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Leonardo Boff: Ritus und Spiel: in Vergessenheit geratene Dinge

Von Leonardo Boff

Während der Wochen der Fußball-WM erlebten wir Momente voller Riten, Zelebrationen und Symbole. Die Eröffnungsfeier war eine Abfolge von Riten und Symbole, die mit Fußball in Verbindung standen, vor allem bei der Vorstellung der Teams und beim Singen der Nationalhymnen. Eine von Zelebrationen geprägte Atmosphäre erfüllte die Innenstädte, schmückte die Straßen und Fenster der Häuser.

Es geht uns hier um das Thema Riten und Zelebrationen, deren humane und soziale Bedeutung nicht immer bedacht wird und die oftmals in Vergessenheit gerät. Erst einmal gibt es ohne Riten keine Zelebration, denn eine Zelebration bewegt sich in der symbolischen Welt der Riten und Symbole. In einer Zelebration essen und trinken wir nicht deswegen, um unseren Hunger oder Durst zu stillen. Dafür essen wir zu Hause oder im Restaurant. Vielmehr symbolisiert dieses Mahl die Freundschaft und die Freude über das Zusammensein und darüber, gemeinsam an einem Ereignis, wie z. B. einem Fußballspiel, teilzunehmen. Wenn in einer Zelebration gesungen wird, geht es nicht um die Darbietung von musikalischer Kunst, sondern um eine rituelle Ausdrucksweise von Begeisterung und existentieller Erleichterung. Und wie wir feiern und trinken, wenn unser Lieblings-Team ein Spiel oder eine Meisterschaft gewinnt!

"Was ist ein Ritus?", fragte der Kleine Prinz den Fuchs, den er im berühmten gleichnamigen Buch von Antoine de Saint-Exupéry gefangen hatte. Und der Fuchs gab zur Antwort: "Es ist etwas in Vergessenheit Geratenes. Es ist das, was einen Tag vom andern unterscheidet, eine Stunde von den andern Stunden. Es gibt zum Beispiel einen Brauch bei meinen Jägern. Sie tanzen am Donnerstag mit den Mädchen des Dorfes. Daher ist der Donnerstag der wunderbare Tag. Ich gehe bis zum Weinberg spazieren. Wenn die Jäger irgendwann einmal zum Tanze gingen, wären die Tage alle gleich und ich hätte niemals Ferien" (S. 27).

Ein Ritus ist das, was eine Zelebration von anderen Tagen unterscheiden lässt. Doch er gewinnt nur an Ausdruckskraft, wenn es Vorbereitung und innere Teilnahme gibt, wie dies vor einem Fußballspiel zwischen zwei berühmten Teams der Fall ist. Aus diesem Grund rät der Fuchs dem Kleinen Prinzen: "Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommen. Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein … Wenn du aber irgendwann kommst, kann ich nie wissen, wann mein Herz da sein soll … Es muss feste Bräuche geben." (S. 71)

Nur mit dem Ritus kann es eine Zelebration geben, denn dann verliert alles seine natürliche Konsistenz und nimmt zutiefst menschliche symbolische Werte an. Dinge verlieren ihre Aktualität (sind nutzlos), um ihre wahre Bedeutung zurückzugewinnen. Der Klang der Schritte würde den Fuchs niemals erschrecken, er wäre wie Musik, die ihm die Nähe des Kleinen Prinzen ankündigt. Die Weizenfelder erinnern ihn nicht an Brot (Aktualität), sondern an die blonden Haare des Kleinen Prinzen (Bedeutung).

Abgesehen von der zuvor genannten Bedeutung ist die Präsenz eines Ritus’ im Allgemeinen vor allem in religiösen Zelebrationen stark spürbar, wie z. B. an Hochzeiten oder Priesterweihen. Der Ritus bringt die Bedeutung der Dinge besser zum Ausdruck als die Sprache es vermag, die "voller Missverständnisse" ist, wie der Fuchs sagt. Deshalb ist ein Ritus dann besonders ausdrucksvoll, wenn er aus der Tiefe unseres Seins kommt, aus unseren tiefsten Archetypen, wo sich unsere persönliche Identität befindet.

