2003 für einen Gemeinderundbrief verfasst und im Januar 2015 wieder aus dem Archiv abgerufen habe.

Gelehrte lernen fremde Kulturkreise und ihre Religion oft über Bücher kennen. Vor dem Durchbruch zu einer globalen Kommunikationsgesellschaft wurde z.B. christlichen Theologen durchaus etwas vom Buddhismus oder Islam vermittelt. Meistens aber diente das dazu, die eigene Tradition als das Beste und einzig Wahre zu verteidigen. Von einem Kennenlernen sollte man bei dieser Art der "Beschäftigung mit den anderen" nicht sprechen. Für mich persönlich sind zwei kurze Aufenthalte in Asien und Nordafrika jedenfalls viel bedeutsamer geworden als die entsprechenden Lehrstoffe aus allen zehn Semestern des Theologiestudiums.

Bei meiner Marokko-Reise Ende des letzten Jahrhunderts überwog im Touristenzentrum Agadir anfänglich ein großes Missbehagen. Hier tummelten sich viele Entwurzelte aus dem ganzen Land. Die Polizei sah es als ihre Aufgabe an, die Gäste aus reichen Ländern - also auch mich - vor diesen Menschen zu schützen. Persönlich mag ich außerdem die Handelsgepflogenheiten auf einem orientalischen Bazar fast genauso wenig wie die Betriebsamkeit in einem Kaufhaus.

Beim Versuch, die eitrigen und von Fliegen übersäten Beine eines Bettlerkindes mit meinen Mitteln als Krankenpfleger zu desinfizieren, geriet ich geradezu in eine absurde Rolle. Nach einem Unfall hatte man das Kind - statt ins Krankenhaus - wohl absichtlich direkt auf die Straße gebracht, weil es dort als "Mitleidsobjekt" zu etwas Geld kommen konnte.

Zur Offenbarung wurde mir dann eine Ortsveränderung. In Taroudant, fernab vom Tourismus, fand ich Unterkunft bei einer frommen muslimischen Familie. Ich witterte bei der ersten Einladung zum Tee misstrauisch irgendwelche Geschäftsabsichten. Dafür habe ich mich später - nach acht Tagen Gastfreundschaft - sehr geschämt. Im Haus wurden alle Gebetszeiten eingehalten. Der Vater war Berber, die Mutter eine äußerst lebensfrohe Araberin aus Casablanca. Der Großvater war im Jahr zuvor gestorben. Der älteste Sohn hatte ihn sehr geliebt und schlüpfte mit Stolz in den Djelaba ("Kuttenüberwurf") des Großvaters. Bis auf die Jüngste trugen die weiblichen Familienmitglieder wegen meiner Anwesenheit Kopftücher und aßen - nicht ganz getrennt - an einer anderen Hälfte des Bodentisches als "wir Männer". Wenn Vater und Sohn zur Olivenernte aus dem Haus gegangen waren, galten beim gemeinsamen Frühstück aber großzügigere Verhaltensregeln.

Mit Hilfe dieser Familie habe ich in Taroudant mehr kennengelernt als an allen anderen Orten meiner Marokkoreise. Von der Fellbearbeitung bis hin zur - von Eseln in Gang gesetzten - Olivenpresse gab es viele Arbeitsvorgänge, die für mich aufschlussreicher waren als die vorindustrielle Abteilung im Heimatmuseum meines westfälischen Geburtsdorfes. Die völlig unzureichende Versorgung einer Diabetikerin aus der Verwandtschaft zeigte mir freilich, dass es nicht nur in Agadir eine betrübliche Gesundheitssorge gab. (Immerhin war ich im vergleichsweise reichen Teil Afrikas!)

Ein Gott für Muslime, Christen und alle Menschen. So lautete die erfahrbare "Übersetzung" des Minarettrufes: Gott ist größer … Mein religiöses Interesse wurde schnell bekannt, und so kam es zum Besuch in der größten Moschee der Stadt. Das volksfromme "Heiligenhaus" in einer Straße erinnerte mich sehr an Vergleichbares aus meiner eigenen Konfession. Der abendliche Moschee-Gang in einem Bergdorf von Berbern zeigte ein Bild, das es ähnlich in den 1960er Jahren auch noch in meinem katholischen Heimatdorf zu sehen gab. Es waren die Menschen, die hier mit ihrer Frömmigkeit den Sternenhimmel zu etwas anderem machten als das, was die Planetarien simulieren.

Von Sufis hatte ich natürlich schon gehört. In Taroudant aber geriet ich in eine mystische Gemeinde aus arabischen und afrikanischen Gläubigen. Viele Trommeln, einige Blasinstrumente und die Stimmen von Vorsängern mündeten in eine unbändige Freude am Lobpreis Allahs. Hier war man auf andere Weise fromm als bei den Studenten in Agadir, die mich freundlich und doch sehr kritisch am Anfang der Reise nach meinem Christentum befragt hatten. Die Studenten verteidigten Wahrheit, wie ich es als Theologiestudent auch getan hatte. Für die mystischen Musikanten gab es dafür keinen Grund.

