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Uri Avnery: Absteiger

Von Uri Avnery, 19.10.2013

DIE AN DER Geschichte der Kreuzzüge Interessierten fragen sich: Wie kam es zum Untergang der Kreuzritter? Wenn wir uns die Überbleibsel ihrer stolzen Festungen überall im Land ansehen, möchten wir das gerne wissen.

Die herkömmliche Antwort ist: Der Grund ist die Niederlage, die ihnen der große muslimische Sultan Salah ad-Din (Saladin) im Jahre 1187 in der Schlacht bei den Hörnern von Hittim - Zwillingshügeln in der Nähe des Sees Gennesaret - zugefügt hat.

Der Kreuzfahrerstaat existierte jedoch noch weitere hundert Jahre in Palästina und Umgebung.

Der zuverlässigste Historiker der Kreuzzüge, der verstorbene Steven Runciman, hat die Frage jedoch vollkommen anders beantwortet: Das Königreich der Kreuzfahrer brach darum zusammen, weil zu viele Kreuzfahrer in die Heimatländer ihrer Vorfahren zurückkehrten, während sich zu wenige den Kreuzfahrern zugesellten. Schließlich wurden die Übriggebliebenen (buchstäblich) ins Meer geworfen.

ZWISCHEN DEM Kreuzfahrerstaat, der zweihundert Jahre lang in unserem Land existierte, und dem gegenwärtigen Staat Israel gibt es große Unterschiede. Es gibt jedoch auch einige verblüffende Ähnlichkeiten. Darum hat mich die Geschichte der Kreuzfahrer immer interessiert.
Kürzlich erinnerte mich das plötzliche Interesse unserer Medien am Phänomen der Emigration an Runcimans Schlussfolgerung. Einige Kommentare grenzten an Hysterie.

Diese hat zwei Grundlagen: Erstens berichtete ein Fernsehsender über Nachkommen von Israelis im Ausland und zweitens ging der Nobelpreis für Chemie an zwei ehemalige Israelis. Beides verursachte großes Händeringen.

"Absteiger" (Yordim) ist das hebräische Wort für Emigranten. Leute, die nach Israel kommen, um hier zu leben, werden "Aufsteiger" (Olim) genannt; dieses Wort ist mit dem Wort für Pilger verwandt. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass Jerusalem auf einem Hügel liegt, der von allen Seiten von Tälern umgeben ist, sodass man "(hin)aufsteigen" muss, um dorthin zu gelangen. Aber natürlich hat dieses Wort auch eine ideologisch-zionistische Nebenbedeutung.

Vor der Gründung unseres Staates und während seiner ersten Jahrzehnte sahen wir uns als eine Gesellschaft von Helden, die mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen und die einige Kriege auszufechten hatten. Auf Leute, die uns verließen, sahen wir wie auf Deserteure herab, wie auf Soldaten, die während einer Schlacht davonliefen. Yitzhak Rabin nannte sie "Unrat".

Was die Fernsehgeschichte so erschreckend erscheinen ließ, war, dass gewöhnliche junge Israelis der Mittelschicht sich für immer in Berlin, London und New Jersey niederließen. Einige ihrer Kinder sprachen schon Fremdsprachen und verzichteten auf Hebräisch. Schrecklich!

Bis vor Kurzem wurde "absteigen" mit merkwürdigen Typen, Angehörigen der Unterschicht und anderen, die sich nicht in eine normale Gesellschaft einordnen konnten, in Verbindung gebracht. Aber diese Sendung zeigte normale, gebildete junge, in Israel geborene Paare, die gutes Hebräisch sprachen. Im Allgemeinen beklagten sie sich darüber - was eher wie eine Verteidigung klang -, dass sie in Israel nicht "über die Runden" gekommen seien, dass die Gehälter in der Mittelschicht für eine angemessene Lebenshaltung nicht ausreichten und dass die Preise zu hoch seien. Sie stellten besonders die Preise für Wohnungen heraus. Der Preis einer Wohnung in Tel Aviv entspricht 120 monatlichen Durchschnittseinkommen in der Mittelschicht.

