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Uri Avnery: Die Judaisierung Israels

Von Uri Avnery, 9. November 2013

AN MEINEM 16. Geburtstag sauste ich zur Distrikt-Meldestelle der britischen Regierung von Palästina, um dort offiziell meinen Namen zu ändern.

Ich legte den deutschen Namen ab, den man mir bei meiner Geburt gegeben hatte, und nahm den hebräischen Vor- und Zunamen an, den ich mir ausgesucht hatte,

Das war mehr als eine bloßer Namensänderung. Es war eine Willenskundgebung: eine Scheidung von meiner Vergangenheit in der Diaspora ("im Exil" nach zionistischem Sprachgebrauch), von der Tradition meiner deutsch-jüdischen Vorfahren, von allem, was zum "Exil" gehört hatte. Damals war es die schlimmste Beleidigung, die man jemandem an den Kopf werfen konnte: "exilistisch".

Es bedeutete: Ich bin Hebräer, ich gehöre zu dem großen Abenteuer der Schaffung der neuen hebräischen Nation, der neuen hebräischen Kultur, des künftigen hebräischen Staates, der entstehen sollte, sobald das britische Kolonialregime aus dem Lande vertrieben worden wäre.

DAS WAR ganz normal. Fast alle meine Freunde und Bekannten taten das, sobald es vom Gesetz her möglich war.

Als der Staat gegründet wurde, wurde die Namensänderung zur offiziellen Politik. Niemand konnte in den diplomatischen Dienst treten oder einen höheren Posten in der Armee bekleiden, solange er einen ausländischen Namen trug.

Hätte man sich denn etwa einen israelischen Botschafter in Deutschland vorstellen können, der Berliner hieß? Oder einen israelischen Botschafter in Polen mit dem Namen Polonsky? Oder einen israelischen Ministerpräsidenten, der Grün hieß (das war Ben-Gurions früherer Name)? Einen Stabschef der Armee, der Kitaigorodsky (Moshe Dayans früherer Name) hieß? Oder einen israelischen internationalen Fußballspieler mit Namen Ochs?

Ben-Gurion war in dieser Hinsicht fanatisch. Das war vielleicht der einzige Punkt, in dem wir uns einig waren.

DIE NAMENSÄNDERUNG symbolisierte eine ideologische Grundhaltung. Der Zionismus gründete sich auf die vollkommene Negation der jüdischen Diaspora, ihrer Lebensweise, ihrer Traditionen und ihrer Ausdrucksformen.

Der Gründervater des Zionismus Theodor Herzl - er wird hier jetzt offiziell als "Visionär des Staates" bezeichnet - hatte die Vision vom vollständigen Verschwinden der Diaspora. In seinem Tagebuch sagte er voraus, dass nach der Gründung des "Judenstaates" alle Juden, die das wollten, sich in Israel niederlassen würden. Sie (und nur sie!) sollten von da an Juden genannt werden. Alle anderen würden sich schließlich ihren Gastländern assimilieren und keine Juden mehr sein. (Dieser Teil von Herzls Lehren wird in Israel vollkommen und absichtlich getilgt. Weder wird er in den Schulen gelehrt noch von Polititkern erwähnt.)

In seinen literarisch sehr wertvollen Tagebüchern machte Herzl kein Hehl aus seiner Verachtung für die Diasporajuden. Einige Passagen sind ohne jeden Zweifel antisemitisch. (Dieser Ausdruck wurde nach Herzls Geburt in Deutschland erfunden.)

Als Grundschüler in Palästina war ich von dieser ansteckenden Haltung erfüllt. Alles "Exilische" war unter aller Kritik: Das Schtetl, jüdische Religion, jüdische Vorurteile und jüdischer Aberglaube. Wir lernten, dass Exil-Juden "Luftgeschäfte" betrieben, parasitäre Aktiengeschäfte, durch die nichts Wirkliches produziert wurde, dass Juden körperliche Arbeit scheuten, dass ihre Sozialeinrichtung eine "umgekehrte Pyramide" sei, die wir dadurch umstoßen müssten, dass wir eine gesunde Gesellschaft aus Bauern und Arbeitern aufbauten.

In meiner Kompanie im Irgun-Untergrund und später in der israelischen Armee gab es keinen einzigen Kämpfer, der eine Kippa trug. Allerdings trugen einige Schirmmützen. Die Religiösen wurden bemitleidet.

