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Russlands Präsident im ARD-Interview: Stimmen Putins Aussagen zur NATO?

Von Otfried Nassauer

Russland fühlt sich bedroht: Im ARD-Interview hat Präsident Putin über die Erweiterung der NATO, die wachsende Zahl ihrer Stützpunkte und Patrouillenflüge gesprochen. Trifft das zu? Eine Analyse von Putins Aussagen.

Wladimir Putin hat dem Westen im ARD-Interview mit Hubert Seipel indirekt vorgeworfen, seit Jahren dazu beizutragen, dass sich das Verhältnis Russlands zum Westen verschlechtert.

Wörtlich sagte Putin:

"Nach 2001 gab es zwei Wellen der NATO-Erweiterung. (…) Das verändert den geopolitischen Raum erheblich. Darüber hinaus wächst die Anzahl von Stützpunkten. (…) Das sind NATO-Stützpunkte. Amerikanische Stützpunkte sind in der ganzen Welt verstreut, unter anderem auch nahe unserer Grenzen. Und deren Anzahl wird größer.

Darüber hinaus wurden vor kurzem Entscheidungen über den Einsatz von Spezialkräften getroffen. Und das wiederum in der unmittelbaren Nähe zu unseren Grenzen. Sie erwähnten verschiedene Manöver, Flugzeuge, Schiffsbewegungen und so weiter. (…) Ja, sie gibt es. Erstens, Sie sagten oder die Übersetzung war nicht richtig, dass das im internationalen europäischen Luftraum [stattfindet]. Der Luftraum ist entweder international und neutral oder europäisch. So finden unsere Übungen ausschließlich in internationalen Gewässern und im internationalen Luftraum statt.

Nach 1991-1992 haben wir beschlossen, die Flüge unserer strategischen Luftstreitkräfte zu stoppen. Und alle unsere Flugzeuge wurden auf Flugplätzen fest geparkt. Zur selben Zeit, viele Jahre lang, setzten unsere amerikanischen Partner die Überwachung mit ihren Atomstreitkräften, Flugzeugen fort. Darüber spreche ich. Es sind auch die gleichen Routen, unter anderem entlang unserer Grenzen. Und deswegen nahmen wir vor einigen Jahren, als wir sahen, dass nichts passiert, dass keiner einen Schritt auf uns zugeht, die Flüge unserer Langstreckenflotte zur Überwachung wieder auf."

Putins erstes Argument trifft zu: Das Umfeld Russlands, der "geopolitische Raum", hat sich durch die Erweiterungen der NATO deutlich verändert. Die NATO rückt Moskau auf den Pelz. Putin spricht die wichtigste Befürchtung noch nicht einmal an: Treten die Ukraine und Georgien der NATO bei, so wird die Grenze Russlands zur NATO erheblich größer. Zu der Entwicklung gehört aber auch: Die neuen Mitglieder wollten Mitglied der westlichen Institutionen werden - sei es aus wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Gründen, sei es auf Grund anderer Verlockungen.

Zahl der NATO-Stützpunkte gewachsen

Mit den Osterweiterungen sei - so Putin - die Zahl der NATO- und US-Stützpunkte in der Nähe Russlands gewachsen. Auch das ist richtig: Die NATO, mehr noch die USA, haben sich Stützpunkte geschaffen, die neue militärische Möglichkeiten bieten. Washington schloss mit Rumänien (2005) und Bulgarien (2006) Abkommen, die ihm die Nutzung von Stützpunkten in der Schwarzmeerregion erlaubt. Dort waren die USA früher nicht präsent. In Bulgarien geht es unter anderem um den Hafen Burgas, Flugplätze wie Sarafovo und Graf Ignatievo oder den Truppenübungsplatz Nowo Selo. In Rumänien um den Hafen Constanta und den Flugplatz Mihail Kogalniceanu.

Wechselnde NATO-Kontingente patrouillieren an russischer Grenze

In Polen und den baltischen Republiken gibt es derzeit noch keine dauerhaft stationierten NATO-Truppen, obwohl diese Länder das seit langem fordern. Stützpunkte werden derzeit vorübergehend genutzt. Bekanntestes Beispiel: Wechselnde Kontingente, darunter aus Deutschland, sichern den Luftraum der baltischen Staaten und patrouillieren dabei auch die Grenzen zu Russland. Während der Ukraine-Krise wurden diese Kontingente etwa verdreifacht.

