Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Martin Arnold: “Mein Weg zur Entdeckung der Gütekraft”

Vortrag bei der Tagung des Lebenshauses Schwäbische Alb "’We shall overcome!’. Gewaltfrei für die Vision einer Welt ohne Gewalt und Unrecht. Drei biographische Zugänge" am 11.10.2014 in Gammertingen

Von Martin Arnold

Ich danke für die Einladung. Ich fühle mich geehrt, hier sprechen zu dürfen, und freue mich, zum ersten Mal von Essen nach Gammertingen gekommen zu sein, diesem Gammertingen mit dem berühmten Lebenshaus.

Ich wählte als Überschrift für das, was ich erzähle:

"Mein Weg zur Entdeckung der Gütekraft"

Dieser Weg beginnt mit einem Erleben in der Kindheit.

Ich komme aus einer großen Familie mit vielen Geschwistern. Meine Schwester Ute war 14 Jahre älter als ich. Sie hatte eine fortschreitende Muskelschwundkrankheit, sodass ich sie in meiner Kindheit fast nur im Rollstuhl sitzend oder im Bett liegend erlebt habe. Einer meiner Brüder war ein Jahr älter, ein anderer Bruder war ein Jahr jünger als ich. Wir drei stritten uns ab und zu, wie es unter Brüdern als normal gilt. Ich weiß noch gut: Dabei spielte das Kräftemessen eine Rolle: Wer von uns ist wie stark? Ab und zu war Ute in der Nähe. Sie brauchte nur einen einzigen Satz zu sagen und der Streit war beendet. Ich weiß keine Einzelheiten mehr, vor allem würde ich mich gerne an ihre Worte erinnern. Aber sie sind weg. Nur das Erlebnis des Streit-Beendens mit einem schnellen, treffenden Satz von Ute im Rollstuhl habe ich klar in Erinnerung.

Als sie 26 Jahre alt war, holte die Krankheit sie ein und sie ging von uns. Auf ihrem Grabstein steht der Satz aus dem Korintherbrief von Paulus: Gott sagt: "Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig".

Das zweite, das ich erzählen möchte, war einige Jahre später. Mit meinem älteren Bruder suchte ich immer wieder Streit. Das fiel mir auf, als ich längere Zeit von ihm getrennt in einer Gastfamilie wohnte. Da fehlte er mir - und ich suchte nun den Streit mit einem Jungen in dieser Familie, der in derselben Klassenstufe war wie mein Bruder. Als ich 13 Jahre alt war, gab es eines Tages ein Ringen mit meinem Bruder im Flur an der Dachtreppe. Da kriegte ich ihn runter. Von da an fühlte ich mich nicht mehr unterlegen. Es war der letzte Kampf mit ihm und auch mit dem andern Jungen. Danach brauchte ich das nicht mehr. Ich hörte auf, Streit zu suchen.

In unserer Familie gehörte es sich, CDU zu wählen, weil das eine christliche Partei sei. Zur Erziehung gehörten selbstverständlich Prügel mit einem Stock, der auf dem Schlafzimmerschrank bereitlag. Von Gandhi hörte ich in der ganzen Schulzeit nichts. Stattdessen lasen wir - wenige Jahre nach Ende des furchtbaren Weltkriegs - im Unterricht jahrelang Berichte von Eroberungen, von Feldzügen und Kriegen und lernten Militärvokabular - ohne jegliche kritische Bemerkung dazu.

Konservativ erzogen wie ich war, ging ich nach der Schulzeit zur Bundeswehr. Während dieser Zeit der Ausbildung zum Panzerkommandant Leopard in der Kaserne Augustdorf bei Detmold traf ich mich öfters mit einer entfernten Kusine, die in den Bodelschwingh’schen Anstalten Stadt Bethel ein freiwilliges soziales Jahr machte. Sie war vom schwäbischen Pietismus geprägt. Die Gespräche führten bei mir dazu, dass ich neu über mein Leben nachdachte. Ich entschied mich 1967, bewusst als Christ zu leben. Und da heißt es in der Bergpredigt: Liebet eure Feinde! Am nächsten Tag ging ich zum Kompaniechef, um ihm zu sagen, dass ich den Kriegsdienst verweigerte. Dieser Hüne von Mensch war ein vorbildlicher Offizier. Bei den Märschen rannte er vor uns her. Wer schlapp machte, dessen schweres Gepäck nahm er auf die Schultern, einmal sah ich ihn mit drei Rucksäcken vor uns her marschieren. Jetzt stand ich vor ihm. Ich musste zu ihm hochblicken. Als ich mein Anliegen gesagt hatte, fing dieser Mustersoldat vor mir Würstchen an zu zittern und er sagte: "Sie kommen sofort raus aus meiner Kompanie!" Dieses Zittern des Hauptmanns werde ich nicht vergessen.

