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Adam Keller: Der Konflikt bewältigt uns

Von Adam Keller, 14.11.2014

Bei der Gedenk-Kundgebung vor zwei Wochen auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv hielt Schimon Peres eine der besseren Rede seiner langen Amtszeit. "Einige haben das Wort ‘Frieden’ zu einem Schimpfwort gemacht. Für einige sind die, die nach Frieden streben, Leute, die entweder naiven Illusionen anhängen oder keine Patrioten sind. Zu allen denen, die so etwas behaupten, möchte ich laut und deutlich sagen: Naive Illusionen machen sich diejenigen, die am Frieden verzweifeln. Diejenigen, die aufgegeben und damit aufgehört haben, nach Frieden zu streben, sind es, die naiv und unpatriotisch sind! Und dann gibt es noch diese weisen Leute, die statt von Frieden davon sprechen, den Konflikt zu ‘bewältigen’. Passt dieser Begriff von Konfliktbewältigung tatsächlich zu dem, was im letzten Sommer im Gazastreifen geschehen ist und in diesen Tagen in Jerusalem geschieht? Kann man einen Konflikt überhaupt bewältigen? Der Konflikt bewältigt uns."

Seit diese Rede gehalten wurde, sind zwei Wochen vergangen und der Konflikt bewältigt uns weiter und zieht uns in einen schwindelerregenden Strudel flammender Deklarationen und Hass und Gewalt und Blutvergießen; ein Ereignis folgt blitzschnell auf das andere, bis es schließlich schwierig wird, sich genau zu erinnern, wie es angefangen hat und welche palästinensische Provokation eine Reaktion auf eine israelische war (oder umgekehrt).

In der letzten Woche wurde ein israelisch-arabischer Bewohner von Kafr Kana im Norden unter zweifelhaften Umständen von Polizeibeamten getötet. Und die Flammen von Konfrontation und Unzufriedenheit breiteten sich von Ostjerusalem auf die arabische Bevölkerung im eigentlichen Israel aus. Drei Tage darauf fasste der achtzehnjährige palästinensische Arbeiter aus dem Askar-Flüchtlingslager in Nablus, der ohne Arbeitserlaubnis in Tel Aviv arbeitete, einen persönlichen Entschluss; keine Organisation hatte ihm das befohlen. Er nahm ein Messer, stach den zwanzigjährigen Soldaten Almog Schiloni, der in der israelischen Luftwaffe diente, nieder und verwundete ihn tödlich. Der Soldat war auf dem Rückweg zu seiner Basis.

Am Abend desselben Tages gingen wir aus dem Haus. Die Tür im Erdgeschoss öffnete sich und eine Nachbarin, die wir kaum kennen, sagte mit mütterlicher Besorgnis: "Haben Sie nicht gehört? Sie sind schon bis Tel Aviv gekommen. Es ist besser, wenn Sie nicht an öffentliche Orte gehen. Sie gehen besser überhaupt nicht weiter von zu Hause weg. Es ist gefährlich, sagen sie im Fernsehen!" Auf der Straße ging ein sehr aufgeregter junger Mann an uns vorbei, der in sein Handy sprach: "Wenn nach alledem, was jetzt passiert ist, das Land wieder zu kämpfen beginnt, müssen sie nicht lange nach mir rufen! Ich werde zu meiner Einheit gehen, noch bevor ich den Einberufungsbefehl bekommen habe". Hätte es irgendeinen Sinn gehabt, wenn wir angehalten und versucht hätten, der erschrockenen Frau und dem begeisterten jungen Mann die Ursache des Konflikts und die immer noch bestehende Chance für Frieden zu erklären? Jedenfalls haben wir es nicht einmal versucht. Die Promenade am Strand von Tel Aviv war fast menschenleer, wir sahen nur wenige Passanten.

Am nächsten Tag sagte der Zwillingsbruder Sahar Schiloni beim Begräbnis des Soldaten: "In diesem Land kann man nicht einmal ruhig auf der Straße gehen. Mein Bruder wollte nur in sein Basislager zurück und da wurde er auf der Straße erstochen. So kann es nicht weitergehen. Es kommt mir so vor, als lebte dieses Land in dem Irrglauben, alles wäre gut. Ich möchte jedem, auch den Politikern sagen, es wäre besser, sie würden aufwachen." Und wenn die Politiker "aufwachen", bedeutet das, dass sie es auf Frieden oder auf Krieg anlegen sollen? Das hat er nicht genauer ausgeführt.