In der Hausgemeinschaft bekam ich von allen sehr viel Zuneigung geschenkt - so viel, dass ich eines Abends voller Dankbarkeit mit nassen Augen eingeschlafen bin. Wie konnten wir uns verständigen? Mit wenigen Brocken Englisch und Französisch und vor allem mit einer Sprache, die jeder Mensch versteht. Die Künste des Teekochens und der Essenszubereitung kann man auch ohne Worte zeigen. Wir haben zusammen gegessen, gelacht, getanzt … Beim Abschied hat die jüngste Tochter mehr als eine Träne vergossen und sich deshalb versteckt. Eine andere Tochter dachte daran, dass meine Mutter in Deutschland aufgrund einer Krankheit gelähmt und ans Bett gefesselt ist. Sie gab mir deshalb selbstgestrickte Socken mit auf den Weg. Meine Mutter trägt sie noch heute: Wärme durch die Arbeit eines unbekannten Mädchens, durch ein Geschenk des Mitgefühls aus einem anderen Kontinent und aus einer anderen Kultur. [Anmerkung Januar 2015: Meine Mutter hat die Strümpfe bis zu ihrem Tod 2009 sehr oft getragen; ich verwahre sie noch immer.]

Bis zum Anfang dieses Jahrhunderts konnten ganz sicher sehr viele Menschen auf Reisen in islamischen Ländern ähnliche Erfahrungen machen, und den Unvoreingenommenen ist es immer noch möglich. Nach dem 11. September 2001 ist jedoch etwas Merkwürdiges passiert. In den westlichen Medien haben Medienmacher eine ganze Kultur, zu der mehr als eine Milliarde Menschen gehören, unter Generalverdacht gestellt.

Als Christen 1945 die erste Atombombe geworfen hatten, kam keine Zeitung auf die Idee, den christlichen Kulturkreis als Massenvernichtungskultur zu bezeichnen. Als in Spanien und Lateinamerika katholische Diktatoren regierten, kam kein Fernsehmoderator auf die Idee, den weltweiten Katholizismus als Faschismus zu beschimpfen. Als Katholiken und auch Protestanten in Nordirland Sprengsätze legten, kam niemand auf die Idee, den beiden großen Konfessionen eine besondere Nähe zum Terrorismus zu unterstellen.

Doch bei den Muslimen zeichnete man nach Terroranschlägen einer kleinen Minderheit ein kollektives Feindbild. Jeder einzelne Muslim sollte sich gefälligst distanzieren. Es folgten immer mehr Tagesmeldungen über Zwangsehen, Rachemorde oder türkische "Jugendbanden". Sogar einige Kirchenleute warnten vor einer "Kuschelökumene mit dem Islam". Die von Hollywood her schon lange bekannten bösen Muselmanen wanderten in die europäischen Krimis …

Nun also hat man jenen neuen Feind, mit dem sich nach Ende des Kalten Krieges die militärische Hochrüstung auf dem Globus weiter "rechtfertigen" lässt. Dieser Feind liefert auch ein willkommenes Argument dafür, dass reiche Industriemächte sich die Verteilungskontrolle über Erdöl und andere Energiequellen in islamischen Ländern sichern. Der Krieg gegen ganze Länder wird als Terroristenverfolgung ausgegeben. Hunderttausend und mehr bezahlen für den Mord an dreitausend Unschuldigen. Schließlich braucht man, da es ja den "Kampf der Kulturen" gibt, über die Unterschiede zwischen der Masse der Armen und den wenigen Reichen auf dem Globus oder über Sozialabbau bei uns nicht mehr zu sprechen.

Beim antiislamischen Kulturkampf gewinnen nur wenige Kriegsprofiteure. Wir alle aber werden zu Verlierern. In einigen Städten klappt schon jetzt das Zusammenleben nicht mehr so richtig. Weltweit explodieren immer mehr Pulverfässer. Das fällt in einer globalisierten Welt auf uns zurück. …

Es wird höchste Zeit, für eine öffentliche Kultur des Kulturdialogs. Wir brauchen keine neuen Terroristenfilme, sondern Bilder auf der Leinwand, die uns zum Beispiel die unermesslichen Schönheiten des islamischen Kulturkreises vor Augen führen. In einem öffentlichen Klima, das Kopftücher nicht mehr zur Bedrohung hochstilisiert, würde man über die eigentlichen Überlebensfragen der Zivilisation sprechen. Es fänden wohl auch mehr Menschen den Mut, von ihren sympathischen Begegnungen in der Welt des Islam zu erzählen.

Veröffentlicht am

25. Januar 2015

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