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Ukraine: Den Crash-Test absagen

Warum paktieren die USA und die EU mit einer Interimsregierung, der das Land längst entglitten ist. Die Wahlen am 25. Mai werden daran kaum etwas ändern

Von Lutz Herden

Russland wolle den Dritten Weltkrieg auslösen, tönte kürzlich der ukrainische Übergangspremier Arseni Jazenjuk. So haben nicht einmal Sowjets und Amerikaner übereinander geredet, als sie sich im Kalten Krieg mit ihrem Kernwaffen gegenseitig vernichten konnten. Und das mehrfach. Sie wussten, Weltkriege kann niemand mehr zählen, falls man sich nicht unter Kontrolle hat.

Der vom Westen anerkannte Regierungschef der Ukraine aber darf reden, als ob er nicht ganz bei Troste wäre. Keine EU-Regierung, schon gar nicht das Weiße Haus halten es für nötig, sich von dieser Unterstellung zu distanzieren. Sie geht weit über das Schreckensszenario eines Bürgerkrieges in der Ukraine hinaus und halluziniert, dass dieser Konfliktherd zum globalen Schlagabtausch führt, der einen ganzen Kontinent und möglicherweise noch mehr ins Verderben reißt. Der Eindruck, dass in Kiew Fanatiker statt verantwortungswilliger Politiker zum Schaden eines Landes regieren, lässt sich weniger denn je entkräften. Wie kann es sein, dass hundert Jahre, nachdem der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist und alle Welt versichert, man habe daraus gelernt, durch unprofessionelles Gerede eine Katastrophe heraufbeschworen werden darf?

Wunder Punkt

Noch beteuern die USA, die NATO und EU, man wolle keinen militärischen Konflikt mit Russland. Warum dann nicht endlich mit der unseligen Praxis brechen, beim Ukraine-Konflikt die Welt in Gut und Böse einzuteilen und Russland als alleinigen Übeltäter zu brandmarken? Weshalb neue Sanktionen verhängen, von denen der frühere US-Außenminister Henry Kissinger zu recht sagt, sie seien nicht Ausdruck einer Strategie, sondern des Fehlens einer Strategie? Immerhin bekennt Außenminister Frank-Walter Steinmeier, er habe Verständnis für Ängste in Deutschland vor einem Krieg. Leider habe niemand vorhersehen können, "wie schnell wir in die schwerste Krise seit Ende des Kalten Krieges geschlittert sind". Geschlittert? Das klingt so, als sei man zufällig und völlig schuldlos in diesen Schlamassel geraten. Zutreffender wäre der Bescheid, dass der Westen - besonders Deutschland, das sich noch vor kurzem viel auf sein partnerschaftliches Verhältnis mit Moskau zugutehielt - sehr wohl wusste, was es bedeutet, wenn Russland durch einen putschartigen Machtwechsel in Kiew herausgefordert wird. Wie sich Russland seinerseits darüber im Klaren gewesen sein dürfte, was es hieß, diese Herausforderung anzunehmen. Auch da sind Kontrollverluste programmiert. Wie das die Gefangenennahme der OSZE-Beobachter anzeigt, die allerdings in fragwürdiger Mission unterwegs waren. Weshalb zogen - bis auf den inzwischen freigelassenen Schweden - allein Offiziere aus NATO-Staaten durch eine Region, die zum Zentrum des Widerstandes gegen Kiew wurde? Das wirkt eher provokativ als professionell und nährt den Spionageverdacht durchaus.

Die Ostukraine lässt sich kaum mit der Krim vergleichen. Doch deutet vieles darauf hin, dass sich die pro-russischen Aufständischen in Donezk, Lugansk oder Slawjansk durch die russische Annexion der Halbinsel zum zivilen wie bewaffneten Ungehorsam gegenüber einer unerwünschten Regierungsautorität in Kiew ermutigt fühlten. Was sich in jener Region an Selbstermächtigung abspielt, kann Moskau schwerlich eindämmen, sollen Solidaritätsbekenntnisse von Wladimir Putin gegenüber der "Russischen Welt", wie es in der Krim-Rede am 17. März hieß, nicht an Glaubwürdigkeit verlieren. Vom Prestigeverlust für den Präsidenten ganz zu schweigen. Dass die Amerikaner diesen wunden Punkt ausreizen, indem sie Moskau beharrlich auffordern, "die Separatisten" zu zügeln, resultiert aus der Konfrontationslogik, die den Ukraine-Konflikt von Anfang an beherrscht hat.

