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Dorothee Sölle: Kreuz und Klassenkampf

Vortrag am 7. Oktober 1977 in Paris bei der Verleihung des Ehrendoktors der Freien Fakultät für Protestantische Theologie aus Anlass des 100. Geburtstages der Fakultät

Von Dorothee Sölle

Was ist die Aufgabe der Theologie im Kontext der ersten Welt? Welche Rolle spielen die Christen in den hochindustrialisierten reichen weißen Ländern im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts? Wohin gehen wir, wohin sollen wir gehen?

Es gibt eine Geschichte im Neuen Testament, die für mich immer wichtiger geworden ist; es ist eine schreckliche Geschichte über unsere Klasse, über dich und mich, über unser Heute und vielleicht über unser Morgen. Ich denke an die Geschichte von dem reichen Jüngling, der zu Jesus kommt und fragt: "Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Er hat von Jugend auf nicht gestohlen, geraubt oder gemordet. Jesus mag ihn Leiden und sagt zu ihm: "Eins fehlt dir, geh und verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen … komm und folge mir nach." Als der junge Mann das hört, überschatten sich seine Züge und er geht traurig davon (Mk. 10, 17-22). Eine schreckliche Geschichte über die Situation der Mittelklasse, zwischen den Unterdrückern und den Unterdrückten, eine Geschichte, die sich wiederholt hat. Ich denke an das Deutschland der frühen 30er Jahre, als viele früher mehr Liberale zu den Nazis übergingen aus Angst vor dem Kommunismus und als Hitler die Wahlen von 1933 mit der Unterstützung der damaligen christlichen Partei gewann. Ich denke auch an die chilenische Mittelklasse, die Hausfrauen und die Lastwagenfahrer, die sich bestechen ließen und an ihren Privilegien festhalten wollten. Eine schreckliche Geschichte, die einen depressiv machen kann. Erzählt allerdings ist sie uns, damit wir unsere eigene Gegengeschichte finden.

Wie sähe die aus? Und wer hilft uns dabei? Welchen Sinn hat eine Theologie der Befreiung für die Bürger der ersten Welt?

Ich will mit einem Rückblick beginnen und den christlich-marxistischen Dialog der 60er Jahre noch einmal ins Gedächtnis rufen, jene Bewegung "de l’anathème au dialogue", die tief verwurzeltes Misstrauen und begründete Ängste auf beiden Seiten überwand. Die Entstalinisierung und Vatikanum 2 waren die historischen Wendepunkte, Palmiro Togliatti und Johannes XXIII. bedeutende Vorläufer. Taktische Überlegungen haben sicher eine Rolle gespielt beim Zustandekommen dieses im wesentlichen von Intellektuellen getragenen Dialogs, aber dahinter stand doch eine tiefere Einsicht, nämlich dass weder der Sozialismus noch die Religion durch bloße Gewalt unterdrückt werden kann: die Religion lebt weiter in den osteuropäischen Ländern, der Sozialismus war weder durch Konzentrationslager noch durch CIA-Machenschaften auszulöschen.

Dieser Dialog fand statt in Hunderten von Artikeln und Pamphleten, Konferenzen und persönlichen Begegnungen. Ich kann hier nur einen Überblick geben und will mich beschränken auf die Fragen, was die Marxisten von den Christen, was die Christen von den Marxisten lernten.

