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2011: Die Arabellion erfasst vor drei Jahren eine ganze Region. Zwar werden autoritäre Regimes gestürzt. Doch ein Durchbruch zu mehr Demokratie und Gerechtigkeit bleibt aus

Von Sabine Kebir

Als sich die USA Ende der sechziger Jahre zunächst nicht aus Südvietnam zurückziehen wollten, hieß es zur Begründung: Dann werde ein südostasiatisches Land nach dem anderen dem Kommunismus verfallen. Man dachte an Dominosteine, die - dicht hintereinandergestellt - nacheinander umfallen, sobald man den ersten anstößt. Eine ähnliche Metapher kursierte im Westen, als vor drei Jahren der Arabische Frühling begann. Der Umsturz in Tunesien sprang - wie bei jenem Dominoeffekt - zunächst auf Ägypten über, dann auf Libyen, Bahrain, Jemen, schließlich auf Syrien. Äußerlich ähnelten sich die Abläufe, Zentrum des Aufruhrs waren zentrale öffentliche Plätze, die besetzt und verteidigt wurden, bis autokratische Regimes kollabierten. In westlichen Medien wurde orakelt, es tobe eine Art Endkampf für Menschenrechte und Demokratie in der arabischen Welt. Von dem in Katar ansässigen Fernsehsender Al Dschasira war Gleiches zu hören, obwohl das Emirat des Scheichs Tamim bin Hamad Al Thani weit davon entfernt ist, eine Musterdemokratie zu sein.

Morsches Gebälk

Begonnen hatte alles am 17. Dezember 2010. Mit seiner öffentlichen Selbstverbrennung hatte der verzweifelte kleine Gemüse- und Schwarzhändler Mohamed Bouazizi in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid die lokalen Autoritäten beschämen und aufrütteln wollen. Er konnte nicht ernsthaft damit rechnen, sein Land bis ins Mark zu erschüttern, geschweige denn die gesamte arabische Welt in Aufruhr zu versetzen. Doch wie sich zeigen sollte, war sein Selbstopfer der überfällige Anstoß, um es im morschen Gebälk des Ben-Ali-Regimes krachen zu lassen. Damit schien sich der schon von Lenin begründete revolutionstheoretische Grundsatz zu bewahrheiten, dass eine revolutionäre Situation dann gegeben ist, wenn weder die Unter- noch die Oberschichten innerhalb der gegebenen Verhältnisse weiter existieren können. Tatsächlich erhob sich nach dem Fanal von Sidi Bouzid Anfang Januar zunächst nicht die jahrzehntelang vernachlässigte Landbevölkerung Mittel- und Südtunesiens. Vielmehr revoltierten relativ privilegierte Staatsangestellte in Tunis, gefolgt von Gewerkschaften und oppositionellen Intellektuellen. Es ging bei tagelangen Protesten um Demokratie und Menschenrechte, um das Ende einer würdelosen Einparteienherrschaft und des von dieser dominierten Mediensystems - man wollte die Korruption gebändigt sehen und für gerechtere ökonomische Verhältnisse sorgen. Merkwürdig nur, dass westliche Partner Tunesiens - allen voran Frankreich - die Rebellion einzudämmen suchten, indem sie Präsident Ben Ali anboten, ihn mit polizeilichen Spezialeinheiten zu unterstützen, sollte er Protest und Aufruhr niederschlagen wollen. Es kam nicht dazu. Die Armee schlug sich bis zu den höchsten Rängen auf die Seite der Aufständischen. Zudem hatte man in Washington rascher als in Paris Geschmack an einem Regimewechsel in Tunis gefunden. Ben Ali musste am 14. Januar abdanken und floh ins Ausland, allerdings kam die erhoffte Demokratisierung danach nur schleppend voran, von Fortschritten bei den Menschenrechten ganz zu schweigen. Die durch Wahlen im Oktober 2011 an die Regierung gelangte islamistische Ennahda-Partei herrscht heute kaum weniger patriarchalisch als das Ancien Régime, flankiert von Milizen, die terroristische Mittel nicht scheuen, um säkulare Parteien und Politiker einzuschüchtern. Weil der Tourismus einen Einbruch sondergleichen erlebt, ist die ökonomische Lage schlechter als unter Ben Ali.