Jeder Mensch, selbst die säkularste und rationalste Person, ist im Sinne ritueller und symbolischer Ausdrucksweise mythisch. Menschen, die ihr innerstes Selbst, ihre Freude, ihre Traurigkeit, ihre Leidenschaft oder ihre Liebe zum Ausdruck bringen möchten, bedienen sich nicht kalter Konzepte, sondern Metaphern oder Lebensgeschichten, die wahre Mythen sind. Durch sie kommt das Mysterium der persönlichen Lebensreise jeder Person zum Vorschein, ohne dass ihm Gewalt angetan würde. Riten und Zelebrationen verlangen immer nach Ernsthaftigkeit und nach Konzentration.

Alles, was wir zum Thema Riten besprachen, hat viel mit dem Spiel zu tun. Ich denke dabei nicht an das Spiel, das zu einem Beruf und zu großem internationalen Business geworden ist wie Fußball u. a. Das ist eher Sport als ein Akt des Spiels. Spiel, wie man es im Volk vorfindet, auf improvisierten Plätzen oder am Strand, hat keinen praktischen Nutzen, ist aber Träger von tiefer Bedeutung als Ausdruck von Lebensfreude und der Freude, gemeinsam eine schöne Zeit zu verbringen.

Es gibt eine alte Tradition der zwei Schwesterkirchen, der lateinischen und der griechischen, die von Deus ludens, Homo ludens und sogar von Ecclesia ludens spricht (vom spielerischen Gott, dem spielerischen Menschen und der spielerischen Kirche). Sie sahen die Schöpfung als ein großes Spiel einer spielerischen Gottheit: Gott warf von einer Seite die Sterne, von der anderen Seite die Sonne, darunter die Planeten und, voller Zärtlichkeit, die Erde in der genau passenden Distanz zur der Sonne, sodass es auf ihr Leben geben kann. Die Schöpfung ist eine Art alles umfassende Fröhlichkeit Gottes, ein Theatrum Gloriae Dei (ein Theater der Ehre Gottes).

In einem schönen Gedicht des großen Theologen der Griechisch Orthodoxen Kirche, dem Hl. Gregor von Nazianz (330-390) heißt es: "Der erhabene Logos spielt, indem er den ganzen Kosmos aus purem Vergnügen und auf jede erdenkliche Weise mit den unterschiedlichsten Bildern ziert." In der Tat ist das Spiel das Werk der kreativen Fantasie, wie man es bei Kindern sieht: Es drückt zwanglose Freiheit aus, indem es eine Welt ohne praktischen Nutzen schafft, frei von Profit und persönlichen Vorteilen. Einer der besten Theologen des 20. Jahrhunderts, der Bruder eines weiteren berühmten Theologen, der mein Professor in Deutschland war, Karl Rahner, empfahl dringend: "Da Gott vere ludens (wahrhaft spielerisch) ist, müssen alle vere ludens sein".

Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass unser Leben auf der Erde unbeschwert und angstfrei sein könnte, insbesondere wenn es durch die heitere Gegenwart Gottes in Seiner Schöpfung verwandelt wird. Also brauchen wir uns nicht zu fürchten. Es ist die Angst, die uns der Freiheit beraubt. Das Gegenteil von Glaube ist nicht so sehr Atheismus als vielmehr Angst, vor allem die Angst vor Einsamkeit. Glauben zu haben, mehr noch als einer Sammlung von Glaubenswahrheiten anzuhängen, heißt glücklich zu sein, sich in der Hand Gottes geborgen zu fühlen und in der Lage zu sein, vor dem Göttlichen wie ein Kind zu leben, das in völliger Hingabe spielt.

Leonardo Boff ist Theologe und Philosoph; Mitglied der Erd-Charta Kommission

Quelle:  Traductina , 24.07.2014.

Veröffentlicht am

27. Juli 2014

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