Der christlich-marxistische Dialog ist sinnlos, solange man die Religion als ein Hindernis für den Aufbau einer menschlichen Gesellschaft, als eine Kategorie der Entfremdung, als Opium des Volkes, als Illusion oder bloßen Betrug ansieht. Als auf einer Tagung 1965 ein Marxist den christlichen Glauben zum ersten Mal "eine Lehre zur Befreiung des Menschen" nannte, war dieses Stadium überwunden. Notwendigerweise war damit auch eine Veränderung der marxistischen Erkenntnistheorie gegeben, weg von einem vulgaristischen Determinismus, der alle Formen des Überbaus von den ökonomischen Bedingungen der Basis abhängig macht, zurück zu der ursprünglichen Marx`schen Dialektik von Sein und Bewusstsein. Wenn es denn eine solche Dialektik zwischen Basis und Überbau gibt, dann ist auch die Religion, wie andere Formen des kulturellen Überbaus, in der Lage, nicht nur die gegebenen Fakten zu spiegeln, sondern sie zu verändern. Dann muss auch die Religion dialektisch in ihrer Doppelfunktion verstanden werden: als Apologie und Legitimation des Status quo auf der einen Seite, als ein Mittel des Protests, der Veränderung und der Befreiung auf der anderen. Religion hat die Interessen der Herrschenden verschleiert und verklärt, aber sie war auch, aller platten Aufklärungspolemik zum Trotz, ein Instrument der Befreiung. In diesem Kontext verstanden die Marxisten, was Garaudy später "eine nichtentfremdete Transzendenz" nannte; Transzendenz nicht als ein anderer Zustand außerhalb von Raum und Zeit, sondern als die Fähigkeit, die gegebenen Bedingungen einer historischen Situation zu überschreiten, also eine Transzendenz, die nicht innerhalb des dualistischen Weltbildes verstanden wird. Sie ereignet sich hier und jetzt, nicht später und drüben, sie bedeutet die tiefste schöpferische Erfüllung der Menschen auf ihrem Weg zur Humanisierung.

Was, auf der anderen Seite, lernten die Christen von den Marxisten? Mit einem Ausdruck der Tradition würde ich sagen, dass sie die Bedeutung der Inkarnation neu lernten, also die historische und die soziale Dimension des Daseins. Der christliche Gott bleibt ja oft ein nicht-inkarniertes himmlisches Wesen, außerhalb der Niederlagen und Siege der Geschichte, wahrgenommen nur von Individuen und für individualistische Zwecke, ohne körperliche und gesellschaftliche Dimension. Die Auseinandersetzung mit dem philosophischen Materialismus hat die Christen dazu gebracht, die materielle Existenz ernster zu nehmen im doppelten Sinn von Leib und Gesellschaft. So konnten Hunger und Arbeitslosigkeit, der industrielle Militärkomplex und seine Konsequenzen für das alltägliche Leben zu bedeutenden theologischen Themen avancieren. Inkarnation wurde nun nicht mehr verstanden als ein Ereignis, das einmal geschehen und abgeschlossen ist, sondern als ein Prozess der weitergehenden Selbstrealisation Gottes in der Geschichte. So wurde die marxistische Kritik am Christentum und seinem idealistisch-oberflächlichen Geschichtsverständnis integriert in einen neuen Versuch der Christen, die noch lernfähig sind, das Wort, das Fleisch wurde, zu fassen; Fleisch bedeutet Leib und Gesellschaft. Die Marxisten in diesem Dialog halfen den Christen, das, was Bonhoeffer die tiefe Diesseitigkeit des Christentums genannt hat, besser zu verstehen. Die Bedeutung des Dialogs wird deutlicher, wenn man sie auf den Kontext der Christen bezieht, die in osteuropäischen staatssozialistischen Ländern leben. Sie haben das Ende der Konstantinischen Ära an ihrem eigenen Leib erfahren: ihre Privilegien wurden ihnen weggenommen, ihre Schulen geschlossen, ihre Gebäude nicht länger vom Staat erhalten, sie verloren Steuerermäßigungen sowie steuer- und arbeitsfreies Einkommen und - vielleicht das Schmerzlichste - der Respekt für Kirchenleute wurde bemerkenswert geringer. Die schmutzigen Fäuste eines Bauarbeiters werden höher geachtet als die lilienweißen Hände eines segenspendenden Bischofs. Christen sind plötzlich nur eine Gruppe in der Gesellschaft. Wie sollten sie diese Fakten interpretieren? In einer weltlichen Perspektive, die nur den Verlust an Macht bejammert? Der Dialog ermutigte sie zu einer anderen, einer theologischen Sicht. Waren sie nicht aus dem Palast des Herodes, wo sie es 2000 Jahre lang gut gehabt hatten, vertrieben und nun zu Stall und Krippe zurückgekehrt? Statt sich über die neue historische Situation zu beklagen und sie als "Verfolgung" auszugeben, wie Radio Free Europe und andere CIA-gelenkte Institutionen proklamierten, lernten diese Christen in einem schmerzhaften und noch nicht abgeschlossenen Prozess anzunehmen, was vor sich ging. Theologisch gesprochen, lernten sie zu unterscheiden zwischen dem Stall Jesu und dem Palast des Herodes, zwischen einer reichen und mächtigen Kirche, die von der Gesellschaft bezahlt wird, weil sie soziale Ungerechtigkeit, Militarismus und Ausbeutung legitimiert, und einer kleinen, mitunter unterprivilegierten Kirche, die nun die Chance hat, Christus ähnlicher zu werden.