Ich war zur Bundeswehr gegangen, weil ich mich der staatsbürgerlichen Pflicht, zum Frieden beizutragen, nicht verweigern wollte. ‘Indem wir deutlich bereit sind’, so hieß es, ‘uns mit aller Konsequenz zu verteidigen, verhindern wir den Krieg durch Abschreckung. Wenn ein deutscher Soldat einen Schuss abgeben muss, hat die Abschreckung nicht funktioniert und die Bundeswehr war politisch falsch.’ Diese Zielsetzung des Friedens war damals die Begründung für die Wehrpflicht.

Als Christ und Kriegsdienstverweigerer wollte ich nun natürlich nicht weniger zum Frieden beitragen, sondern eher mehr.

Ich fragte mich deshalb: Wie kann das geschehen? Wie ist es möglich, Menschen, die bereit sind, Gewalt anzuwenden, ohne Gewalt davon abzuhalten? Diese Frage stellte ich von da ab immer wieder in Gesprächen, während des Studiums und danach, wir diskutierten sie, und immer kam am Schluss heraus: Wenn es drauf ankommt, musst du bereit sein draufzuhauen. Einmal aber sagte mir ein Kollege: Du musst die Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion" lesen, da bekommst du genau die Antwort, die du suchst. Aha: "Gewaltfreie Aktion"! Das klang interessant. Ich hatte es noch nicht gehört. Ja, ich wollte keine Gewalt anwenden. Ich besorgte mir Hefte davon und las mit großer Neugier vor allem Berichte, etwa wie in Lateinamerika von Acker und Weide vertriebene Bauern nach einigen Aktivitäten ihr Land zurückerhielten. Mir leuchtete allerdings nicht ein, dass das Zurückerhalten des Landes eine Folge der vorherigen Aktivitäten gewesen sein soll. Ja, es wurden weder der eigentliche Landräuber noch seine ‚Sicherheitskräfte’ direkt angegriffen, also Gewaltfreiheit war gegeben. Aber was da als ‚Erfolg’ hingestellt wurde, konnte genauso gut Zufall gewesen oder ganz andere Gründe konnten dafür wichtig gewesen sein. Die Tatsache, dass die Aktivitäten gewaltfrei waren, sollte der Grund für das Zurückgeben des Landes gewesen sein? Das leuchtete mir nicht ein. Aber so hieß die Sache.

Bei anderen Berichten ging es mir genauso. Andere Menschen nicht anzugreifen, also Gewaltfreiheit, genügt nicht, um zu einem gerechten Frieden zu kommen. An dieser meiner Überzeugung änderten die Berichte nichts.

Ich suchte und fragte weiter. Ich will es wissen! Es muss Möglichkeiten geben. Wenn Gott will, dass "Gerechtigkeit und Frieden sich küssen", wie es im Psalm heißt, und dass die Schwachen geschützt werden, die Witwen und Waisen und Fremden, wie es immer wieder in der Bibel heißt, wir denken heute auch an die Kinder und die Alten und weitere, besonders durch Krieg gefährdete Gruppen - wenn Gott ihren Schutz will, dann muss es Möglichkeiten geben, dem Schädigen, dem Unrecht wirksam entgegenzutreten, ohne selbst menschlichen Schaden zurichten.

