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Uri Avnery: Weine, geliebtes Land

Von Uri Avnery, 24. August 2013

DIESEN ARTIKEL wollte ich nicht schreiben, aber ich musste.

Ich liebe Ägypten. Ich liebe das ägyptische Volk. Ich habe dort einige der glücklichsten Tage meines Lebens verbracht.

Mir blutet das Herz, wenn ich an Ägypten denke. Und ich denke in diesen Tagen immerzu an Ägypten.

Ich kann nicht zu dem schweigen, was ich dort - nur eine Flugstunde von meinem Haus entfernt - mit ansehen muss.

GLEICH ZU BEGINN wollen wir in aller Deutlichkeit festhalten, was jetzt dort geschieht.

Ägypten ist schlicht und einfach einer brutalen, gnadenlosen Militärdiktatur in die Hände gefallen.

Nicht auf dem Weg in die Demokratie. Kein Übergangsregime. Nichts dergleichen.

Wie einst die Heuschrecken sind die Militärs über das Land hergefallen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie es freiwillig wieder herausgeben werden.

Schon zuvor besaß das ägyptische Militär enorme Vermögen und Privilegien. Es beherrscht riesige Unternehmen, steht unter keinerlei Aufsicht und zehrt vom Fett eines mageren Landes.

Jetzt haben die Militärs die Herrschaft über alles. Warum sollten sie sie aufgeben?

Diejenigen, die glauben, dass sie freiwillig die Herrschaft aufgeben werden, sollten ihren Geisteszustand überprüfen lassen.

WIR BRAUCHEN uns nur die Bilder anzusehen. Woran erinnern sie uns?

Diese Reihe von mit viel zu vielen Orden und Bändern behängten, wohlgenährten Generälen, die nie in einem Krieg gekämpft haben, mit ihren betressten, demonstrativen Schirmmützen - wo haben wir die doch schon einmal gesehen?

Im Griechenland der Obristen? Im Chile Pinochets? Im Argentinien der Folterer? In irgendeinem des Dutzends anderer südamerikanischer Staaten? Im Kongo Mobutus?

Alle diese Generäle sehen gleich aus. Die gefrorenen Mienen. Die Selbstsicherheit. Der vollkommene Glaube, sie wären die einzigen Hüter der Nation. Der vollkommene Glaube, alle ihre Gegner wären Verräter und müssten verhaftet, eingekerkert, gefoltert und getötet werden.

Armes Ägypten.

WIE KONNTE DAS geschehen? Wie konnte sich eine glorreiche Revolution in dieses ekelhafte Schauspiel verwandeln?

Wie konnten die Millionen glücklicher Menschen, die sich von einer brutalen Diktatur befreit, die den ersten berauschenden Lufthauch der Freiheit geatmet, die den Platz der Befreiung (eben das bedeutet Tahrir) in ein Fanal der Hoffnung verwandelt hatten, in diese trostlose Situation abrutschen?

Zu Anfang sah es so aus, als machten sie alles richtig. Es war leicht, sich dem Arabischen Frühling anzuschließen. Sie gingen aufeinander zu, Säkulare und Religiöse standen zusammen und trotzten den Gewalten des alternden Diktators. Anscheinend unterstützte und beschützte sie die Armee.

Aber die tödlichen Fehler waren schon offensichtlich, darauf haben wir damals hingewiesen. Es waren keine spezifisch ägyptischen Fehler. Sie waren allen neuen Volksbewegungen für Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit in aller Welt, darunter Israel, gemeinsam.

Es sind die Fehler einer Generation, die mit den "sozialen Medien", der Unmittelbarkeit des Internets und der Mühelosigkeit unverzüglicher Massenkommunikation aufgewachsen ist. Diese Dinge nährten den Sinn für mühelosen Machtgewinn, für die Möglichkeit, Dinge zu ändern, ohne den mühsamen Prozess, den es bedeutet, die Massen zu organisieren und politische Macht, Ideologie, Führung und Parteien aufzubauen. Eine glückliche und anarchistische Haltung, die leider nicht gegen wirkliche Macht aufkommen kann.

Als für einen glorreichen Augenblick die Demokratie da war und faire Wahlen bevorstanden, trat dieser ganzen amorphen Masse junger Menschen eine Kraft entgegen, die alles das hatte, was den Jungen fehlte: Organisation, Disziplin, Ideologie, Führung, Erfahrung und Zusammenhalt.

Die Muslimbruderschaft.

DIE MUSLIMBRUDERSCHAFT und ihre islamistischen Verbündeten gewannen leicht die freien, fairen und demokratischen Wahlen gegen die zusammengewürfelten, anarchischen säkularen und liberalen Gruppen und Persönlichkeiten. Das war zuvor schon in anderen arabischen Ländern geschehen, zum Beispiel in Algerien und Palästina.

Die islamisch-arabischen Massen sind nicht fanatisch, aber im Grunde religiös (ebenso wie die Juden, die aus arabischen Ländern nach Israel gekommen sind). Sie wählten zum ersten Mal in ihrem Leben und neigten dazu, für religiöse Parteien zu stimmen, obwohl sie durchaus nicht fundamentalistisch waren.

Die Bruderschaft wäre gut beraten gewesen, wenn sie anderen Parteien, darunter auch säkularen und liberalen, die Hand gereicht hätte. Damit hätte sie die Grundlage für ein haltbares, einschließendes demokratisches Regime legen können. Auf die Dauer wäre das zu ihrem eigenen Vorteil gewesen.