Der christlich-marxistische Dialog wurde 1968 brutal beendet, als die Russen in Prag einmarschierten und den Sozialismus mit dem menschlichen Gesicht, der von so vielen Partizipanten des Dialogs erträumt worden war, unterdrückten. In derselben Zeit wurden die offensten und progressivsten Positionen von Vatikanum 2 verwässert oder revidiert. Die Zeit der Hoffnung schien vorbei, Erstarrung trat ein. Aber unterdessen sind neue Formen der Zusammenarbeit von Christen und Marxisten entstanden. Sie wurden nicht so sehr von Intellektuellen, Universitätslehrern, Priestern und Journalisten getragen als von Leuten, die sich als Widerstandsgruppen um zentrale politische und soziale Fragen in der ersten Welt und in den von ihr abhängigen Ländern organisierten. Themen dieser Art waren: die sich verschlechternden Lebensbedingungen in den kapitalistischen Gesellschaften, der Vietnamkrieg und seine offene oder heimliche Unterstützung und - vielleicht als das Wichtigste - der wachsende Widerstand gegen die ökonomische Ausplünderung der Dritten Welt. In den 70er Jahren fanden Christen und Marxisten einander als Bundesgenossen im Kampf. Es ist ein Bündnis entstanden, das die produktive Auseinandersetzung fortführt, aber im Licht gemeinsamer politischer Praxis. Der rein akademische Dialog ist überwunden: vom Anathema zum Dialog, vom Dialog zum Bündnis; heute ist es eher die Straße, der vorstädtische Slum und manchmal die Gefängniszelle als der Konferenzraum, wo Christen und Marxisten sich treffen.

An diesem historischen Ort, im Kontext verschiedener Formen der rassistischen, sexistischen und klassenmäßigen Unterdrückung sind neue Formen von Theologie entstanden.

Unter Befreiungstheologie verstehe ich nicht nur die lateinamerikanische Theologie dieses Namens, sondern eine weltweite, von sehr verschiedenen Gruppen getragene Bewegung von Christen, die nicht mehr bereit sind, Theologie zur Rechtfertigung bestehenden Unrechts zu benutzen. Es ist eine Exodus-Theologie, die den Auszug aus-dem jeweiligen Ägypten der Unterdrückung zum eigentlichen theologischen Thema macht. Erlösung wird verstanden als Befreiung, Christus ist der Befreier, der Aufbau einer Welt, in der Gerechtigkeit und darum auch Frieden möglich sein wird, ist die unvollendbare, aber auch unverzichtbare Arbeit am Reich Gottes. Ich kann hier nicht auf die Verzweigungen dieser genuinen Theologien eingehen, will aber versuchen, zu theologischen Aussagen für die Befreiung auch der weißen reichen Mittelklassen der ersten Welt zu kommen, indem ich die Frage stelle: Was bedeutet es, sein Kreuz auf sich zu nehmen?

Ich gehe von den zahlreichen Stellen im NT aus, die von der Übernahme des Kreuzes sprechen und die sie zur Bedingung der Nachfolge machen. Ich zitiere aus dem Matthäusevangelium in der Übersetzung von Walter Jens:

"Wer mir folgen will,
nehme den Balken auf
an dem man ihn kreuzigen wird.
Denn wer sein Leben behalten will,
wird es verlieren,
doch wer es, um meinetwillen, verliert,
der wird es behalten." (Mt. 16, 24 f.)

An anderer Stelle desselben Evangeliums heißt es:

"Wer Vater und Mutter
mehr liebt als mich,
gehört nicht zu mir.
Wer nicht den Balken auf sich nimmt,
an dem man ihn kreuzigen wird,
gehört nicht zu mir." (Mt. 10, 38.)