1977 veröffentlichte der Weltkirchenrat - analog zum Antirassismusprogramm - die Idee zu einem Programm gegen den Militarismus. Darauf aufbauend wurde in Stuttgart die Aktion "Ohne Rüstung Leben" ins Leben gerufen. Sie baut auf einer Selbstverpflichtung auf - das fand ich sehr passend. Zwei Teile hat die Selbstverpflichtung: Ohne Rüstung zu leben und in unserem Staat dafür einzutreten, dass Frieden ohne Waffen politisch entwickelt wird. Das war ganz in meinem Sinne. Mir war klar: Dieser zweite Teil erfordert, dass Menschen sich zusammentun. Politische Arbeit geschieht nicht alleine im Kämmerlein. Zuhause hatte ich gelernt "Politisch Lied, ein garstig Lied". Jetzt dagegen unterschrieb ich und gründete also in Essen eine Ohne Rüstung Leben-Gruppe. Wir informierten uns über friedenspolitische Zusammenhänge und nahmen an den aufkommenden Demonstrationen teil. Bis zu 50 Personen kamen zu unseren Treffen. Einige der Hinzugekommenen wussten mehr über gewaltfreie Aktion als ich. Meine Frage konnten sie jedoch nicht beantworten. Wie kann das überhaupt gehen, dass Menschen, die bereit sind, anderen Schaden zuzufügen, auf friedliche Weise davon abgehalten werden?

Beim Kirchentag in Hamburg 1981 besuchte ich nur solche Veranstaltungen, bei denen ich mir eine plausible Antwort auf meine Frage erhoffte. Und ich wurde fündig:

Hildegard Goss-Mayr erklärte vor 5000 Zuhörenden mit Beispielen, die sie selbst erlebt hatte: Wenn es gelingt, diejenigen Personen, die Unrecht tun oder es stützen, in ihrem Gewissen anzusprechen, dann wird ihre Motivation dazu bröckeln. Das mochte in der Praxis schwierig sein, aber es leuchtete mir ein.

Hildegard Goss-Mayr empfahl, unter anderem Gandhis Autobiographie zu lesen. In den Sommerferien verschlang ich das Buch. Ich hatte ja einen Zugang dazu von Hildegard Goss-Mayr bekommen. Es war eine inspirierende Lektüre. Ich fastete zum ersten Mal vom Hiroshima- zum Nagasaki-Tag. Das war ein erhebendes Erlebnis.

Ich besuchte in Frankreich die von dem Gandhischüler Lanza del Vasto gegründete Arche - wunderbares Erleben von Freiheit und Liebe: Freiheit, Gutes zu tun und Schädliches im eigenen Leben, in der ganzen Lebensweise wegzulassen. Tief spirituell begründet, die Arche, ohne Dogmatismus, was nun die non-violence unbedingt von dir fordern würde - nein. Dagegen die eigene Entscheidung herausfordernd: Was kann ich Gutes tun? In Liebe zu allen Wesen und - das erlebte ich hier zum ersten Mal - mit liebevollem Umgang mit dem Islam wie dem Buddhismus, mit Atheist_innen, Hindus wie auch jüdischen und christlichen Menschen, mit allen Weltanschauungen. Ich bin inzwischen Mitglied der Arche. Ich treffe mich daher oft auf dem Friedenshof bei Hannover mit anderen Arche-Gefährten. Vorgestern bin ich von meinem vierten Besuch der Arche in Südfrankreich zurückgekommen. Das Zusammensein dort war wieder sehr schön. Es hat mich innerlich gestärkt und inspiriert.

Ich springe jetzt zeitlich und teile ein kleines Ergebnis meiner Forschungsarbeit mit: Der niederländische Sozialanarchist und Atheist Bart de Ligt lebte bis 1938. Er hat ein Gütekraft-Konzept entwickelt und erfolgreich angewandt. Er war kränklich. Er fuhr in die Schweiz und wurde in der Höhensonne der Alpen gesund. Menschen, die fähiger werden möchten, gütekräftig zu handeln, empfahl er: Die Nähe von Menschen zu suchen, die Gütekraft in sich entwickelt und viel Erfahrung in gütekräftigem Handeln haben, und sich von ihnen bestrahlen zu lassen wie von der Höhensonne in den Alpen. So habe ich mich bei dem Besuch eine Woche lang in der Arche-Gemeinschaft La Fleyssière bestrahlen lassen.

Nun weiter nach meinem ersten Arche-Besuch: Ich war neugierig und las jede Menge Bücher und Schriften zu Gewaltfreiheit. Ich nahm an Aktionen teil. Bei einer Postkartenaktion an Bundeskanzler Helmut Schmidt, er solle keine Panzerverkäufe nach Saudi-Arabien genehmigen, machte ich eine schöne Erfahrung: Die 3500 Mark, die ich vorgestreckt hatte, kam in wenigen Wochen nach einem Solidaritätsaufruf wieder herein. Ich bin seitdem überzeugt: Für gute Aktionen findet man das Geld.

