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Uri Avnery: Ein Oslo-Verbrecher

Von Uri Avnery

DER TOD Ron Pundaksii http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/18909 . "Einer der profiliertesten israelischen Friedensaktivisten, Ron Pundak, ist heute Morgen, 11.4.14, im Alter von 59 Jahren gestorben, wie der israelische Rundfunk meldete. Er erlag einem Krebsleiden. […]", eines der ursprünglichen israelischen Architekten der Oslo-Vereinbarung von 1993, hat dieses historische Ereignis wieder in den Blick der Öffentlichkeit gerückt.

Gideon LevyGideon Levy (*1953) ist israelischer Journalist. Levy schreibt Stellungnahmen und wöchentliche Kolumnen für die Zeitung Haaretz, die oft von der israelischen Besetzung der palästinensischen Gebiete handeln. Er ist ein bedeutender Journalist der israelischen Linken ( http://en.wikipedia.org/wiki/Gideon_Levy ; siehe ebenfalls auf der Lebenshaus-Website:  Gideon Levy ).  erinnert uns daran, dass die rechten Volksverhetzer in ihrem wütenden Angriff auf die Vereinbarung deren Initiatoren "Oslo-Verbrecher" nannten. Das war ein bewusster Anklang an Hauptschlagworte Adolf Hitlers auf seinem Weg zur Macht. Die Nazipropaganda nannte die deutschen Staatsmänner "Novemberverbrecher", die 1918 das Waffenstillstandsabkommen, das den Ersten Weltkrieg beendete, unterzeichnet hatten - übrigens auf Ersuchen des Generalstabs der Armee, der den Krieg verloren hatte.

In seinem Buch Mein Kampf (dessen Urheberrecht gerade erlischt, sodass jeder es neu drucken kann) hat Hitler eine weitere Einsicht aufgezeigt: dass eine Lüge, wenn sie nur groß genug ist und man sie oft genug wiederholt, geglaubt wird.

Auch das trifft auf die Oslo-Vereinbarung zu. Seit 20 Jahren wiederholt die israelische Rechte unermüdlich die Lüge, dass die Oslo-Vereinbarung nicht nur eine verräterische Handlung, sondern auch ein vollkommener Misserfolg gewesen sei.

Oslo sei tot, sagt man uns. Tatsächlich sei es schon bei der Geburt gestorben. Infolgedessen werde das auch das Los einer jeden Friedensvereinbarung in der Zukunft sein. Ein großer Teil der israelischen Öffentlichkeit glaubt das inzwischen.

DIE HAUPTLEISTUNG der Oslo-Vereinbarung, eines Akts von geschichtsverändernden Dimensionen, trägt das Datum 10. September 1993 - es war gerade mein 70. Geburtstag.

An diesem Tag tauschten der Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsorganisation und der Ministerpräsident des Staates Israel Schreiben über die gegenseitige Anerkennung aus. Jasser Arafat erkannte Israel an und Jitzchak Rabin erkannte die PLO als die Vertretung des palästinensischen Volkes an.

Die heutige jüngere Generation (beider Seiten) kann sich die riesige Bedeutung dieser Doppelhandlung nicht vorstellen.

Die Zionistische Bewegung hatte von ihrem Beginn fast hundert Jahre zuvor an die bloße Existenz eines palästinensischen Volkes geleugnet. Ich habe viele Hunderte von Stunden meines Lebens damit zugebracht, israelische Zuhörerschaften davon zu überzeugen, dass eine palästinensische Nation tatsächlich existiere. Berüchtigt ist Golda Meirs Ausspruch: "So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht". Ich bin auf meine Antwort darauf in einer Knesset-Debatte recht stolz: "Frau Ministerpräsidentin, vielleicht haben Sie recht. Vielleicht existiert ein palästinensisches Volk nicht. Aber wenn Millionen Menschen irrtümlicherweise glauben, sie wären ein Volk, und wenn sie wie ein Volk handeln, dann sind sie ein Volk!"

Die Leugnung der Zionisten war keine unbegründete Marotte. Das Grundziel der Zionisten war der Besitz Palästinas, des gesamten Palästinas. Um das zu erreichen, war die Vertreibung der Bewohner des Landes notwendig. Der Zionismus war jedoch eine idealistische Bewegung. Viele seiner osteuropäischen Aktivisten waren von den Ideen Leo Tolstois und anderer utopischer Moralisten erfüllt. Sie konnten der Tatsache nicht ins Auge blicken, dass ihr Utopia nur auf den Trümmern eines anderen Volkes errichtet werden könnte. Darum war die Leugnung eine absolute moralische Notwendigkeit.