Oder, in der etwas wortreichen Zinkschen Übersetzung, eine Stelle aus Markus:

"Wenn jemand meinen Weg gehen will, denke er nicht an sich selbst und sehe von seinem eigenen Leben ab. Er nehme den Kreuzbalken, an den sie ihn hangen werden, auf seine Schulter und gehe hinter mir her. Wer nämlich sein Leben retten will, wird es dabei verlieren, wer aber sein Leben verliert, weil er zu mir gehört und weil er meiner Botschaft glaubt, wird das wahre Leben finden." (Mk. 8, 34 f.)

Diese Sätze stammen mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Zeit, in der Christen das Martyrium gewiss war. Der Ruf sagt: Versucht nicht, euch an dem Schicksal, das euch blüht, wenn ihr mir nachfolgt, vorbeizudrücken. Lukas hat dieses Logion später durch den Zusatz "täglich" interpretiert; "der nehme täglich sein Kreuz auf sich" (Lk. 9, 23), das spiegelt eine andere Situation, in der der Alltag christlichen Lebens nicht mehr unter der Drohung des Martyriums steht.

Aber was besagt dieser "Balken, an den man euch hangen wird", der Galgen, das Kreuz? Es ist eine spezielle Art der Hinrichtung in der Antike, bei der der Tod erst nach oft tagelanger Folter eintritt. Das Kreuz hatten zu erwarten Menschen der sozial niedrigen Schichten - Sklaven, Abhängige, Landflüchtige. Für sie war das Kreuz geschaffen worden, ein Instrument der Machterhaltung für die Herrschenden. Es wurde aber auch als ein Mittel der Disziplinierung benutzt gegen höhere Schichten; politische Aufrührer wurden gekreuzigt. Wenn wir fragen, wer das Kreuz erwarten konnte und welche Menschen sich mit Jesu Ruf identifizieren konnten, so müssen wir historisch korrekt antworten: die Unterschicht, die auch heute die Gefängnisse füllt, die Leute, die aufrührerischer Gesinnungen, Worten oder Taten verdächtig waren und, ihnen gleichgestellt, zu ihnen gehörig, die Christen.

Das Kreuz ist ein politisches Instrument gewesen, ein Instrument des Klassenkampfes. Was hat denn das hässliche Wort Klassenkampf mit dem Kreuz und dem Glauben zu tun? Dazu muss ich etwas weiter ausholen.

Wir leben in einer polarisierten, geteilten Gesellschaft. Es gibt extreme Ungleichheiten im Anteil an dem gesamten Sozialprodukt, Ungleichheiten, gegen die die mittelalterliche Ungleichheit vom König zum Bettler winzig erscheint. Materielle und politische Privilegien trennen die Besitzer von Produktionsmitteln von der abhängigen Mehrheit. Die Ungleichheit von Vermögen, Einkommen und Macht begründet die Teilung in Klassen. Eine Gesellschaft, die durch Klassenprivilegien bestimmt ist, bringt notwendigerweise den Klassenkampf hervor. Man kann Herrschaft, die materielle Privilegien sichert, nicht ohne zu kämpfen aufrechterhalten. Der Kampf ist die natürliche Darstellung der Teilung, eine Tatsache des Lebens in einer Klassengesellschaft.

Wir haben zwei Formen des Klassenkampfes zu unterscheiden, den Klassenkampf von oben und den von unten. Der Klassenkampf von oben ist unvermeidlich, weil man zwar kampflos in Knechtschaft oder Sklaverei leben kann, nicht aber in Herrschaft und Unterdrückung. Um Privilegien aufrechtzuerhalten, dazu muss man auf der Hut sein, harte und weiche Formen des Kampfes entwickeln. Der unmittelbare wirtschaftliche Druck, z. B. die Weigerung vieler Industrieller in der Bundesrepublik, weiterhin Lehrlinge auszubilden, wenn man sie nicht gleichzeitig als billige Arbeitskraft benutzen kann, und der vermittelte ideologische Druck, der z. B. darin besteht, dass man Wörter wie Klassen oder Kampf nicht zulässt, als staatsgefährdend oder terrorismuserzeugend verbietet, beide Methoden spielen Hand in Hand. Man kann Privilegien nicht ohne Herrschaft und Zwang aufrechterhalten. In diesem Sinn ist auch das Kreuz ein Mittel des Klassenkampfes von oben gewesen.