Ich merkte, dass Frieden damit beginnt, bei sich selbst anzufangen.

Was trage ich zum Unfrieden oder gar zum Krieg bei?

Ja, das Soldatsein zu verweigern, ist deshalb ein wichtiger Beitrag.

Mennoniten machten mir darüber hinaus bewusst, dass wir alle durch unsere Steuern einen großen Beitrag zum Krieg leisten. Ich hatte verstanden: Selbst beginnen bringt weiter, nicht zuerst Forderungen stellen und auf andere warten. Ich wurde wie andere zum Kriegssteuerverweigerer. Praktisch geht das so heute nicht mehr. Denn einerseits habe ich kein Auto mehr, und andererseits wenn ich eins hätte, muss die KFZ-Steuer, von der ich damals einen Teil nicht zahlte, heute unbar abgebucht werden. Wer beruflich selbständig ist, kann Einkommensteuer verweigern, wie es einige Freundinnen und Freunde tun. Auch die Gewissensfreiheit an diesem Punkt vor Gericht einklagen ist ein Weg - bisher ohne Erfolg. Ich war Berufsschulpfarrer, bei der Kirche angestellt. Ich brachte die Aktion Steuern zu Pflugscharen voran. Deren Ziel ist, die Kirche, die ja Kriegsdienstverweigerer unterstützt, als meinen Arbeitgeber dazu zu bewegen, auch Kriegssteuerverweigerung als christliches Zeugnis anzuerkennen und zu unterstützen.

Einige weitere Aktionen: In Essen gab es jedes Jahr eine Militärausstellung in der Messe, bei der auch Kindern erlaubt wurde, auf Tötungsmaschinen herumzuklettern. Wir gründeten als Ohne Rüstung Leben-Gruppe ein Aktionsbündnis zur Vertreibung der Bundeswehr aus der Messe. Wir schrieben Briefe und Eingaben, machten Unterschriftensammlungen, Info-Veranstaltungen, zeigten eine Ausstellung zur Sozialen Verteidigung, feierten einen thematischen Gottesdienst, wir machten Aktionen auf der Straße, fasteten im Zelt vor der Messehalle, dort gab es ein Die-In, wir behinderten die Vorführfahrt eines Panzers. Durch dies alles und durch gute Pressearbeit machten immer mehr Menschen mit. Es gelang, dass der Stadtrat weitere Ausstellungen verhinderte. Seit nunmehr 33 Jahren kommt die Bundeswehr nicht mehr. Die offizielle Begründung des Stadtrates enthielt keins von unseren Argumenten, aber war es eine wunderbare Erfahrung der Stärke unseres Vorgehens.

Wir bildeten Bezugsgruppen und nahmen an der Blockade des Bonner Verteidigungsministeriums teil, um zur Verhinderung der Mittelstreckenstationierung beizutragen.

Als 1984 die Mittelstreckenraketen dennoch auch in Deutschland stationiert wurden mit dem Kommentar des Bundeskanzlers "Wir machen Deutschland sicherer" oder so ähnlich, war dies ein schlimmer Schlag für mich. Ich wurde depressiv. Viele quälende Wochen lang. Ich ging nicht in Behandlung, aber überlegte das. Neuen Mut gab mir dann die überraschende Aussicht, Trainer für gewaltfreie Aktion zu werden, ich nahm an einem Training für Trainer teil.

Ich sammelte Erfahrungen in vielen Bereichen. Wolfgang Sternstein - der ja hier wohlbekannt ist - hatte die EUCOMmunity-Gruppe gegründet. Ich schnitt mit ihr den Zaun zum US-Hauptquartier EUCOM in Stuttgart auf, um innen gegen Atomwaffen zu demonstrieren. Wir wollten so einen Prozess provozieren, in dem die Rechtswidrigkeit der dortigen US-Aktivitäten festgestellt werden sollte. Vorher war ich oft als Seelsorger in verschiedenen Gefängnissen gewesen. Jetzt erlebte ich ein Gefängnis auch mal als Gefangener. In Stuttgart schubsten mich zwei Polizisten gegen meinen Protest, weil man mich nicht vorher mit einem Anwalt telefonieren ließ, in die Zelle. Die Tür fiel hinter mir zu. Der Schlüssel schloss geräuschvoll ab. Ich saß drin. Das rechtswidrige Verhalten der Stuttgarter Polizei tat weh. Ich war sehr aufgeregt. Ich war nicht in der Lage gewesen, die Beamten so anzusprechen, dass sie sich auch nur an das Gesetz hielten. All dies waren wichtige Erfahrungen für mich.