Die Anerkennung der Existenz des palästinensischen Volkes war daher ein revolutionärer Akt.

FÜR DIE ANDERE SEITE war die Anerkennung noch schwerer.

Vom ersten Tag des Konfliktes an sahen so gut wie alle Palästinenser und tatsächlich fast alle Araber die Zionisten als eine eindringende Völkerschaft an, die darauf aus war, ihnen ihr Heimatland zu rauben, sie zu vertreiben und auf ihren Trümmern einen Räuber-Staat zu errichten. Das Ziel der palästinensischen nationalen Bewegung war es darum, den zionistischen Staat zu zerstören und die Juden ins Meer zu werfen, ebenso wie ihre Vorväter die letzten Kreuzritter ganz buchstäblich vom Kai in Akkon ins Meer geworfen hatten.

Und da kam ihr verehrter Führer Jasser Arafat daher und erkannte die Legalität Israels an. Damit warf er die Ideologie von hundert Jahren Kampf über den Haufen, in dem das palästinensische Volk den größten Teil seines Landes und seine meisten Heimstätten verloren hatte.

Bei der drei Tage später auf dem Rasen des Weißen Hauses unterzeichneten Oslo-Vereinbarung tat Arafat noch etwas; das wurde von Israel vollkommen ignoriert: Er gab 78% des historischen Palästinas auf. Der Mann, der die Vereinbarung tatsächlich unterzeichnete, war Mahmud Abbas. Ich frage mich, ob seine Hand nicht gezittert hat, als er - Minuten vor dem Händedruck von Rabin und Arafat - dieses folgenschwere Zugeständnis unterzeichnete.

Oslo ist nicht gestorben. Den offenkundigen Mängeln der Vereinbarung zum Trotz ("die bestmögliche Vereinbarung in der schlimmstmöglichen Situation", sagte Arafat) hat es das Wesen des Konflikts, allerdings nicht den Konflikt an sich verändert. Die palästinensische Behörde, die Grundstruktur des entstehenden palästinensischen Staates, ist eine Realität. Palästina wird von den meisten Ländern anerkannt und, wenigstens teilweise, von den UN. Die Zweistaatenlösung, die einmal die Idee einer verrückten Randgruppe war, ist heute Welt-Konsens. Auf vielen Gebieten gibt es eine stille, aber reale Zusammenarbeit zwischen Israel und Palästina.

Aber natürlich ist das weit von einer Friedensrealität entfernt, wie sie sich viele von uns, darunter Ron Pundak, an diesem so glücklich optimistischen Tag, dem 13. September 1993, vorgestellt haben. Noch mehr als zwanzig Jahre danach lodern die Flammen des Konflikts und die meisten trauen sich nicht einmal mehr, das Wort "Frieden" in den Mund zu nehmen, als ob es eine pornografische Abscheulichkeit wäre.

WAS IST SCHIEFGEGANGEN? Viele Palästinenser glauben, dass Arafats historische Zugeständnisse verfrüht waren, dass er sie nicht hätte machen sollen, bevor Israel den Staat Palästina als Endziel anerkannt hätte.

Rabin änderte im Alter von 71 Jahren seine gesamte Weltsicht und traf eine historische Entscheidung, aber er war nicht der Mann, sie durchzusetzen. Er zögerte, schwankte und sagte bekanntermaßen: "Es gibt keine geheiligten Daten".

Dieser Spruch wurde der Schutzschild für den Bruch unserer Verpflichtungen. Die endgültige Vereinbarung hätte 1999 unterzeichnet werden sollen. Lange davor hätten vier "sichere Übergänge" zwischen dem Westjordanland und Gaza eröffnet werden sollen. Mit dem Bruch dieser Verpflichtung legte Israel das Fundament für die Abspaltung von Gaza.

Israel brach auch die Verpflichtung, die "dritte Stufe" des Rückzugs aus dem Westjordanland umzusetzen. "Gebiet C" gehört jetzt praktisch zu Israel und wartet auf die von den rechten Parteien geforderte offizielle Annexion.

In den Oslo-Vereinbarungen wurde keine Entlassung von Gefangenen festgelegt. Aber sie war ein Gebot der Weisheit. Die Rückkehr von zehntausend Gefangenen hätte die Atmosphäre aufgeheizt. Stattdessen bauten aufeinander folgende, sowohl linke wie rechte israelische Regierungen in schwindelerregendem Tempo Siedlungen auf arabischem Land und machten noch mehr Gefangene.