Der Klassenkampf von unten dagegen ist nichts weniger als selbstverständlich oder permanent. Die Unterklassen haben eine Entscheidung zu treffen, natürlicherweise tendieren sie zu politischer Apathie und Fatalismus, "da kann man nix machen". Auch hier sind harte und weiche Formen des Kampfes entwickelt worden, aber man sollte nicht vergessen, dass das wichtigste Kampfmittel der Arbeiterklasse ein gewaltfreies war, nämlich der Streik, den unbewaffnete Arbeiter gegen hochbewaffnete Polizei und Militäreinheiten, die im Dienst der Privilegierten standen, geführt haben. Wir müssen den Klassenkampf als ein Faktum sehen lernen, angesichts dessen keine Neutralität möglich ist, die einzige Frage, die zählt, ist, auf welcher Seite du stehst.

Gerade die Neutralisierung ist aber das Ausweichmanöver der Klasse, zu der auch ich gehöre, der Mittelklasse. Objektivität und Unparteilichkeit sind Erziehungsziele, die wir internalisiert haben. Ein klares Bewusstsein über die Rolle die Aufgabe und die Bedeutung der Mittelklasse fehlt. Menschen der Mittelklasse bleiben gern unentschieden und verstehen sich selber als über den Fronten stehend. Sie schwanken in ihren Sympathien und Bündnissen. Ein junger Pfarrer oder Lehrer in einer armen Gegend wird sehr gemischte Gefühle haben. Auf der einen Hand erkennt er die Nöte der Bevölkerung und kann sich mit ihrer Sache identifizieren. Auch die junge Lehrerin wünscht sich eine kleinere Schulklasse und bessere Ausstattung. Auf der anderen Seite ist sie dazu erzogen, alles von der mächtigen Bürokratie über ihr zu erwarten. Ist sie den Kindern verantwortlich oder der Behörde? In den meisten Fällen wird sie eine Entscheidung zu vermeiden versuchen oder nur halbherzig handeln. Eben das hat sie gelernt. Die primitive Frage "Auf welcher Seite stehst du?" ist nicht beliebt. Das Schwanken der Mittelklasse hat ja auch eine sehr schöne Seite: die geistige Offenheit, die Lernfähigkeit, das noch nicht Festgelegte. Aber die Gefahr der Mitte der Mittelklassensituation ist die des endlosen Schwankens. Kierkegaard hat diesen Menschentyp unter dem Stichwort der "unendlichen Reflexion" gekennzeichnet, über der ein Mensch unfähig wird sich zu entscheiden und sich der Realität zu stellen. Die intellektuelle religiöse Neutralität, die die Entscheidung für oder gegen den Glauben fürchtet und herauszögert, ist nicht so weit entfernt von der intellektuellen politischen Neutralität. Es sind zwei Aspekte derselben Haltung. Nachdenklichkeit, Zögern im Urteil, Skeptizismus werden durch eine bessere Erziehung häufig befördert. Kierkegaard hat diese Haltung vernichtend kritisiert: die ängstlich gehütete Freiheit und Nicht-Festgelegtheit schlägt in Unfreiheit um, Neutralität ist unmöglich, wer sich nicht entscheidet, hat sich schon entschieden.

Vielleicht stört es Sie, daß ich Politik und Religion ständig vermische. Spreche ich denn von Kierkegaard oder vom Klassenkampf? Es wird mir und vielen anderen Christen immer unmöglicher, beides zu trennen. Ich kann mein Leben nicht mehr in diese Schubladen aufteilen. Ich weiß sicher, dass das Evangelium keine Neutralität, kein Sich-Heraushalten duldet. Man mag zögern, den Kampf Jesu gegen die einheimische herrschende Klasse der Sadduzäer und gegen die imperialistische Unterdrückung durch Rom als "Klassenkampf" zu bezeichnen, aber es ist kein Zweifel darüber möglich, auf welcher Seite er stand: auf der Seite der Armen, der religiös Unerzogenen und daher Verachteten, wie die Frauen, bei den outcasts, den Ausgestoßenen, wie Huren und Zöllnern. Er rekrutierte Freunde im ländlichen Proletariat der Fischer. Das Ziel seines Kampfes, das Reich Gottes, war die Überwindung einer klassengeteilten Gesellschaft in eine, in der Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit möglich sein wird. Der Ruf, sein Kreuz auf sich zu nehmen, ist der Ruf, sich dem Kampf anzuschließen. Ergreife Partei, brich die Neutralität, stelle dich auf die Seite der Verdammten dieser Erde.