Kommentator Alex Fishman ist als Sprecher einiger Interessengruppen im Oberkommando der Armee bekannt. Am nächsten Tag veröffentlichte er einen ausführlichen Kommentar und forderte eine Politik der eisernen Faust, "damit die Palästinenser wieder Achtung vor der Regierung bekommen". Fishman schlug vor, Menschenjagden durchzuführen und alle "arabischen Randalierer in Jerusalem und im ganzen Land" systematisch zu inhaftieren, selbst wenn es nötig werden sollte, zusätzliche Gefängnisse für sie zu bauen. Außerdem sollten "die Häuser, in denen Terroristen und ihre Familien leben", gesprengt werden, um "eine Abschreckung in der Bevölkerungsgruppe zu bewirken, aus der die Messerstecher kommen". Und niemand aus dem Teil von Nablus, aus dem der Täter in Tel Aviv kam, sollte eine Arbeitserlaubnis bekommen, da "man mit dem Terrorismus unmöglich fertig werden kann, wenn man nicht seine Umgebung bestraft". Es ist unbedingt nötig, "die Umgebung, aus der der Täter kommt", ins Visier zu nehmen: "seine Nachbarn, die Gläubigen in der Moschee, die er besucht hat".

Heute, erst drei Tage später, veröffentlichte derselbe Alex Fischman einen Kommentar in weit gemäßigterem Ton. Jetzt teilt er mit, die Armee-Kommandeure hätten beschlossen, bis auf Weiteres den Konflikt mit den Palästinensern nicht zu verschärfen und kollektive Bestrafungen zu vermeiden, da "es besser ist, die Terroristen von der allgemeinen Bevölkerung zu isolieren". Sie erinnerten auch daran, dass eine Militär-Kommission vor Jahren zu dem Schluss gekommen war, die Zerstörung von Häusern sei kontraproduktiv. Es sieht so aus, als hänge diese atmosphärische Veränderung mit den Bemühungen zusammen, die Außenminister John Kerry in den letzten Tagen unternommen hat. Er versucht, das Feuer zu löschen oder doch wenigstens die Flammen zu mäßigen.

Anscheinend hatte der Dringlichkeitsgipfel "Amman Summit Calls for Respecting Temple Mount Status Quo" ., den Kerry mit Ministerpräsident Netanjahu und König Abdullah - und getrennt davon mit Präsident Abbas - abgehalten hat, wenigstens bei der Behandlung des empfindlichsten Konfliktpunktes Erfolg, dem Konflikt um das Moschee-Gelände in der Jerusalemer Altstadt. Heute erlaubt die israelische Polizei den muslimischen Gläubigen unbeschränkten Zutritt. Dabei gilt die stillschweigende Verpflichtung der Palästinenser, dass es dort weder Demonstrationen noch Unruhen geben werde. Netanjahu bestätigt seine öffentlich eingegangene Verpflichtung, jede Veränderung des Status quo auf dem Tempelberg zu vermeiden und Versuche messianischer Nationalisten, die Stätte zu übernehmen, zu verhindern. Einige dieser Nationalisten sind sogar Minister in seiner eigenen Regierung. Wahrscheinlich ist es Netanjahu wegen der klaren Haltung des Obersten Rabbiners leichter gefallen, diese Position einzunehmen. Dieser wiederholte eindringlich die traditionelle orthodoxe Position: Sie ist aus rein religiösen Gründen gegen jeden Versuch, den Ort, an dem vor 2000 Jahren der Tempel stand, anzutasten. Die Rabbiner gingen sogar so weit, dass sie denjenigen, die in das Gelände des Tempelbergs eingebrochen waren, die Schuld am Blutvergießen in Jerusalem gaben.