Dass die Arabellion im Januar 2011 ohne Zutun von außen von Tunesien auf Ägypten übersprang, war nur zu plausibel, weil die Autokratie Husni Mubaraks schon zuvor äußerst fragil erschien. Neben dem auch hier vorherrschenden Wunsch junger Ägypter nach mehr Wohlfahrt und sozialer Perspektive war die Agenda des Wandels eine andere als in Tunesien. In Ägypten gab es bereits ein Mehrparteiensystem, private Medien und eine teils legalisierte, sehr aktive Zivilgesellschaft. Als deren stärkste Kraft agierten die in verschiedenen Organisationsformen präsenten Muslimbrüder, denen es unter Mubarak nur verwehrt blieb, als Partei aufzutreten. Wenn die Wucht der Erhebung in Kairo den Präsidentensturz von Tunis übertraf, konnte das andererseits nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Ägypten noch weniger als in Tunesien eine "Revolution" ausgebrochen war. So fanden Mitte 2012 die ersten Präsidentenwahlen nach dem Kollaps des Mubarak-Regimes noch unter der alten Verfassung statt. Dass die Muslimbrüder dieses Votum mit ihrem Bewerber Mohammed Mursi gewannen, war keine Überraschung, ließ aber die ägyptische Gesellschaft weder demokratischer noch gerechter werden. Auch von den derzeit die Macht ausübenden Militärs ist in dieser Hinsicht nichts zu erwarten. Sie steuern unverhohlen eine Rückkehr zum Status quo der Mubarak-Zeit an. Davon zeugt die soeben erfolgte Einstufung der Muslimbrüder als "terroristische Vereinigung". Deutlicher als Tunesien ist Ägypten durch die Arabellion zu einer Arena der Konkurrenz ausländischer Mächte geworden: Katar stützt die Muslimbrüder, Saudi-Arabien die Salafisten, die USA und Israel sympathisieren mit der Militärregierung des Generals Abd al-Fattah as-Sisi, dessen harte Boykottpolitik gegenüber dem Gazastreifen in Jerusalem Sympathien weckt.

Afghanische Verhältnisse

Bliebe der Fall Libyen. Als sich Frankreich im März 2011 offen hinter den Anti-Gaddafi- Aufstand von Benghazi stellte, sollte offenbar der "tunesische Fehler" nicht wiederholt und Katar nicht allein das Feld überlassen werden. Dieser kleine, aber steinreiche Golfstaat hatte sich den Sturz von Oberst Muammar al-Gaddafi als erste ausländische Macht auf die Fahnen geschrieben - mit den bis heute nachwirkenden Konsequenzen. Während Tunesien und Ägypten bisher wenig Nutzen aus ihrem "Frühling" ziehen konnten, lässt sich der für Libyen überhaupt nicht erkennen. Das Land leidet nicht allein unter der Zerstörung seiner Infrastruktur als Folge der von der UNO geduldeten NATO-Bombardements, sondern wird von unberechenbaren islamistischen Milizen in Schach gehalten, die kürzlich sogar den demokratisch gewählten Premier entführten. Ein durchsetzungsfähiger Staat existiert nicht mehr, sodass für Libyen afghanische Verhältnisse drohen.

Einen noch höheren Preis für einen von außen gesteuerten "Import der Revolution" müssen freilich die Syrer zahlen: ein verwüstetes Land, etwa 200.000 Bürgerkriegstote, eine gelähmte Ökonomie, zwei Millionen Flüchtlinge, aus denen 2014 vier Millionen werden könnten, sollte es der bevorstehenden Genfer Konferenz nicht gelingen, wenigstens einen Waffenstillstand auszuhandeln. Warum hält sich in Syrien nach fast drei Jahren Bürgerkrieg das Baath-Regime? Eine Erklärung lautet, auch diese arabische Gesellschaft kennt ein akutes Wohlstandsgefälle, nur hat esBashar al-Assad im Gegensatz zu Ben Ali oder Hosni Mubarak besser verstanden, die Ober- und Mittelschichten ökonomisch zufriedenzustellen sowie vorsichtige politische Reformen auf den Weg zu bringen. Er verfügt weiterhin über einen erheblichen Rückhalt und eine vergleichsweise starke Armee, die größtenteils loyal blieb.

Stets haben ausländische Mächte in Revolutionen der Neuzeit massiv eingegriffen, auch im Nahen Osten seit Ausbruch der Arabellion Anfang 2011. Dadurch hat sich das Ringen um mehr Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand in einen Kampf verwandelt, bei dem es längst auch um das Zurückdrängen des iranischen und russischen Einflusses geht. Entstanden ist eine informelle Zweckallianz aus den sunnitischen Golfemiraten und der Türkei, während die USA und Israel mehr im Hintergrund agieren. Offenbar halten sie es für opportun, die Region von Islamisten regieren zu lassen, die für eine gewisse Zeit ein enormes Disziplinierungspotenzial zu entfalten vermögen, sich andererseits leichter abqualifizieren und bekämpfen lassen als laizistische Regimes - eine Taktik, die Israel schon seit Jahrzehnten verfolgt.

Quelle: der FREITAG   vom 15.01.2014. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

16. Januar 2014

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