Diese Deutung des Rufes "nimm dein Kreuz auf dich und folge mir" widerspricht natürlich einer bürgerlichen Auslegung. Als man mit dem Martyriumskreuz der alten Kirche nichts anfangen konnte, hat man das Kreuz spiritualisiert und veralltäglicht, wie schon bei Lukas ablesbar. Sein Kreuz auf sich nehmen, wurde gedeutet als Sich-selber-verleugnen, den eigenen Wünschen nicht nachgeben. Dass es sich beim Kreuz um ein Folterwerkzeug im Klassenkampf von oben handelt, schien vergessen. In der Theologie der Bourgeoisie ist das Kreuz auf das persönliche Leben und Ergehen verengt, z. B. eine unglückliche Ehe, ein ungeliebter Beruf werden als die Kreuze angesehen, die Menschen auf sich nehmen sollen. Halt aus, was nicht geändert werden kann, ertrag es in Geduld, was dir auferlegt ist. Ich kann nicht sehr viel biblischen Grund in dieser herrschenden Exegese finden, vor allem weil sie Männer und Frauen nicht in der Mitte ihres aktiven Lebens anspricht, sondern nur in Randsituationen. Auch verfälscht sie den Entscheidungsakt, das Kreuzholz anzufassen und zu nehmen, in einen bloß antwortenden Akt der Annahme dessen, was bereits auf dem Rücken des so Aufgeforderten liegt. Hat Jesus uns denn zum Aushalten ermahnt und nicht in den Kampf geschickt? Ist "ergib dich deinem Schicksal!" dasselbe wie "Nimm dein Kreuz und folge mir!"?

Wenn wir die bürgerliche Theologie verlassen, dann müssen wir das individualistische Rahmenwerk, innerhalb dessen sie arbeitet aufgeben. Eine neue Interpretation, die Kreuz und Klassenkampf zusammendenkt, setzt bei der aktiven bewussten Entscheidung eines Lebens für die Armen und Unterdrückten an. Auch Jesus hat mit dem Kreuz nicht einfach ein Schicksal auf sich genommen, das er annehmen und ertragen musste. Es war sein freier Wille, seines Vaters Haus zu verlassen. Es war seine Entscheidung, Galiläa, wo seine Basis zweifellos starker war zu verlassen, und schließlich lief er frei in seine eigene Katastrophe, die wir das Kreuz nennen, nicht anders als Tausende von organisierten Arbeitern die auch zu Hause ein friedlicheres und ruhigeres Leben hatten führen können.

Ich möchte drei Dimensionen dessen, was es bedeutet, sein Kreuz auf sich zu nehmen, entwickeln. Es heißt:

  • die Neutralität zu brechen
  • die Unsichtbaren sichtbar zu machen
  • eine Vision zu teilen.

Es ist Entscheidung, Mitleiden (compassion) und Vision.

Der erste Schritt ist der Bruch mit der uns anerzogenen Neutralität. Um die Sprache des Exodussymbols zu gebrauchen: Neutralität kommt aus Ägypten. Es ist Pharao, der uns lehrt, neutral, nicht einseitig, die technologischen Gegebenheiten respektierend zu denken. Natürlich hat Pharao nicht vollständig unrecht, aber seine Sicht stammt aus der gegebenen Kultur des Unrechts und sein Ziel ist, dieses Unrecht zu mildern, ohne das System zu ändern. Die Sicht Christi dagegen ist extremistisch und einseitig, weil seine Sicht in einer gegebenen Situation immer die der Opfer ist. Christus sieht die Welt mit den Augen der Geopferten und genau diese Einseitigkeit hat ihn ans Kreuz geführt. "Nimm dein Kreuz und folge mir" heißt: schließ dich dem Kampf an. Brich die Neutralität. Verlasse die schwankende Position zwischen der alten und der neuen Welt. Wofür kämpfte Jesus denn eigentlich? Warum konnte er nicht friedlich zu Hause in Nazareth bleiben? Warum hat er die Rollenerwartungen seiner Zeit nicht einfach erfüllt: Gehorsam dem Gesetz gegenüber, Pietät für die Toten, Loyalität der Familie gegenüber und die Verehrung eines Gottes, der für den Rest sorgt? Warum war das nicht genug für ihn?