Die anfänglichen Verstöße gegen die Vereinbarung und das Nichtfunktionieren des gesamten Prozesses ermutigte die Extremisten beider Seiten. Die israelischen Extremisten ermordeten Rabin und die palästinensischen Extremisten setzten eine Reihe mörderischer Angriffe in Gang.

IN DER LETZTEN Woche habe ich schon die Gewohnheit unserer Regierung kommentiert, unterzeichnete Verpflichtungen nicht zu erfüllen, sobald sie meint, das nationale Interesse fordere das.

Im Krieg 1948 nahm ich als Soldat an der großen Offensive teil, die den Weg in den Negev öffnete, der von der ägyptischen Armee abgeschnitten worden war. Das war ein Verstoß gegen den von den UN vereinbarten Waffenstillstand. Wir benutzen eine einfache Technik, um dem Feind die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Dieselbe Technik setzte später Ariel Scharon ein und provozierte Zwischenfälle, um den Waffenstillstand an der syrischen Front zu brechen und die sogenannte "entmilitarisierte Zone" zu annektieren. Noch später wurde die Erinnerung an diese Zwischenfälle dazu benutzt, die Golanhöhen zu annektieren.

Der Beginn des Ersten Libanonkrieges war ein direkter Verstoß gegen den Waffenstillstand, der ein Jahr zuvor von amerikanischen Diplomaten ausgehandelt worden war. Der Vorwand war wie gewöhnlich fadenscheinig: Eine terroristische Anti-PLO-Gruppe hatte versucht, den israelischen Botschafter in London zu ermorden. Als der Mossad-Chef dem Ministerpräsidenten Menachem Begin sagte, dass die Mörder Feinde der PLO seien, antwortete Begin bekanntlich: "Für mich sind sie alle PLO!"

Tatsächlich hatte Arafat den Waffenstillstand gewissenhaft eingehalten. Da er eine israelische Invasion vermeiden wollte, hatte er seine Autorität sogar den oppositionellen Elementen aufgezwungen. Elf Monate lang wurde an dieser Grenze keine einzige Kugel abgefeuert. Als ich jedoch vor einigen Tagen mit einem früheren hohen Sicherheitsbeamten sprach, versicherte er mir allen Ernstes: "Sie haben uns täglich beschossen. Es war unerträglich."

Nach sechs Tagen Krieg wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Zu dieser Zeit hatten es unsere Soldaten jedoch noch nicht geschafft, Beirut einzukreisen. Deshalb brach Scharon den Waffenstillstand, um die lebenswichtige Straßenverbindung zwischen Beirut und Damaskus zu zerschneiden.

Die gegenwärtige Krise im "Friedensprozess" wurde dadurch verursacht, dass die israelische Regierung ihre Vereinbarung, an einem bestimmten Tag palästinensische Gefangene freizulassen, brach. Dieser Verstoß war so eklatant, dass er weder verborgen noch wegerklärt werden konnte. Er verursachte John Kerrys bekanntes "Puff".

Tatsächlich wagte Benjamin Netanjahu nicht, seine Verpflichtung zu erfüllen, nachdem er und seine Gefolgsleute wochenlang in den Medien die Öffentlichkeit gegen die Freilassung der "Mörder" mit "Blut an den Händen" aufgehetzt hatten. Sogar die Stimmen im Lager der sogenannten Mitte-Links waren verstummt.

Jetzt nimmt eine andere Lügengeschichte vor unseren Augen Gestalt an. Die große Mehrheit in Israel ist inzwischen schon vollkommen überzeugt, dass die Palästinenser die Krise herbeigeführt hätten, indem sie den 15 internationalen Konventionen beigetreten seien. Nach diesem eklatanten Verstoß gegen die Vereinbarung sei die israelische Regierung vollkommen im Recht gewesen, die Freilassung der Gefangenen zu verweigern. Die Medien wiederholen diese Verfälschung der Reihenfolge der Ereignisse so oft, dass sie inzwischen den Status einer Tatsache erworben hat.

ZURÜCK zu den Oslo-Verbrechern. Ich gehörte nicht dazu. Allerdings war ich bei Arafat in Tunis zu Besuch, als die Gespräche (ohne mein Wissen) in Oslo geführt wurden, und sprach mit ihm über die Gesamtheit der möglichen Kompromisse.

Ron Pundak ruhe in Frieden - auch wenn der Frieden, für den er gearbeitet hat, noch weit entfernt zu sein scheint.

Aber kommen wird er.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Weblinks:

Fußnoten

Veröffentlicht am

19. April 2014

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