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Wolfgang Sternstein: “Arundhati Roys Unterstellung, Gandhi habe Kastensystem unterstützt, ist infam”

Wolfgang Sternstein, profunder Gandhi-Kenner, übt in einem Schreiben an den Moderator der Sendung "Titel, Thesen, Temperamente" scharfe Kritik an dem am 14.12.2014 gesendeten Beitrag "Das andere Gesicht Mahatma Gandhis". Die dort wiedergegebene Kritik Arundhaty Roys an Gandhi habe mit seriösem Journalismus nichts tun, weil einfach ihre Position übernommen würde, ohne zu fragen, ob ihre Kritik an Gandhi berechtigt sei. Es sei traurig, dass eine so kluge Frau wie Arundhati Roy glaube, sie könne Gandhi ohne Kenntnis seines Lebenswegs und seines Werkes durch hanebüchene Unterstellungen und Verzerrungen "demontieren".

In der Ankündigung des Beitrags in der ARD-Sendung "Titel, Thesen, Temperamente" (TTT) vom 14.12.2014 heißt es u.a.:

"Mahatma Gandhi, eines der größten Vorbilder der Friedensbewegung, Vorbild für Martin Luther King und Nelson Mandela, gilt als weltweites Idol der Gewaltfreiheit. "Ein Irrtum!", sagt Arundhati Roy, die bekannteste Schriftstellerin, Intellektuelle und Aktivistin Indiens, Booker-Preisträgerin und Autorin des Millionen-Bestsellers "Der Gott der kleinen Dinge". In einem Furore machenden Essay hat die indische Intellektuelle jetzt ein globales Heiligtum angekratzt: Mahatma Gandhi sei nicht der friedliebende Held der Gewaltlosigkeit gewesen, für den ihn die Welt halte, sagt sie. Vielmehr sei er "bedingungsloser Verfechter einer der gewalttätigsten Gesellschaftsformen der Welt" gewesen: dem Kastensystem." Mahatma Gandhi, kein Heiliger - sondern einer, der Unterdrückung durch die rigorose Einteilung in Kasten unterstützt hat - oder sogar ein Rassist?"

Die vollständige Ankündigung der Sendung in TTT kann hier nachgelesen werden: "Das Ende eines Mythos?" Hier ist das Video der Sendung anzusehen: "Das andere Gesicht Mahatma Gandhis" .

Wir veröffentlichen nachfolgend das Schreiben von Wolfgang Sternstein an Max Moor, Moderator von TTT.

Arundhati Roys Unterstellung, Gandhi habe Kastensystem unterstützt, ist infam

Von Wolfgang Sternstein, Schreiben vom 15.12.2014 an TTT, Mitteldeutscher Rundfunk, Redaktion Kulturmagazine in Leipzig

Betreff: Sendung über Gandhi in ttt vom 14.12.2014

Lieber Herr Moor,
wer immer für die Sendung über Arundhaty Roys Kritik an Gandhi verantwortlich zeichnet, sagen Sie ihr oder ihm, mit seriösem Journalismus hat sie nichts zu tun. Die Autorin oder der Autor übernimmt, wie auch schon der "Stern", unkritisch die Position von Roy ohne zu fragen: Ist ihre Kritik an Gandhi denn berechtigt?

Muss ich betonen, dass Gandhi kein geborener Heiliger war, an dessen Wiege die Englein sangen und die Weisen aus dem Morgenland knieten? Er war ein Mensch wie Sie und ich. In seiner Jugend und im frühen Mannesalter teilte er viele der Vorurteile und Konventionen des Milieus, in dem er aufwuchs. Erst im Alter von 24 Jahren begann der lange Weg, an dessen Ende der "Mahatma" (die große Seele) stand, als den wir ihn kennen.