Jesus muss diese Form von Leben als eine Art Tod empfunden haben, als ein Abgeschnittensein von der Transzendenz. Gegen diesen Tod, den Mittelklassentod eines geordneten Lebens in einer netten Villa, hat er Widerstand organisiert. Sein Gott, weit entfernt davon, der zu sein, der in einer prinzipiell schön geordneten Welt für Rest-und Randprobleme zuständig ist, trat für das Leben derer ein, denen Leben, Sattwerden, Arbeiten, Sich-entwickeln-können verweigert wurde. "Hungrige hat er mit Speise gefüllt und die Reichen leer hinweggeschickt" (Lk. 1, 53). Jesus hat sein Leben nicht in der simplen Erwartung gelebt, dass diese Wunder, von denen das Magnificat spricht, eines Tages durch eine übernatürliche Macht vollbracht werden; das wäre Mythologie im schlechten Sinne des Wortes, Vergegenständlichung und Verdinglichung des Lebens. Jesus verstand sich selber und agierte als ein Teil der Kraft, die diese tiefsten Intentionen der Geschichte vollzieht. Sein Kampf ging darum, diese Hoffnungen real werden zu lassen in seiner Zeit.

Christus hat den Ausgebeuteten nicht Unterwürfigkeit und Ergebung gepredigt. Er brachte nicht den Frieden drei asiatischen Affen, die ihre Augen, ihre Ohren und ihren Mund schließen, um nichts gehört und nichts gesehen zu haben, damit sie nicht sprechen und die Schreie der Unterdrückten und Gefolterten nicht wiederholen müssen. Christus ist nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Mt. 10, 34), wie es im Zusammenhang des Rufs zur Aufnahme des Kreuzes heißt. Er brachte nicht den Kissinger-Frieden, in dem die herrschende Ungerechtigkeit durch Polizeigewalt garantiert wird. Es ist kein Frieden möglich zwischen den Verhungernden und den Überfressenen. Die Abwesenheit von Krieg, die wir normalerweise Frieden nennen, braucht die gewalttätigen und brutalen Formen der Unterdrückung. Diese Rede vom Schwert, von der zu brechenden Neutralität des Schweigens, vom Ruf Christi, das Kreuz zu nehmen, ist nicht abstrakt. Ich denke an Elisabeth Käsemann, die Tochter meines Lehrers für das Neue Testament, die vor wenigen Monaten in Argentinien schwer gefoltert und dann ermordet worden ist, weil sie mehr als ich mit theologischen Worten sagen kann in dieser Realität des Kampfes des Kreuzes gelebt hat. "Wer sein Leben verliert, der wird es finden."

Die Menschlichkeit dieses Kampfes kommt aus einem umfassenden Mitleiden. Die Opfer in einer gegebenen Situation zu sehen bedeutet die Unsichtbaren sichtbar zu machen. In unserer Gesellschaft werden Leute unsichtbar, Personen werden Nonpersonen mit Hilfe der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen, die ausbeuterisch und verhüllend zur selben Zeit sind. (Leute, die Aktien in Unternehmen in Südafrika haben, wissen meist gar nicht, dass ihr Geld mithilft, die Profite und die Säuglingssterblichkeit hochzuhalten.) Unsichtbar in diesem Sinne waren zur Zeit Jesu diejenigen, die das Gesetz nicht kannten und arm mit allen Folgen wie Schuldhaft, Verkauf der Familie, Fronarbeit waren. Jesus kämpfte gegen eine Ordnung, die das Leben und die Gesundheit dieser Menschen geringer veranschlagte als die Erhaltung der Ordnung, wie sie zum Beispiel in den Sabbatgesetzen vorlag. Er relativierte die natürlichen Bindungen, er kritisierte Familie und Pietät. Was ist das Begräbnis eines Vaters gegenüber dem Kampf für das Reich Gottes? Eine neue Brüderlichkeit ersetzte die alten Familienbeziehungen, die so oft dazu benutzt werden, die Unsichtbaren, die außerhalb des Clans sind, unsichtbar zu lassen. "Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?", fragte Jesus und er zählte zu seiner Familie, die an seinem Kampf, an seiner Provokation teilhatten (Markus 3, 33 f.). Seine Freunde gehörten zu der unwissenden, analphabetischen Masse.