Die herrschende Doktrin war, dass die Religion zwar im Laufe der Jahrhunderte tatsächlich eine nützliche Rolle gespielt habe, weil sie die Juden zusammengehalten und das Überleben des Judentums ermöglicht habe, dass aber jetzt der hebräische Nationalismus diese Rolle übernommen habe, wodurch die Religion überflüssig geworden sei. Allgemein dachte man, die Religion werde bald aussterben.

Alles Gute und Gesunde war hebräisch: die hebräische Gemeinschaft, hebräische Landwirtschaft, hebräische Kibbuzim, die "erste hebräische Stadt" (Tel Aviv), die hebräischen militärischen Untergrund-Organisationen, der künftige hebräische Staat. Jüdisch waren Requisiten des Exils: Religion, Tradition und anderes Überflüssige.

Erst als gegen Ende des Zweiten Weltkrieges das ganze Ausmaß des Holocaust bekannt wurde, verwandelte sich diese Haltung in tiefe Reue. Wir hatten Schuldgefühle, dass wir nicht genug für unsere verfolgten Verwandten getan hätten. Das Schtetl nahm den Glanz kindlicher Erinnerungen an, die Menschen begannen, sich nach dem warmen jüdischen Zuhause und nach dem idyllischen jüdischen Leben zu sehnen,

Aber sogar dann weigerte sich Ben-Gurion, die Idee zu akzeptieren, dass Juden außerhalb Israels leben könnten. Er weigerte sich, mit zionistischen Führern zu verhandeln, die im Ausland lebten. Erst als der neue Staat in schlimmen Wirtschaftsschwierigkeiten steckte und dringend jüdisches Geld brauchte, war er schließlich bereit, in die USA zu gehen und die jüdische Führung dort zu bitten, sie möge Israel zu Hilfe kommen.

SEITDEM hat das Judentum ein großes Comback gefeiert.

Die kleine Gruppe religiöser Juden, die sich am Anfang dem Zionismus angeschlossen hatte, ist jetzt eine große und mächtige "national-religiöse" Bewegung, das Zentrum der Siedler und der extremen Rechten, eine ausschlaggebende Partei in der gegenwärtigen Regierung.

Die anti-zionistische "gottesfürchtige" orthodoxe Gemeinschaft ("charedim") ist sogar eine noch stärkere Macht. Zwar haben seinerzeit alle ihre berühmten Rabbiner Herzl und seine Unterstützer verdammt und verflucht, aber jetzt benutzen sie deren Einfluss, um enorme Geldsummen vom Staat zu erpressen. Ihr Hauptziel ist es, ein eigenständiges religiöses Schulsystem zu erhalten, in dem ihre Kinder nichts außer den heiligen Schriften lernen. Sie verhindern, dass ihre jungen Männer zum Militär eingezogen werden, damit diese nicht mit gewöhnlichen Jugendlichen (und besonders nicht mit Mädchen) in Berührung kommen. Sie leben in einem Ghetto.

In einer kürzlich gesendeten alarmierenden Fernsehdokumentation wurden Demografen zitiert, die voraussagen, dass in etwa dreißig Jahren die Charedim wegen ihrer enormen Geburtenrate die Mehrheit der jüdischen Bürger Israels ausmachen würden. Das würde Israel in einen Staat verwandeln, der dem heutigen Saudi Arabien oder Iran ähnelte.

Selbst heute schon sind bestimmte Städte und Stadtteile in Israel, die von Orthodoxen beherrscht werden, an Samstag für jede Art Verkehr gesperrt. Frauen, die kurze Ärmel tragen - wie alle nicht orthodoxen Frauen im heißen israelischen Sommer - werden bespuckt und manche sogar geschlagen. EL AL fliegt nicht am Schabbat und überall im Land fahren dann weder Busse noch Bahnen.

Wenn die Orthodoxen erst einmal die Mehrheit im Staat bilden, wird das zur allgemeinen Regel. An Sonnabenden wird es weder irgendwelchen Verkehr geben noch werden an religiösen Feiertagen die Läden geöffnet sein, es wird keine nicht koscheren Lebensmittel in den Läden und Restaurants (davon gibt es jetzt viele) mehr geben, keine säkularen Gesetze, keine Möglichkeit, die Gesetze zu umgehen, die die Heirat zwischen Juden und Nichtjuden verbieten, dafür aber wird es einen strengen Moralkodex geben, den die Polizei durchsetzt.

Die säkulare Bevölkerung, die jetzt die Mehrheit ausmacht, wird wahrscheinlich aus einem solchen Land in grünere jüdische Weiden in New York oder Berlin entfliehen.

Alles das wurde diese Woche im israelischen Fernsehen gesendet.