Nüchterne Untersuchungen ergaben jedoch, dass die Emigration in den letzten Jahren abgenommen hat. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Israelis, darunter sogar eine Mehrheit arabischer Bürger, mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufrieden ist. Das sind mehr als in den meisten europäischen Ländern.

DER ZWEITE Grund für Hysterie war der Nobelpreis in Chemie für zwei amerikanische Chemie-Professoren, die in Israel aufgewachsen sind, einer von ihnen ist in einem Kibbuz geboren.

Israel ist auf seine Nobelpreisträger enorm stolz. Im Verhältnis zur Größe des Landes sind es tatsächlich außerordentlich viele.

Viele Juden sind davon überzeugt, dass die jüdische Intelligenz die aller anderen Völker übertrifft. Darüber gibt es zahlreiche Theorien. Eine davon ist, dass die Intellektuellen im mittelalterlichen Europa meist ehelose Mönche waren, also Männer, die ihre Gene nicht weitergaben. In den jüdischen Gemeinschaften geschah das Gegenteil: Die Reichen setzten ihren Stolz darein, ihre Töchter mit besonders begabten Thoragelehrten zu verheiraten. Damit ermöglichten sie deren Genen, ein Leben unter privilegierten Lebensbedingungen anzutreten.

Und hier waren nun zwei Wissenschaftler, die vor Jahrzehnten Israel verlassen hatten, um auf fremden Weiden zu grasen und ihre Forschungen an renommierten amerikanischen Universitäten fortzusetzen.

In früheren Jahren hätte man sie Verräter genannt. Jetzt veranlassen sie uns nur zu tiefer Seelenerforschung. Einer der beiden hatte Israel verlassen, weil das hoch angesehene Weizmann-Institut ihm keine Professur angeboten hatte. Warum haben wir ihn gehen lassen. Wie steht es mit allen den anderen?

Allerdings ist das kein spezifisch israelisches Problem. Intelligenz-Flucht findet überall auf der Welt statt. Ein ehrgeiziger Naturwissenschaftler sehnt sich nach den besten Laboratorien und den bestrenommierten Universitäten. Junge Geister aus aller Welt strömen in den USA zusammen. Israelis sind da keine Ausnahme.

Wir haben gute Universitäten. Drei davon stehen irgendwo auf der Liste der hundert besten der Welt. Aber wer kann schon den Versuchungen von Harvard oder MIT, dem Massachusetts Institute of Technology, widerstehen?

DIE PLÖTZLICHE Desillusionierung veranlasste die Israelis einen strengen Blick auf die israelischen Akademien zu richten. Anscheinend lassen unsere Maßstäbe auf der ganzen Linie nach. Unsere Universitäten bekommen von der Regierung zu wenig Geld, die Anzahl der Professoren und deren Kompetenzen nehmen ab. Gymnasiasten schummeln sich durch ihre Prüfungen.

Warum ist das so?

Enorme Geldmengen verschlingt das Militär, seine Forderungen steigen von Jahr zu Jahr, obwohl unsere Sicherheitslage sich ständig bessert.

Unsere ewige Besetzung der Palästinensergebiete trocknet unsere spärlichen Geldquellen aus. Und natürlich die Siedlungen. Unsere Regierung investiert riesige Geldsummen in sie. Die genaue Summe ist ein Staatsgeheimnis.

Ein kleines Land mit begrenzten Mitteln kann weder eine riesige Armee noch ein Besatzungsregime noch Hunderte von Siedlungen aufrechterhalten, ohne dass es anderswo die Mittel kürzt. Ein einziges Kampfflugzeug kostet mehr als eine Schule oder ein Krankenhaus oder ein Labor.

ABER MEINE Sorge beschränkt sich nicht auf materielle Erwägungen.

Die Menschen verlassen ihr Land nicht ausschließlich aus materiellen Gründen. Es kann ja sein, dass sie denken, sie emigrierten, weil die Lebenshaltungskosten in Berlin niedriger als in Tel Aviv sind, es leichter ist, dort als hier eine bezahlbare Wohnung zu finden, und die Gehälter höher sind. Aber nicht nur die Anziehungskraft eines fremden Landes zählt - sondern auch die Stärke oder Schwäche der Bindung an ein Heimatland spielt eine Rolle.

