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Wie politikfähig ist der Pazifismus? Das Potential der gewaltfreien Aktion

Von Theodor Ebert Vortrag auf der Fachtagung "120 Jahre Deutsche Friedensgesellschaft - Pazifismus gestern und heute" der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) im Pacelli-Haus in Erlangen am 2. November 2012.

Kritik der militärischen Gewalt als dem angeblich letzten Mittel

Als ich aufgefordert wurde, zum 120jährigen Jubiläum der Deutschen Friedensgesellschaft eine Art Festvortrag zu halten, habe ich als Titel vorgeschlagen: "Wie politikfähig ist der Pazifismus? Das Potential der gewaltfreien Aktion." Frohgemut haben die Veranstalter daraus festlich-affirmativ gemacht "Die Politikfähigkeit des Pazifismus". Anscheinend ist diese Politikfähigkeit für die Veranstalter keine Frage, sondern eine Tatsache. Dies kann ich verstehen. Es entspricht dem Selbstverständnis der Kriegsdienstgegner. Sie wollen nicht nur Zeugnis ablegen von ihrer pazifistischen Gesinnung, sondern auch unterstreichen, dass sie verantwortungsbewusste Bürger unserer Republik sind und auf die Politik des Gemeinwesens Einfluss nehmen wollen - und hoffentlich auch können. Als Politikwissenschaftler kann ich aber nicht umhin, auf der Frage zu beharren: Sind die Pazifisten in der Lage, die Politik so zu beeinflussen, dass ihre Konzepte nicht nur proklamiert werden, sondern auch tatsächlich die Richtlinien der Politik zu bestimmen und konkurrierende Vorstellungen zu überwinden vermögen?

Wer wagt da sogleich in den Saal zu rufen: Yes, we can! Nicht nur Barack Obama konnte nicht alles, was er wollte.

Wir Pazifisten sind in unseren Ansprüchen auch gar nicht bescheiden. Wir sind sogar anspruchsvoller als der Friedensnobelpreisträger Barack Obama. Es geht jetzt nicht darum, ob und wie Pazifisten militärgestützte Politik in einigen ihrer Erscheinungsformen zu kritisieren vermögen. Es geht also nicht darum, wie die Pazifisten Waffenexporte einschätzen und wie sie sich zu Interventionen im Kosovo, in Afghanistan oder Mali verhalten, sondern es geht um die Frage, ob die Pazifisten in der Lage sind, nach ihren Vorstellungen die Sicherheitspolitik eines Staates in seiner Gesamtheit zu gestalten.

Vielleicht erinnern sich einige noch daran, dass die Grünen bei ihrer Gründung angekündigt hatten, dass sie gewaltfreie Politik treiben wollten. Einige der ersten Bundestagsabgeordneten der Grünen haben dies auch ernst gemeint und sich wie Roland VogtRoland Vogt: Politik ohne Gewalt. Das Postulat der Gewaltfreiheit bei den Grünen. In: Christian W. Büttner u. a. (Hrsg): Politik von unten. Zur Geschichte und Gegenwart der gewaltfreien Aktion. Theodor Ebert zum 60. Geburtstag. In: Gewaltfreie Aktion, Heft 111/112, 1.u.2. Quartal 1997, S. 151-166: ders.: Gewaltfreie Politik als Beruf. Festvortrag zum 60. Geburtstag von Theodor Ebert. In: Gewaltfreie Aktion, 113/114, 3. u. 4. Quartal 1997, S. 46-54. und Petra Kelly darum bemüht, die gewaltfreie Aktion zu einem Instrument der Innen- und Außenpolitik zu entwickeln - und in diesem Bestreben waren sie 1989 auch an der Gründung des Bundes für Soziale Verteidigung beteiligt.

Zu den Trägerorganisationen dieses Bundes, der sich die gewaltfreie Verteidigung der demokratischen Errungenschaften vorgenommen hatte und daran immer noch festhält, gehörte auch die DFG-VK. Spätestens seit der Beteiligung der Grünen am militärischen Eingreifen in den Guerillakrieg um das Kosovo war aber deutlich, dass die Grünen ihr Vorhaben, sich ausschließlich gewaltfreier Mittel zu bedienen, aufgegeben haben. Das ist hier zunächst einmal eine Feststellung - keine moralische Bewertung.

Doch bei der Beobachtung dieser Entwicklung einer Partei, von der man als Wähler oder Redner im Wahlkampf, wie ich einer war, zunächst annehmen durfte, dass sie allen Ernstes gewaltfreie Politik machen wolle, muss man sich die Frage vorlegen: Haben die Grünen sich etwas vorgenommen, das gar nicht menschenmöglich ist? Ist die kategorische Ablehnung von bewaffneter Gewalt als Mittel der Politik überhaupt mit dem verantwortlichen Handeln einer Regierung vereinbar? Oder gilt das Diktum einiger angesehener deutscher Politiker wie Otto von Bismarck und Helmut Schmidt, dass man mit der Bergpredigt nun mal nicht regieren könne. Das bezog sich bei diesen Politikern nicht auf alle Seligpreisungen des Bergpredigers Jesu, sondern in erster Linie auf die dort formulierte kategorische Ablehnung der militärischen Gewalt als Mittel der Politik.