EIN GESETZ, über das jetzt in der Knesset debattiert wird, würde die gegenwärtig gültige Doktrin, Israel sei ein "jüdischer und demokratischer Staat" umkehren und durch die Doktrin ersetzen, Israel sei "der Nationalstaat des jüdischen Volkes".

Das wird uns als Erfüllung des Zionismus präsentiert, aber in Wahrheit ist es genau die Negation des Zionismus. Der Prozess wird um 360 Grad herumgedreht und ist wieder dort angekommen, wo er begonnen hat. An die Stelle des Ghettos im Schtetl wird Israel als ein einziges großes Ghetto treten. Statt die Diaspora zu negieren, wird die gesamte Diaspora zu einem Teil Israels, ohne dass man sie gefragt hätte. Der Staat wird dann nicht mehr seinen Bürgern (also weder Hebräern noch Arabern) gehören, sondern den Juden in Los Angeles und Moskau.

Diese Idee ist natürlich lächerlich. Die Juden sind im Grunde eine ethnisch-religiöse weltweite Gemeinschaft, die 2500 Jahre existiert hat, ohne dass sie ein Heimatland gebraucht hätte. Selbst zur Zeit des Königtums der Hasmonäer lebten die meisten Juden außerhalb Palästinas. Ihre abstrakte Verbindung mit Eretz Israel entspricht der Bindung indonesischer und malischer Muslime an Mekka: Es ist der heilige Ort, der in Gebeten genannt wird, und Ziel einer Pilgerreise, aber niemand erhebt darauf Anspruch als auf einen souveränen irdischen Besitz. Bis zum Aufsteigen des europäischen Nationalismus machten die Juden jahrhundertelang keine Anstalten, sich dort niederzulassen. Das jüdische Gesetz verbot sogar eine massenhafte Einwanderung ins heilige Land.

Andererseits gründet sich der israelische Nationalismus auf ein physisches Heimatland, das mit nationaler Souveränität und Bürgerschaft verbunden ist - beide Begriffe sind der Religion fremd.

Die frühen Zionisten wurden durch die Umstände gezwungen, die beiden einander entgegengesetzen Begriffe miteinander zu verbinden. Es gab keine jüdische Nation. Palästina gehörte anderen. Aus Not erfanden sie die Formel, dass für Juden - anders als für ein anderes Volk - Nation und Religion ein und dasselbe seien. Um ihren Anspruch auf das Land zu rechtfertigen, behaupteten die Atheisten - und tun das noch immer -, dass Gott der Allmächtige vor etwa 3500 Jahren in einer Abmachung den Juden das Land versprochen habe.

Die israelische Regierung fordert jetzt als Bedingung für den Friedensschluss, dass die Palästinenser offiziell diese Formel anerkennen: "Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes". Wenn die Palästinenser das ablehnen, bedeute das, sie seien entschlossen, uns - wie Hitler es wollte - zu vernichten, und deshalb werden wir nicht mit ihnen Frieden schließen.

Ich finde das absurd. Ich möchte, dass die Palästinenser schlicht und einfach den Staat Israel anerkennen (im Gegenzug zur Anerkennung des Staates Palästina). Es ist nicht ihre Sache, wie Israel sich definiert (ebenso wenig wie es unsere Sache ist, wie sich der palästinensische Staat definiert).

Es liegt in unserem Ermessen - und nur in unserem -, zu entscheiden, ob unser Staat jüdisch oder einfach israelisch sein wird.

AN DIESER STELLE betreten die Namen wieder die Bühne.

In letzter Zeit haben nur sehr wenige Menschen hebräische Nachnamen angenommen. Die meisten behalten ihre deutschen, russischen oder arabischen Namen. Ich halte das für einen Rückschritt, ein Zurückgleiten in ein Ghetto.

Als ich diese Woche vom Armee-Radio-Sender interviewt wurde (seltsamerweise ist das der liberalste Sender im Land), griffen mich meine jungen Interviewer wegen dieser Meinung an. Sie sehen den halben Zwang zur Namensänderung, der in den frühen Tagen Israels praktiziert wurde, als Unterdrückung an, als Verletzung der Privatsphäre, ja schon fast als Vergewaltigung.

Die meisten Israelis von heute begnügen sich damit, die Namen ihrer polnischen, russischen, marokkanischen und irakischen Vorfahren beizubehalten. Ihnen ist nicht bewusst, dass diese Namen die Re-Judaisierung Israels symbolisieren.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

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Veröffentlicht am

09. November 2013

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