An Orten außerhalb dieser empfindlichen heiligen Stätten werden allerdings Aufstände und Ausbrüche und Konfrontationen fortgesetzt. Aus der Gegend des Kalandia-Kontrollpunkts in Nordjerusalem kamen heute Nachrichten über neuartige Aktionen, die palästinensische Aktivisten unternommen haben, um gegen den Zaun zu protestieren, der den Bewohnern des Westjordanlandes den freien Zutritt zu Ostjerusalem verwehrt. Einer von ihnen sagte den israelischen Y-Net-News , dass etwa 150 Aktivisten mit improvisierten Leitern an den Sperrzaun kommen würden, was einigen von ihnen ermöglichen werde, über den Zaun zu kommen. Zur selben Zeit zerschnitten andere Palästinenser den Zaun in der Nähe des stillgelegten Flughafens Atarot. Die Aktivisten sagten, sie hätten die nicht darauf vorbereiteten Soldaten auf der anderen Seite des Zauns überrascht.

Alles das geschieht auf dem Hintergrund von Aufruhr und Konfrontationen in Ramallah in den zehn Jahren seit Jasser Arafats Tod. Sein Tod ist weiterhin umstritten und viele Palästinenser glauben, dass er vom israelischen Sicherheitsdienst vergiftet worden ist. Zehn Jahre nach dem Tod Arafats sind gleichzeitig ein Jahrzehnt der Präsidentschaft seines Nachfolgers Mahmud Abbas (Abu Mazen). Das lädt zu einem Vergleich zwischen den beiden Führern ein - und für die meisten Palästinenser geht dieser Vergleich zu Ungunsten von Abbas aus.

Vom Beginn seiner Amtszeit an war Abbas prinzipiell gegen den Einsatz von Gewalt und er bestand darauf, dass die Palästinenser ihre politischen Ziele ausschließlich durch eine Politik der Diplomatie erreichen könnten. Aber in den zehn Jahren seiner Amtszeit konnte er seinem Volk keine konkreten Ergebnisse vorlegen, die seinen Anspruch als richtig erwiesen hätten.

Während seiner Amtszeit wiederholte Abbas immer wieder, sein Ziel als Führer der Palästinenser sei es, einen Staat Palästina in den Grenzen von 1967 zu schaffen und er habe nicht die Absicht, die Integrität Israels innerhalb dieser Grenzen zu verletzen.

Das hat Netanjahu durchaus nicht beeindruckt.

Ein paar Tage vor dem Holocaust-Tag traf sich Abbas mit einem amerikanischen Rabbiner und sagte: "Der Holocaust war das schrecklichste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit." Der israelische Ministerpräsident reagierte sauer.

Bei einer Konferenz der arabischen Außenministers in Saudi-Arabien im vergangenen Juni verurteilte Abbas klar und deutlich die Entführung und Tötung der drei Jeschiwa-Schüler im Westjordanland. Zuvor hatte Abbas eingeräumt, er persönlich als palästinensischer Flüchtling verstehe vollkommen, dass er niemals in seine Geburtsstadt Safed in Galiläa zurückkehren werde. Safed ist heutzutage eine jüdisch-israelische Stadt, in der viele Nationalreligiöse leben. Diese haben mit Gewaltanwendung gedroht, falls Abbas auch nur zu einem kurzen Besuch in die Stadt käme.

Mit derartigen Erklärungen erzürnte Abbas einige Palästinenser, während die positive Wirkung auf Israelis begrenzt war. Als fast automatische Reaktion benutzte das Büro des Ministerpräsidenten die Formel: "Solange er Israel nicht als jüdischen Staat anerkennt, hat alles andere keinen Wert." Man mag sich fragen, welche Entschuldigung wohl benutzt worden wäre, wenn Abbas auch das akzeptiert hätte.

Bei der wachsenden Eskalation wurde Abbas dazu gedrängt, seine Politik zu ändern: Er äußerte sich militant ("Israel hat in Gaza Völkermord begangen", "die Siedler entweihen die Al-Aqsa-Moschee"), aber gleichzeitig hält er die Sicherheits-Zusammenarbeit mit dem Staat Israel und dessen Sicherheitsdiensten strikt aufrecht.

In Jedi’ot Acharonot zitiert Nachum Barnea heute in einem Artikel einen nicht mit Namen genannten Armee-Offizier, der täglich an Aktivitäten im Westjordanland teilnimmt:

"Die palästinensischen Sicherheitskräfte stehen auf ausdrücklichem Befehl von Abu Mazen treu zu ihrer Verpflichtung, die Situation zu beruhigen. Sie verhaften weiterhin Hamas-Angehörige. In der palästinensischen Öffentlichkeit werden sie als Verräter betrachtet und sie machen trotzdem weiter." Der Offizier betont, dass es bisher "keinen Transfer von Menschen und Waffen von den Sicherheitsdiensten zum Terrorismus" gegeben habe. Darüber wundere man sich sehr im Militär und frage sich, wie lange es noch so bleiben werde. Vor allem ein Aufruf zum Aufstand von Marwan Barghouti aus dem Gefängnis könne die Situation ändern. "Barghouti sagt offen, was viele Palästinenser denken, was bisher aber noch nicht geschehen ist."