Meine Frage blieb.

Mit der Solidarischen Kirche im Rheinland und dem Versöhnungsbund wirkte ich bei Aktionen gegen die Apartheid vor der südafrikanischen Botschaft mit. Anketten. Singen. Brief mit vielen Unterschriften überreichen. Ich habe dort mehrmals in der Öffentlichkeit Polizisten, die rechtswidrig das Botschaftsgelände betraten - das dürfen deutsche Polizisten ja nicht - oder die unseren Gottesdienst störten, mit Klarheit und Festigkeit zurechtgewiesen, sich an das Gesetz zu halten - und sie taten es.

Mit dem Leiter der Berufsschule, an der ich als Pfarrer tätig war, gab es schwere Konflikte. Er förderte nicht, sondern behinderte den Religionsunterricht auch der Kollegen. Weder ich noch kirchenleitende Hilfe schaffte es, ihn umzustimmen. Die dauernde Belastung blieb, sodass ich lange Zeit mit unguten Gefühlen zur Arbeit ging.

Meine Frage blieb.

Bei Trainings in gewaltfreier Aktion erfuhr ich im Rollenspiel, wie gut es sich anfühlt, als Polizist auf widerspenstige Blockierer draufzuhauen. Ich habe geübt, mich als Blockierer wegtragen zu lassen und dabei den Polizist*innen direkt in die Augen zu schauen. Vielleicht würden sie dann weniger brutal zupacken. Aber wieso kommen wir durch diese geübte Gewaltfreiheit auf der Straße dem politischen Ziel näher, um dessen willen wir auf der Straße sitzen? Erregen nicht Bilder von brutal prügelnden Polizisten in der Öffentlichkeit mehr Empörung und damit Aufmerksamkeit - vielleicht auch auf die Sache, um die es geht? Wie denn kommen wir einem politischen Ziel durch Gewaltfreiheit wirklich näher? Wie funktioniert das? Worauf kommt es dabei an? Die Antwort auf diese Fragen schien auch in der Bewegung, auch unter den Insidern nicht klar. Ich schotterte im Wendland gegen Atommülltransporte. Ist das unseren Zielen förderlich? Auch die Ausbildung zum Trainer für gewaltfreie Aktion und weitere Fortbildungen wie Marshall Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation, mein Lesen und meine Aktionserfahrungen brachten mir nicht die klare Antwort, die ich brauchte.

Ab 2004 ermöglichte mir die Deutsche Stiftung Friedensforschung, dass ich die Antwort auf folgende Weise suchte:

Ich untersuchte die Antworten von Personen, die eigene Konzepte für solches Vorgehen entwickelt und diese erfolgreich angewandt haben. Ich rekonstruierte also die Antwort, die in Gandhis Aktionen steckt. Damit habe ich die Antwort eines Hindus. Ich rekonstruierte außerdem die Antwort, die in den Aktionen der Christin Hildegard Goss-Mayr steckt. Und ich rekonstruierte schließlich die Antwort, die in den Aktionen des Atheisten Bart de Ligt steckt. In einem vierten Schritt habe ich sodann diese Antworten verglichen, die Gemeinsamkeiten herausgearbeitet und geschaut, ob es möglich ist, eine weltanschaulich unabhängige Antwort zu beschreiben. Ja, es war möglich. Darüber habe ich mich sehr gefreut und die Arbeit in vier Bänden veröffentlicht. (siehe http://www.martin-arnold.eu/?page_id=319 )

Ich will nun in verkürzter Form die sehr allgemeine Antwort nennen:

Bei den erfolgreichen Aktivitäten gingen die Menschen von folgenden Annahmen aus: In jedem Menschen steckt eine Kraft und zumindest unbewusst eine Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit, zu Güte, allen gegenüber. Es ist das Gewissen oder allgemeiner: die Gütekraft-Potenz (im philosophischen Sinne: eine nicht immer realisierte Möglichkeit). Sie beruht auf der Verbundenheit aller. Wir können sie - einzeln und kollektiv - in uns entdecken, um sie bewusster anzuwenden.