Die NATO will damit Bündnissolidarität signalisieren, genauso wie mit zusätzlichen Manövern zu Land und auf See. Die einzelnen Maßnahmen umfassen meist nur wenige Hundert Soldaten und halten die westlichen Zusagen gegenüber Russland formal ein. Aus Moskauer Sicht sind sie aber in der Summe ein quantitativer und qualitative Sprung, ähnlich wie die geplante US-Raketenabwehrstellung in Polen.

Washington schafft neue militärische Stützpunkte

Moskau fürchtet, Washington schaffe sich rund um die Außengrenzen Russlands militärische Basen, die es bei Bedarf dauerhaft nutzen kann. Die Intervention im Irak, das Eingreifen in Afghanistan und die damit verbundene Einrichtung logistischer US-Basen in Zentralasien werden schon lange von solchen Befürchtungen begleitet - nicht zuletzt, weil Washington solche Standorte häufig tatsächlich nicht wieder aufgibt. "Camp Bondsteel" im Kosovo ist ein Beispiel: Ein Stützpunkt mit großer Infrastruktur, der schnell größere Verbände aufnehmen kann.

Das Projekt "Speerspitze" - NATO-Spezialkräfte an der russischen Grenze?

Putins Anspielung auf die jüngsten NATO-Beschlüsse, "Spezialkräfte" nahe der russischen Grenze zu stationieren, meint wohl die Beschlüsse des jüngsten NATO-Gipfels in Wales, künftig eine Schnelle Eingreiftruppe zu bilden, deren erste Kontingente binnen Tagen im Baltikum eintreffen können. Das Projekt "Speerspitze". Die Pläne dafür und deren Details sind noch zu undurchsichtig, um sie genau zu beurteilen.

NATO-Kampfflugzeuge im internationalen Luftraum

Der russische Präsident geht darüber hinaus auf aktuelle Zwischenfälle ein, bei denen NATO-Flugzeuge russische Atombomber abgefangen haben. Putin argumentiert zu Recht: Moskau hat mehr als zehn Jahre auf solche Flüge verzichtet, während Washington daran festhielt. Erst ab 2005 tauchen wieder erste Berichte auf, dass westliche Abfangjäger russische Bomber im internationalen Luftraum vor Nordamerika oder den Küsten Europas "abgefangen" haben. Ab 2011 werden diese Meldungen häufiger und im Kontext der Ukraine-Krise kam es zuletzt zu einer Vielzahl solcher Ereignisse. Die Begegnungen fanden jedoch - soweit bekannt - fast ausschließlich im internationalen Luftraum statt.

Washingtons Raketen-U-Boote patrouillieren weltweit

Bei den wichtigeren Patrouillen von U-Booten mit Atomraketen weiß man mehr. Die Federation of American Scientists hat die US-Marine veranlasst, Erkenntnisse über diese U-Boot-Patrouillen zugänglich zu machen, zuletzt für 2012. Deutliche Unterschiede zwischen den USA und Russland werden sichtbar: Washingtons Raketen-U-Boote patrouillieren weltweit, die Russlands nur noch nahe der russischen Nord- und Ostküsten.

Die US-Boote sind öfter und zahlreicher unterwegs. Sie unternahmen 28 Patrouillen und waren jeweils mehr als 70 Tage unterwegs. Moskaus Boote kamen dagegen auf gerade einmal fünf Patrouillen, die auch noch kürzer ausfielen. Jedes der zwölf Boote der USA war 2012 mehr als zweimal auf See, die russischen Boote lagen dagegen teilweise das ganze Jahr im Hafen. Beide Länder haben die Zahl ihrer Boote und Patrouillen seit dem Ende des Kalten Krieges zugleich deutlich reduziert. Um 1990 unternahmen die US-Boote noch rund hundert Fahrten pro Jahr, ihre sowjetischen Gegenspieler 50 bis 60.

Sicherheit vor oder mit Russland schaffen?

Putins Interview-Aussagen sind in der Sache kaum angreifbar. Über die Bewertung seiner Fakten kann man diskutieren. Die Diskussion führt jedoch zu einer Frage zurück, die Putin bereits 2001 im Deutschen Bundestag thematisierte: "Die bisher ausgebauten Koordinationsorgane [zur Zusammenarbeit mit der NATO] geben Russland keine realen Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen."

Darum geht es tatsächlich im Kern: Sollen die Sicherheitsstrukturen Europas Sicherheit vor oder mit Russland schaffen? Das war bereits die zentrale Frage der neuen Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs vor mehr als 40 Jahren.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS

Quelle: BITS - Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Otfried Nassauer.

Veröffentlicht am

05. Dezember 2014

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