Ich benutze das Wort "Kampf" für Jesus und seine Tätigkeit nicht, um bewaffnete Gewalt anzusprechen. Es gibt sehr verschiedene Formen des Kampfes und der individuelle Terror einiger Ultras, wie wir ihn heute in der Bundesrepublik erleben, hat mit Klassenkampf in Ziel und Methode nicht das Geringste zu tun. Ich benutze das Wort, um die Militanz Jesu deutlich zu machen, wie sie von seinen Gegnern empfunden worden ist. Und um Jesus zu verstehen, müssen wir uns zunächst auf der Seite seiner potentiellen Gegner einordnen, einfach deshalb, weil wir als Deutsche Angehörige einer der reichsten und bestaufgerüsteten Nationen in einer Welt voll Verhungernder sind. Das Sichtbar-machen der Unsichtbaren, der Totgeschwiegenen gehört in den weiterfahrenden Prozess der Offenbarung hinein. "Niemand hat Gott je gesehen; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns vollendet" (1. Joh. 4, 12). Auf diese Weise wird das, was zuvor unsichtbar war, sichtbar.

Damit bin ich bei der dritten Dimension des Kreuzes; die geteilte Vision. Es ist nicht genug, einen individuellen Traum vom besseren Leben zu haben, wir brauchen einen mitgeteilten Traum. Wir brauchen die Erinnerung an die schon gewonnenen Siege und - gegen die totale Geschichtsvergessenheit, die den späten Kapitalismus begleitet - leben wir aus den Wurzeln in der Geschichte. Die Opfer früherer Zeiten sind mit uns und ihre ungehörten Schreie warten immer noch auf Antwort. Niemand ist zu vergessen und keine Träne umsonst geweint. Das christliche Verständnis von Geschichte kennt ein Ziel, eine Vision, die sicher nicht einfach identisch ist mit der sozialistischen Vision einer klassenlosen Gesellschaft, die aber unter keinen Umständen weniger bedeuten kann als eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Ohne diese geteilte Vision wäre es unmöglich, das Kreuz aufzunehmen, es ist diese Vision, die unsere Stärke ist. Ich spreche hier für alle diejenigen, die jetzt in diesem Augenblick gefoltert werden oder im Gefängnis auf das nächste Verhör warten, die wachsende Anzahl von Priestern und Nonnen, von Christen und solchen, die längst keine Heimat in den Kirchen mehr finden die dem Ruf Jesu gefolgt sind, den Balken auf sich genommen haben an dem man sie kreuzigen wird. Wenn es irgendwo Hoffnung für die Kirchen gibt, dann ist sie in diesen Menschen verkörpert. Ich spreche, weil ich es wichtig finde, dass wir jetzt an sie denken, weil ich glaube, dass unser Andenken, das wir auch Beten nennen können, ihnen hilft und sie trägt, auch in die Finsternisse hinein, über die wir nur schweigen können.

Dieses Wissen, dieses Andenken hilft aber auch uns in unseren vielleicht weniger dramatischen Kämpfen. Die kleine Gruppe, die Basisgemeinde, die Zelle, die ein Stück weit den Weg Jesu mitgeht, braucht das Wissen, nicht allein zu sein. Jesus sagt nach Johannes: "Ich und der Vater sind eins." Wir sollten aufhören, diese Worte in einem exklusiven christologischen Sinn zu hören. Sie sprechen aber die tiefe Starke, die uns im Kampf zufällt, die Erfahrung des Ganzseins und die Wiedervereinigung mit der Menschheit und ihren realen Hoffnungen. So transzendieren wir die Grenzen unserer individuellen Stärke, die so schnell aufgebraucht ist, und die Grenzen unserer kurzen Lebenszeit. Wir brauchen mehr Hoffnung, als wir aktuell haben, und weißgott mehr Liebe als die, die wir gegenwärtig nehmen und geben. Es ist uns keine andere Transzendenz versprochen als die, die sich im Kreuz ereignet.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen,2/78, 39. Jahrgang, S. 58ff. Wir dokumentieren den Vortrag genau 35 Jahre nachdem er gehalten wurde.

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Veröffentlicht am

07. Oktober 2012

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