Wenn Menschen wahrnehmen, wie andere aus dieser Kraft und mit der ihr entsprechenden Haltung der Güte handeln, kommt es bei ihnen zu einem innerlichen Mitschwingen. Dies geschieht bei allen, weil wir alle diese Potenz in uns haben.

Gestern wurden die neuen Friedensnobelpreisträgerinnen bekanntgegeben. Als ich zum ersten Mal von Malalas Schicksal und den wundervollen Aktivitäten dieser jungen Frau erfahren habe, habe ich solches Mitschwingen, solches Berührtsein von ihrem gütekräftigen Tun stark gespürt.

Bloße Forderungen an andere regen kein Mitschwingen an. Das Mitschwingen bei anderen wird durch vorangehendes Handeln von bereits engagierten Einzelnen oder Gruppen in Gang gesetzt. Es verwirklicht die angestrebte Verbesserung bereits im Ansatz. Es kann in Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand, der abgebaut werden soll, bestehen, z.B. Kriegsdienstverweigerung, oder in konstruktivem Handeln, etwa in sozialem Friedensdienst, Versöhnungsarbeit.

Handeln aus Güte, aus der Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit, nenne ich gütekräftig. Güte kann mit methodischer Bewusstheit verbunden werden zu einem Gütekraft-Konzept. Zwei Beispiele: Marshall Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation und Johan Galtungs Transcend-Methode.

Gandhi: "Wir wollen uns nach der leisen Stimme des Herzens in unserem Innern richten und uns nicht davon abhängig machen, ob andere dasselbe tun. Dann strahlen wir Güte auf alle aus und sie strahlen sie zurück."

Gütekräftiges Handeln wirkt durch das Mitschwingen ansteckend.

Ob das Mitschwingen dann zu gütekräftigem Handeln führt, hängt von weiteren Einflüssen und den jeweiligen Umständen ab. Auch unsere Fähigkeiten, wie wir uns "nach der leisen Stimme des Herzens in unserem Innern richten", sind verschieden.

In Trainings und Empowerment-Seminaren für Gütekraft-Aktionen / gewaltfreie Aktionen können wir unsere Fähigkeit zu bewusstem gütekräftigen Handeln entwickeln. Dafür ist Persönlichkeitsbildung wichtig, die HGM so ausdrückte:

"Es kommt darauf an, wie viel Raum man der Liebe in sich gibt und dass man sie in sich wachsen lässt."

Vor allem zum Abbau großer Missstände ist es unabdingbar, der Situation entsprechende, geeignete Methoden zu lernen und anzuwenden. Dazu gehören Analyse-Methoden, die den Missstand eingrenzen, die Stützen des Missstands aufzeigen und deren Abbau nahelegen.

Noch kurz zwei Gedanken zur Bedeutung des Erfolgs:

Keine Vorgehensweise hat eine Erfolgsgarantie.

Einige von euch und Ihnen kennen die Forschungsergebnisse von Erica Chenoweth und Maria Stephan: In den letzten hundert Jahren waren gewaltlose oder gewaltarme Aufstände und Kampagnen für mehr Demokratie prozentual um das Doppelte erfolgreicher als Aufstände, die mit Waffengewalt begonnen wurden. Solche Erfolgsmeldungen können uns natürlich ermutigen. Aber wir müssen da vorsichtig sein. Es gibt keine Erfolgsgarantie. Uns innerlich vom Erfolg abhängig zu machen, würde uns unfrei machen, würde uns dazu bringen, etwas erzwingen zu wollen. Das meinte Gandhi, als er vom "Verzicht auf den Lohn des Handelns" sprach. Ich zitiere:

"Verzicht auf den Lohn bedeutet keineswegs Gleichgültigkeit gegenüber dem Ergebnis. Bei jeder Handlung muss man wissen, welches Ergebnis man erwartet; man muss die Mittel zum Erreichen des Ergebnisses kennen und die Fähigkeiten, die dafür notwendig sind. (GC 46: 172)"

Alles Geeignete für das erwünschte Ergebnis tun - und dabei den Erfolg Gott überlassen.