In den Jahren, als die "Absteiger" als Unrat betrachtet wurden, waren wir stolz, Israelis zu sein. Wenn ich in den fünfziger und sechziger Jahren bei irgendeiner Grenzkontrolle meinen israelischen Pass vorzeigte, fühlte ich mich wohl dabei. In aller Welt wurde Israel sogar von unseren Feinden bewundert.

Ich glaube, dass es ein grundlegendes Menschenrecht ist, dass man auf seine Gesellschaft, auf sein Land stolz ist. Menschen gehören zu Nationen. Selbst im global village von heute brauchen die Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort und einem bestimmten Volk. Niemand möchte sich ihrer schämen.

Wenn heute ein Israeli seinen Pass vorzeigt, fühlt er diesen Stolz nicht. Vielleicht empfindet er etwas wie Widerspruchsgeist ("wir gegen die ganze Welt"), dabei ist ihm aber bewusst, dass sein Land von vielen als Apartheidsstaat, der ein anderes Volk unterdrückt, angesehen wird. Alle im Ausland haben zahllose Fotos von schwer bewaffneten israelischen Soldaten gesehen, die palästinensische Frauen und Kinder einschüchtern. Darauf kann man nicht gerade stolz sein.

Das ist kein Thema über das irgendjemand jemals spricht. Aber es ist nun einmal vorhanden. Und es wird zwangsläufig schwieriger.

Die jüdischen Israelis sind im von Israel beherrschten Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan bereits heute eine Minderheit. Die Mehrheit der Untertanen, die aller Rechte beraubt sind, nimmt von Jahr zu Jahr zu. Notwendigerweise muss deshalb auch die Unterdrückung zunehmen. Israels Ansehen in der Welt verschlechtert sich. In Israel schwindet der Stolz.

EINE WIRKUNG zeigt sich bereits deutlich.

Eine neue repräsentative Umfrage bei amerikanischen Juden zeigt, dass die jungen Juden sich viel weniger an Israel gebunden fühlen.

Die jüdische Szene in Amerika wird von älteren berufsmäßigen Führern beherrscht, die niemals irgendjemand in dieses Amt gewählt hat. Sie üben enorme Macht auf das politische Leben in Amerika aus, ihr Einfluss in ihrer eigenen Gemeinschaft schrumpft jedoch. Junge jüdische Amerikaner sind nicht mehr stolz auf Israel. Manche schämen sich seiner.

Diese jungen Juden protestieren im Allgemeinen nicht. Sie fürchten, dass sie mit ihrem Protest den Antisemiten Munition liefern könnten. Außerdem hat man ihnen von klein auf beigebracht, dass wir Juden gegen die Goyim, die uns vernichten wollen, zusammenhalten müssen.

Deshalb schweigen sie, anstatt ihre Stimme zu erheben, verlassen ihre Gemeinden und verschwinden von der Bildfläche. Aber dieser Prozess kann sich für Israel äußerst katastrophal auswirken. Unsere Führer hängen vollkommen vom Würgegriff ab, den sie auf die amerikanischen Politiker haben. Wenn diese bemerken, dass die Unterstützung Israels durch die amerikanischen Juden abnimmt, werden sie sich schnell daraus befreien.

DER ZIONISTISCHE Teil der Gleichung hat noch einen anderen Aspekt.

Vom Zionismus wird erwartet, dass er Juden nach Israel bringt. Darum geht es dabei vor allem. Aber der Zionismus kann auch eine Straße in beiden Richtungen sein.

Israel erklärt sich selbst zum "Staat des jüdischen Volkes". De facto werden also Juden in aller Welt als Staatsangehörige Israels betrachtet. Wenn es aber keinen Grundunterschied zwischen einem Juden in Haifa und einem Juden in Hamburg gibt - warum soll einer dann in Haifa bleiben, wenn das Leben in Hamburg so viel besser zu sein scheint?

Seit Jahrzehnten agitiere ich dafür, die zionistische Theologie gegen einen einfachen israelischen Patriotismus auszutauschen. Vielleicht ist es dafür Zeit, sobald wir Israel zu einem Land gemacht haben, auf das wir endlich wieder stolz sein können.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Weblinks:

Veröffentlicht am

24. Oktober 2013

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