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Leonardo Boff: Brasilien am Scheideweg: Verlängerung der Abhängigkeit oder Fertigstellung seiner Neu-Erfindung?

Von Leonardo Boff

Celso Furtado, einer unserer renommiertesten Experten der Wirtschaftspolitik und aufmerksamer Beobachter des Veränderungsprozesses der Weltwirtschaft kontrastiert zu der Brasiliens, schrieb in seinem Buch "Brasilien: unterbrochene Baustelle" (Brasil: a construção interrompida. SP, Paz e Terra, 1992): "In einem halben Jahrtausend der Geschichte, beginnend mit der Konstellation von Untaten, einer zerschlagenen indigenen Bevölkerung, Sklaven, die von einem zum anderen Kontinent verschoben wurden, europäischen und asiatischen Abenteurern auf der Suche nach einem besseren Leben, wurden wir zu einem Volk mit außerordentlich vielseitiger Kultur, einem Land ohnegleichen in Bezug auf seine territoriale Weite und seine sprachliche und religiöse Einheitlichkeit. Doch es fehlt uns an Erfahrung an schicksalsweisenden Tests wie andere Völker sie erfuhren, deren Überleben bedroht war. Wir kennen auch nicht wirklich unsere Möglichkeiten und vor allem nicht unsere Schwächen. Doch wir sind uns bewusst, dass die Zeit in der Geschichte sich beschleunigt und dass die Zeit gegen uns läuft. Es ist wichtig zu wissen, ob wir eine Zukunft haben als Nation, die an der Konstruktion des menschlichen Fortschritts teilnimmt, oder ob diejenigen Kräfte die Oberhand behalten, die drohen, unseren historischen Prozess in der Bildung eines Nationalstaats zu unterbrechen" (Paz e Terra, Rio 1993, 35).

Wir müssen zugeben, dass die heutige brasilianische Gesellschaft bedeutende Fortschritte unter den Regierungszeiten der Arbeiterpartei PT erlebt hat. Der erreichte Grad an sozialer Inklusion und die Sozialpolitik, von der Millionen von Brasilianern profitieren, die immer an den Rand gedrängt waren, hat eine historische Dimension erreicht, deren Bedeutung wir noch nicht voll ermessen haben, insbesondere im Vergleich zu vorigen historischen Phasen, als die traditionellen Eliten die Hegemonie aufrecht erhielten, denn sie nutzten stets die Staatsgewalt zu ihrem eigenen Nutzen.

Doch diese Vorteile sind unverhältnismäßig in Bezug auf die Größe unseres Landes und unseres Volkes. Die Demonstrationen im Juni 2013 zeigten, dass ein großer Teil des Volkes, vor allem die Jugend, nicht zufrieden ist. Die Demonstranten wollen mehr. Sie wollen eine andere Art von Demokratie, eine partizipatorische Demokratie. Sie wollen eine Republik ohne Schiebung, sondern mit Bürgernähe. Zu Recht verlangen sie Transportmöglichkeiten, die sie nicht so viel Lebenszeit kosten; grundlegende Hygieneverhältnisse; ein Bildungssystem, das ihnen hilft, die Welt besser zu verstehen und die Art der Arbeitsplätze, die sie wählen könnten, zu verbessern. Sie verlangen sanitäre Einrichtung mit einem Minimum an Annehmlichkeiten und Qualität. In jeder und jedem wächst die Überzeugung, dass ein unfähiges und unwissendes Volk niemals einen qualitativen Sprung nach vorn machen wird in Richtung einer weniger ungerechten Gesellschaft und damit, wie Paulo Freire es zu nennen pflegte, einer weniger bösen Gesellschaft. Die PT muss auf der Höhe dieser neuen Herausforderungen bleiben, und entweder überarbeitet sie ihre Agenda oder sie muss den Machtverlust hinnehmen.

Wir nähern uns dem, was Celso Furtado als "entscheidende Herausforderungen" bezeichnete. Möglicherweise sind wir zum ersten Mal in der Geschichte an einem kritischen Moment der "Herausforderungen" angekommen. So wie ich es sehe, wird die nächste Wahl eine ganz besondere sein. Angesichts der Beschleunigung der Zeitgeschichte, stimuliert durch die systemische Weltkrise, werden wir gezwungen sein, uns zu entscheiden: Entweder ziehen wir einen Vorteil aus den Möglichkeiten, die uns diese tiefe Krise in den führenden Wirtschaftsnationen bietet, bekräftigen unsere Autonomie und sichern unsere Zukunft, in der wir autonom sind, aber in Beziehung mit der ganzen Welt stehen; oder wir verpassen die Gelegenheit und sind für immer einem Schicksal unterworfen, das diejenigen bestimmen, die uns zu bloßen Lieferanten von Naturgütern verdammen, an denen es ihnen mangelt, und auf diese Weise werden sie uns aufs Neue kolonialisieren.

Wir können diese merkwürdige internationale Arbeitsteilung nicht akzeptieren. Wir müssen uns nochmals mit dem Traum einiger unserer besten Analysten beschäftigen, wie z. B. Darcy Ribeiro und Luiz Gonzaga de Souza Lima, die u. a. eine Neu-Erfindung oder Neu-Gründung Brasiliens nach unseren Vorstellungen vorschlagen, die einer unserer Gemeinschaft begründenden Erfahrung entspringt, welche von Celso Furtado so gelobt wird.

Dies ist die dringende Herausforderung an alle sozialen Organisationen: Werden sie zur Neu-Erfindung Brasiliens als souveräne Nation beitragen, die im Rahmen des neuen globalen Bewusstseins und des gemeinsamen Geschicks der Erde und der Menschheit konstruiert wird? Könnten sie zu Geburtshelfern eines neuen Bürgertums - eines Mit-Bürgertums und Erdenbürgertums - werden, das die Bürger und Bürgerinnen mit dem Staat in Beziehung setzt, die Bürger und Bürgerinnen untereinander, die Nationen mit der Welt und das brasilianische Bürgertum mit dem globalen Bürgertum, und so dazu beitragen, die Zukunft der Menschen zu formen? Oder werden sie zu Komplizen derjenigen Kräfte, die sich nicht für die Konstruktion des Brasilien-Projekts interessieren, da sie Brasilien im Globalisierungsprojekt in einer untergeordneten und abhängigen Form einbeziehen wollen und den Vorteilen den reichen Klassen überlassen, die immer von dieser Art von Bündnis profitieren?

Die nächsten Wahlen werden Licht auf diese Alternativen werfen. Wir müssen entscheiden, wo wir stehen werden. Die Zeit drängt, denn, wie Celso Furtado uns mit starken Bedenken warnte: "Alles deutet auf die Überlebensunfähigkeit des Landes als Nation hin" (a.a.O. S. 35). Wir wollen uns dieser ernsten Warnung nicht fatalistisch beugen. Wir dürfen die Niederlage nicht hinnehmen, ohne uns in allen Schlachten engagiert zu haben, wie Don Quixote uns in seiner hoffnungsvollen Poesie lehren würde.

Noch haben wir Zeit, die Veränderungen vorzunehmen, die das Land auf den rechten Weg bringen, insbesondere jetzt, da Brasilien durch die ökologische Krise ein entscheidendes Gewicht im Gleichgewicht für den Planeten Erde erreicht hat. Es ist notwendig, dass wir an unsere Möglichkeiten glauben, selbst in unserer globalen Mission, würde ich sagen.

Leonardo Boff ist Theologe und Philosoph; Mitglied der Erd-Charta Kommission

Quelle:  Traductina , 04.04.2014.

Veröffentlicht am

07. April 2014

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