Anfangs schien es so, als ob der frei gewählte Präsident Mohamed Morsi das tun würde. Aber schon bald änderte er den Kurs, indem er den demokratischen Machtapparat dazu benutzte, die Verfassung zu ändern, alle anderen auszuschließen und mit der Errichtung einer alleinigen Herrschaft seiner Bewegung zu beginnen.

Das war unklug, wenn auch verständlich. Nach vielen Jahrzehnten der Verfolgung durch den Staat, nach Gefängnis, systematischer Folter und sogar Hinrichtungen, dürstete die Bewegung nach Macht. Als sie sie erst einmal hatte, konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie versuchte, alles zu verschlingen.

DAS WAR besonders darum unklug, weil das Bruderschaft-Regime neben einem Krokodil saß, das nur so tat, als schliefe es, wie Krokodile oft tun.

Am Anfang seiner Regierung vertrieb Morsi die alten Generäle, die unter Hosni Mubarak gedient hatten. Man zollte ihm dafür Beifall. Aber eben das bewirkte, dass das alte, müde Krokodil durch ein junges und sehr hungriges ersetzt wurde.

Was damals im Geist des Militärs vor sich ging, ist schwer zu erraten. Die Generäle opferten Mubarak, der einer der ihrigen war, um sich selbst zu schützen. Sie wurden der Liebling der Menschen, besonders der jungen, säkularen und liberalen Menschen. "Die Armee und das Volk sind eins!" - Wie schön. Wie naiv. Wie äußerst dumm.

Jetzt ist recht deutlich geworden, dass die Generäle während der Morsi-Monate nur auf ihre Gelegenheit gewartet haben. Als Morsi seinen tödlichen Fehler machte und ankündigte, dass er die Verfassung ändern werde, schlugen sie zu.

Alle Militär-Junten nehmen zu Beginn gerne die Pose der Retter der Demokratie ein.

Abd-al-Fatah al-Sisi hat keine aufregende Ideologie, wie sie Gamal Abd-al-Nasser (Panarabismus) hatte, als er 1952 seinen unblutigen Coup ausführte. Er hat keine Vision wie Anwar al-Sadat (Frieden), der Diktator, der die Macht erbte. Er war nicht der gesalbte Erbe seines Vorgängers, der der Fortsetzung seiner Vision verschworen war, wie Hosni Mubarak. Er ist schlicht und einfach (oder besser: nicht so schlicht und nicht so einfach) ein Militärdiktator.

HABEN WIR Israelis Schuld daran? Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan behauptet das. Das hat alles Israel angerichtet! Wir haben den ägyptischen Coup arrangiert.

Sehr schmeichelhaft, aber, ich fürchte, leicht übertrieben.

Es stimmt, das israelische Establishment fürchtet sich vor einer islamistischen arabischen Welt. Es verabscheut die Muslimbruderschaft, die Mutter der Hamas und anderer islamischer Bewegungen, die unbedingt gegen Israel kämpfen wollen. Israel unterhält intime Beziehungen zum ägyptischen Militär.

Wenn die ägyptischen Generäle ihre israelischen Kollegen und Freunde um Rat für den Coup gebeten hätten, hätten die Israelis ihnen begeistert ihre Unterstützung zugesagt. Aber sie hätten dabei nicht viel tun können.

Eines ausgenommen. Israel war es, das dem ägyptischen Militär jahrzehntelang sein großes US-Hilf-Paket gesichert hat. Israel hat durch all diese Jahre mit Hilfe seiner Kontrolle des US-Kongresses die Beendigung dieser Zuwendung verhindert. Zurzeit ist die riesige israelische Machtmaschine in den USA eifrig damit beschäftigt, die Fortsetzung der Hilfe von etwa 1,3 Milliarden Dollar US-Hilfe für die Generäle sicherzustellen. Das ist jedoch nicht so wichtig, da die Oligarchien am Arabischen Golf bereit sind, die Generäle bis an die Grenze des Möglichen zu finanzieren.

Wirklich wichtig für die Generäle ist die politische und militärische Unterstützung durch die USA. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass die Generäle, bevor sie handelten, die Erlaubnis der USA eingeholt haben, die ihnen dann auch bereitwillig gegeben worden ist.

Der Präsident der USA lenkt ja nicht tatsächlich die amerikanische Politik. Er kann schöne Reden halten und Demokratie zu einem göttlichen Status erheben, aber er kann nicht viel dazu tun. Die Politik wird vom politisch-wirtschaftlich-militärischen Komplex gemacht, für den der Präsident nur das Aushängeschild ist.

Dieser Komplex kümmert sich einen Dreck um die "amerikanischen Werte". Er dient amerikanischen (und seinen eigenen) Interessen. Eine Militärdiktatur in Ägypten dient diesen Interessen - ebenso wie sie den vermeintlichen Interessen Israels dient.

DIENT SIE ihnen wirklich? Vielleicht für kurze Zeit. Aber ein langanhaltender Bürgerkrieg - ob er nun offen oder im Untergrund geführt wird - wird Ägyptens wankende Wirtschaft ganz und gar ruinieren und die für das Land so wichtigen Investoren und Touristen fernhalten.

Militärdiktaturen verstehen nie viel von guter Staatsführung. In ein paar Monaten oder Jahren wird diese Diktatur - wie bisher alle anderen Militärdiktaturen in der Welt - zerfallen.

Bis zu diesem Tag werde ich um Ägypten weinen.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

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Veröffentlicht am

24. August 2013

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