Dass Gandhi sich seines langen Weges zur Wahrheit, wie er es nannte, bewusst war, geht aus der folgenden Noriz hervor, die er später einigen seiner Schriften voranstellte: "Ich möchte den aufmerksamen Lesern meiner Schriften und auch all jenen, die an ihnen Interesse haben, sagen, dass es mir nicht darauf ankommt, den Eindruck zu erwecken, dass meine Überzeugungen immer dieselben sind. Auf meiner Suche nach der Wahrheit habe ich viele Ideen wieder verworfen und viele neue Dinge gelernt. Auch jetzt im vorgerückten Alter habe ich nicht das Gefühl, dass ich aufgehört habe, innerlich zu wachsen, und ich glaube auch nicht, dass dieses Wachstum mit dem Absterben des Fleisches aufhören wird. Es geht mir nur darum, dem Ruf der Wahrheit, die mein Gott ist, in jedem Augenblick gehorsam zu sein. Wenn deshalb jemand eine Unstimmigkeit zwischen verschiedenen meiner Schriften entdeckt, dann sollte er, solange er noch Vertrauen zu meinem Geisteszustand hat, die neuere der beiden Schriften vorziehen."

Es ist traurig, dass eine so kluge Frau wie Arundhati Roy glaubt, sie könne ihn ohne Kenntnis seines Lebenswegs und seines Werkes durch hanebüchene Unterstellungen und Verzerrungen "demontieren".

Ein Wort noch zu der Behauptung, Gandhi habe das Kastensystem, wie es in Indien besteht, gerechtfertigt. Das ist barer Unsinn. Gandhi ging von der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen aus, gleichgültig ob Mann oder Frau, Brahmane oder Unberührbarer, Hindu, Muslim, Jude oder Buddhist, Weißer, Brauner oder Schwarzer, Russe, Deutscher oder Liechtensteiner. Er arbeitete für eine Welt, in der diese Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung verwirklicht ist und kein Mensch unterdrückt, ausgebeutet, vergewaltigt oder gedemütigt wird. Er hat das aber nicht nur als eine hehre Lehre gepredigt, sondern in seinem Haus zu verwirklichen gesucht.

Beispiel: Das Leeren der Nachttöpfe ist in Indien eine Arbeit für Unberührbare. Im Haus Gandhis in Südafrika und später in Indien waren dafür alle zuständig und zwar der Reihe nach, zuerst der Barrister Mohandas K. Gandhi (so sein bürgerlicher Name), dann seine Frau, seine Mitarbeiter bis zum Lehrling und den Unberührbaren, die er bewusst in sein Haus aufgenommen hatte. Seine Frau lehnte sich dagegen auf mit den Worten "Das ist eine Arbeit für Unberührbare", was Gandhi zu seinem berühmten Zornesausbruch veranlasste, den er in seiner Autobiographie schildert und den Richard Attenborough in seinem Gandhi-Film in Szene setzt.

Gandhi und das Kastensystem, das er angeblich akzeptiert und verteidigt. Diese Behauptung ist grundfalsch. Im Laufe der Jahrtausende hat sich das Kastensystem nach Ansicht Gandhis zu einem hierarchischen System entwickelt mit den bekannten vier Kasten (Brahmanen, Kschatrijas, Vaischyas, Schudras und den Kastenlosen = Haridschans). Gandhi hat dieses hierarchische, vertikale Kastensystem nachdrücklich abgelehnt. Er wollte es durch ein egalitäres, horizontales System ersetzt sehen. Das heißt, Gandhi strebte eine eher statische Gesellschaft an, in der jeder, gleichgültig ob Priester, Krieger, Kaufmann oder Handwerker das gleiche Recht und die gleiche Achtung genießt wie alle übrigen Mitglieder der Gesellschaft, auch in Fragen der Bildung und der Lehre. Nur die Unberührbarkeit wollte er total abschaffen und dies war ihm wichtiger noch als die Befreiung Indiens vom Kolonialregime der Engländer. Er sah die westlichen dynamischen Gesellschaften kritisch, weil das Prinzip des Wettbewerbs zwangsläufig Ungleichheiten in der Gesellschaft und somit eine Klassengesellschaft zur Folge hat. Er vertrat somit ein Gesellschaftskonzept, das meines Erachtens durchaus diskussionswürdig ist. Ihm vorzuwerfen, er habe die Kastengesellschaft mit all ihren Auswüchsen verteidigt und unterstützt, wie Arundhati Roy es tut, ist schlicht infam.

Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Sternstein


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Veröffentlicht am

04. Januar 2015

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