Es gab vor dem Janukowytsch-Sturz Warnungen zuhauf, einen fragilen und bankrotten Staat vor existenziellen Zerreißproben zu bewahren. Ebenso wenig fehlt es im Augenblick an Analysen - unter anderem aus dem NATO-Hauptquartier -, die der Kiewer Übergangsregierung ein blamables Zeugnis ausstellen: Die sei "offenkundig unwillig und unfähig, ernsthaft die Schlüsselfragen des künftigen Staatsaufbaus der Ukraine zu klären". Man sei auf dem Weg zum "failed state". Der freilich wäre gegenüber Kreditbürgen wie dem IWF oder der EU alles andere als satisfaktionsfähig.

Pingpong mit Kiew

Trotzdem wird zwischen Kiew und Washington weiter Pingpong gespielt, als sei das die Lösung. Kaum hatte US-Vizepräsident Joe Biden vor einer Woche die ukrainische Hauptstadt wieder verlassen, wurde die Anti-Terror-Operation gegen den "pro-russischen Mob", "Banditen" und "Kriminelle" in der Ostukraine fortgesetzt. Es gab gleich mehrere Tote.

Sucht Kiew eine militärische Lösung, läuft das nicht nur auf eine blutige Tragödie hinaus. Es wäre zugleich der sicherste Weg, den Osten und Süden endgültig zu verlieren. Man könnte meinen, eine Administration ohne demokratisches Mandat, von antirussischen Obsessionen getrieben und den ökonomischen Ruin im Nacken kann gar nicht anders, als die Dinge derart auf die Spitze zu treiben. Ihr steht eben das Wasser bis zum Hals. Nur welchen Sinn haben dann die Wahlen am 25. Mai? Was bis dahin auch immer im Osten passiert - ein regulärer Verlauf dieses Votums scheint so gut wie ausgeschlossen. Ohnehin gibt es derzeit keine politische Persönlichkeit in der Ukraine, die beide Teile des Landes repräsentieren könnte. Was nützt dann diese Abstimmung, von der man erwarten muss, dass sie die ukrainische Gesellschaft weiter polarisiert? Sinnvoller wäre es, bei der sowieso fälligen Verfassungsreform einen Wahlmodus zu verankern, der sich dem West-Ost-Schisma stellt. Sollte man vielleicht in zwei autonomen Wahlgebieten über zwei Präsidenten entscheiden, die ein konföderatives System führen? Warum kein Moratorium verhängen, das Wahlen erst erlaubt, wenn es eine konstitutionelle Innovation des ukrainischen Staates gegeben hat, die das Resultat einer überparteilichen Mediation der OSZE sein könnte?

Wenn solche Vorstellungen wie futuristischer Wahn klingen, hat das sehr viel damit zu tun, dass die USA offenbar entschlossen sind, sich den Bruch mit Russland nicht mehr nehmen lassen. Die Konfrontation derart zu verschärfen, dass sie irreversible Züge annimmt, entschädigt Barack Obama für mehr, als ihm lieb sein sollte: einen Afghanistan-Rückzug, der an Vietnam erinnert, den abgesagten Militärschlag gegen Syrien, die desaströse Palästina-Diplomatie, den ausbleibenden Regime-Change im Iran. Man wartet förmlich darauf, dass Russland - wie einst die Sowjetunion - zum "Reich des Bösen" erklärt wird, dem ein amerikanischer Präsident die Stirn bietet. Diese Aufwallungen als Ausdruck politischen Selbstbewusstseins produzieren Feindbilder, die stärker sind, als Russland je schwach sein wird. Und auch Putin hat innenpolitische Probleme en masse, dass er es sich kaum leisten kann, übermäßig konziliant zu sein.

Wird die Eskalationslogik nicht durchbrochen, dann ist eine Lösung der Ukraine-Krise weniger eine Frage der Vernunft als des strategischen Kalküls und des Pokerns mit Risiken.

Quelle: der FREITAG vom 02.05.2014. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

02. Mai 2014

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