Tun wir es also nicht für den Erfolg?

Gütekräftiges Handeln hat seinen Sinn in sich. Denn es besteht aus wohlwollendem und gerechtem Handeln. Selbst wenn es nur ansatzweise geschieht und in ganz kleinem Maße, ist es sinnvoll. Es ändert die Welt. Sie ist danach nicht mehr wie vorher. Mehr Menschlichkeit, mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit, mehr Frieden machen auch in kleinster Münze einen wichtigen Unterschied.

Ich komme zum Schluss.

Politisch und pädagogisch hat mich zu meinem Engagement motiviert, als ich als Kind erfuhr, dass Deutschland zwei Weltkriege angefangen hat. Was? Unser eigenes Volk hat das gemacht? Da muss etwas schief gelaufen sein. Da muss etwas zurechtgebracht werden. Jedenfalls muss auch im Erziehungssystem etwas nicht stimmen, wenn das nicht verhindert wurde, sagte ich mir als Jugendlicher.

Psychologisch mag für mein Friedensengagement auch mein Vater eine Rolle spielen: Er hat mich in bester Absicht nach, wie wir es heute nennen, schwarzer Pädagogik erzogen. Meine Kriegsdienstverweigerung hat er nicht verstanden. Vielleicht ist mein Engagement der Versuch einer weiterführenden Antwort an meinen Vater und an die, die die so denken wie er.

Persönlich ermutigt mich immer wieder die große Bereicherung, die ich durch die Beschäftigung mit diesen Themen erfahre. Besonders wichtig ist mir dabei, dass es - anders als viele gewohnt sind - um unsere freien Entscheidungen aufgrund unserer Fähigkeiten und um die Entwicklung der Kräfte in uns und um uns geht. Nicht die Einhaltung einer Norm - etwa Gewaltfreiheit - oder das Anstreben eines Ideals - etwa Gewaltlosigkeit - ist vorrangig wichtig. Wir würden immer unzureichend und fehlerhaft und klein dabei bleiben. Vielmehr sind die Kräfte des Wohlwollens und der Gerechtigkeit bereits in uns allen vorhanden. Große Kräfte! Wir wenden sie längst im Alltag an wie meine Schwester Ute. Oder hier im Lebenshaus. Aber auch fast unscheinbar in den Familien. Wir können sie in uns einzeln und in den Gemeinschaften, in denen wir leben, entdecken, auch in unserer eigenen deutschen Geschichte - die Ereignisse in Leipzig vor 25 Jahren stehen neben vielen anderen Erfahrungen bereits im 20. Jahrhundert. Wir können diese Kraft bewusst entwickeln und aus dem Geschehenen weiter lernen, einzeln und gemeinsam.

International finde ich besonders die Nonviolent Peaceforce wichtig, und Gruppen, die ähnlich arbeiten. Ich möchte sie unterstützen, sodass sie zu großen Verbänden entwickelt werden können, die fähig sind, weltweit gütekräftig für Gerechtigkeit und Frieden zu arbeiten.

Dr. Martin Arnold, geb. 1946, arbeitete bis 2010 als Evangelischer Berufsschulpfarrer in Essen. Aus konservativem Elternhaus stammend, verweigerte er vor dem Studium als Soldat den Kriegsdienst, gründete später u. a. Initiativen für weltweite Gerechtigkeit (Tansania, Kolumbien), für Frieden (Essener Ohne-Rüstung-Leben-Gruppe, Aktion Steuern zu Pflugscharen) und für Nachhaltigkeit (Mobilität~Werk~Stadt). Er wirkte bei vielen gewaltfreien Aktionen mit. An der Universität Marburg hielt er 1999 bis 2005 als Lehrbeauftragter und Mitglied im Marburger Zentrum für Konfliktforschung im Studiengang Friedens- und Konfliktforschung Seminare zur Gütekraft. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung förderte sein Forschungsprojekt zur Wirkungsweise aktiver Gewaltfreiheit (2010 Promotion). Er ist u.a. Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund - Deutscher Zweig und im Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung.

 

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Veröffentlicht am

02. November 2014

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