Der Offizier äußert sich wenig optimistisch: "Wir hatten schwierigere Zeiten hinsichtlich der Gewalt, aber ich habe das Gefühl, dass dies die gefährlichste Situation der letzten zehn Jahre ist. Die palästinensische Basis hat - viel stärker als in der Vergangenheit - das Gefühl, dass es keine Alternative zum Terrorismus gibt. Abu Mazen schlägt eine Alternative vor: Wir wollen vor den Sicherheitsrat gehen, zu den UN-Behörden. Die einzigen Palästinenser, die an diese Alternative glauben, sind Saeb Erekat und Abu Mazen selbst. Die [palästinensische] Öffentlichkeit erwartet aus New York keine Rettung. Was bleibt da übrig? Übrig bleibt bewaffneter Widerstand, den wir Terrorismus nennen."

Vor allem die palästinensische diplomatische Initiative, in die die meisten Palästinenser kein Vertrauen setzen, bleibt der dünne Faden, an dem Mahmoud Abbas’ Schicksal hängt. In Europa bringen die Palästinenser eine Dynamik der Anerkennung von Regierungen und Parlamenten in Gang. Nach der Erklärung der Anerkennung des Staates Palästina durch die schwedische Regierung und die dramatische Abstimmung im britischen Parlament wird die Anerkennung durch das spanische (am 18. November) und durch das französische Parlament (am 28. November) erwartet und ebenso die der dänischen und irischen Parlamente, für die der Zeitpunkt noch nicht feststeht.

Der israelische Minister für strategische Angelegenheiten Juval Steinitz versuchte in einem langen Interview in einer französischen Zeitung ein Gegengewicht zu schaffen, indem er warnte, Frankreichs Anerkennung könne "den Friedensprozess verletzen" (welchen Friedensprozess?). Außerdem würde das Frankreichs Stellung als Mediator zwischen Israel und Palästinensern unmöglich machen (Israel hat jedoch Frankreich niemals eine solche Rolle zugedacht). Der Präsident des Außenpolitik-Komitees des französischen Parlaments reagierte folgendermaßen darauf: Er ließ verlauten, 700 israelische Bürger hätten einen öffentlichen Aufruf an die Abgeordneten des französischen Parlaments gerichtet, sie sollten die Anerkennung Palästinas unterstützen. Darunter waren auch der ehemalige Leitende General des israelischen Außenministeriums Dr. Alon Liel und der ehemalige israelische Botschafter in Frankreich Professor Eli Barnavi.

Die Kämpfe in der europäischen Arena sind nur ein Vorspiel zu dem entscheidenden Augenblick, der für irgendwann im Dezember oder Januar erwartet wird: dem Zeitpunkt, wenn der Resolutionsentwurf über Palästina auf der Tagesordnung des UN-Sicherheitsrates stehen wird. Dann müssen die USA entscheiden, ob sie ein Veto einlegen oder nicht. Die Entscheidung der Amerikaner wird wahrscheinlich Mahmoud Abbas’ Schicksal in der einen oder anderen Richtung bestimmen und sie wird ebenso wahrscheinlich weitreichende Folgen für das Beziehungsdreieck USA-Israel-Palästina haben.

In den wöchentlichen Nachrichten des israelischen Fernsehsenders Kanal I sprachen die Kommentatoren über die Möglichkeit, dass Präsident Obama tatsächlich den Schutz des amerikanischen Vetos von Israel abziehen würde. Der altgediente Kommentator Oded Granot fasste es folgendermaßen zusammen: "Netanjahu hat seine Freude über den Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen offen gezeigt. Netanjahus Leute haben immer wieder gesagt, Obama sei nun eine ‘lahme Ente’. Aber vielleicht werden sie herausfinden, dass er zu einem verwundeten Tiger geworden ist."

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Quelle: Crazy Country. Originalartikel:  The conflict is managing us .

Fußnoten

Veröffentlicht am

24. November 2014

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