Nun wissen wir aus der Geschichte des Pazifismus, dass diejenigen, welche sich auf die Bergpredigt bezogen haben, dies nicht mit dem Anspruch getan haben, damit politisch erfolgreich zu sein. Wurden sie ob ihres Bekenntnisses verfolgt, so bedeutete dies in ihren Augen keine Widerlegung, sondern galt als Etappe auf dem Weg zum Heil. "Selig sind die da Verfolgung leiden." Wer kennt nicht diese Arie aus Wilhelm Kienzls "Evangelimann". "Selig sind, die Verfolgung leiden, … denn ihrer ist das Himmelreich." Auch Menschen mit dieser Grundhaltung können - mehr indirekt als direkt - politischen Einfluss ausüben, aber die Benennung der Bergpredigt als Grundlage des politischen Handelns, ist kein ausreichender Beweis für die Politikfähigkeit des Pazifismus.

Das gilt erst recht in einer säkularisierten Gesellschaft wie der deutschen, in der man das Zitieren Jesu kaum noch mit dem Anspruch verbinden kann, dass hier der Heiland der Welt gesprochen habe und wir Punktum seine Nachfolge anzutreten hätten - ohne weiter über seine Worte zu klügeln und deren Befolgen von den jeweiligen Erfolgsaussichten abhängig zu machen.

Solche Nachfolger Jesu hat es gegeben und es gibt sie vielleicht noch, aber sie sind in der Gegenwart sicher nicht mehr die Tonangebenden. Ich verzichte darum auch auf eine theologische Diskussion des pazifistischen Anspruchs - zumal es die staatstragenden Kirchen mit dem Pazifismus nicht so genau nehmen, sondern höchst fragwürdige Wege beschreiten, wenn es um die Rechtfertigung militärischer Gewalt geht.

Zum Beispiel will es mir nicht einleuchten, dass man - und ich denke hier an Bischof Wolfgang Huber, den ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD - die militärische Gewalt als Ultima Ratio rechtfertigt - mit der Maßgabe, dass sie eben nur noch als letztes, als allerletztes Mittel in Frage komme. Die Tücke dieser angeblichen Ultima Ratio ist doch, dass man sie als letztes Mittel nur dann einsetzen kann, wenn man auf diesen Einsatz jeweils auf dem jüngsten Stand der Militärtechnik und der soldatischen Ausbildung vorbereitet ist. Und diese Vorbereitungen auf das letzte Mittel sind geeignet, die Anstrengungen zur Entwicklung alternativer Fähigkeiten aufzufressen. Man vergleiche nur die Aufwendungen für das Militär mit den Aufwendungen für den zivilen Friedensdienst. Wer diese Diskrepanz ignoriert und die Existenz der Bundeswehr als Ultima Ratio rechtfertigt, ist - mit Verlaub - ein Ideologe, ein Wortkünstler des falschen Bewusstseins.

Doch wenn wir dies als Pazifisten sagen, sind wir damit noch nicht aus dem Schneider. Wer Waffengewalt als Ultima Ratio oder auch als das vorherrschende Mittel der Politik ausschließt, muss eine Antwort suchen auf die Frage, wie er sich Politik vorstellt, wenn die politischen Gegner - knallhart und ohne Rücksicht auf Verträge und internationale Institutionen - unter Androhung von Gewalt ihren Willen durchzusetzen suchen. Bleibt dann den Pazifisten im äußersten Falle nur die Kapitulation bzw. der Verzicht auf die Hilfeleistung für an Leib und Leben Bedrohte?

Es genügt jedenfalls nicht, dass wir auf Verträge und Institutionen hoffen. Wie sollen wir diejenigen, welche die Verträge und die Frieden stiftenden Institutionen missachten, in die Schranken weisen? Sind diejenigen, die sich nicht wehren können, nicht beliebig erpressbar?

Was man nach aller Erfahrung nicht annehmen darf, ist das grundsätzlich friedliche Verhalten aller. Es wird sehr wahrscheinlich immer Einzelne oder Gruppen geben, welche Gewalt anwenden, um ihre Interessen durchzusetzen.

Die Versuche, die Gewalt als Mittel der Politik einzudämmen, hat eine lange Geschichte. Um das Faustrecht zu steuern, erhielten bestimmte staatliche Organe das Gewaltmonopol - in der Regel innenpolitisch die Polizei und außenpolitisch das Militär. Die meisten Deutschen glauben heute: Das geht grundsätzlich nicht anders - und doch sind sie skeptisch: Sie glauben nicht, dass es lange gut geht. Und so gibt es in Deutschland eine hoch entwickelte Militärkritik - auch ausgeweitet auf die Polizei und andere staatliche Sicherheitsorgane, wie den Verfassungsschutz.

Doch auch die Skeptiker meinen nicht umhin zu können Folgendes zuzugestehen: Wer die bewaffnete Aktion als letztes, als allerletztes Mittel ins Auge fasst, muss dieses äußerste Mittel effizient gestalten. Man muss sich von vornherein auf das Schlimmste - also den worst case - einstellen und sich dafür ausrüsten.

Wäre ich ein Jugendoffizier, würde ich beim Auftritt in einer Schule folgendermaßen argumentieren: Alle Bergtouristen hoffen auf schönes Wetter, doch wenn bei einer längeren Tour ein Wetterumschwung möglich ist, muss man sich um die passende Regenkleidung kümmern - in der Hoffnung, dass sie auch entwickelt wurde - und man muss die Regenkleidung schon in der Talstation einpacken, auch wenn die Sonne scheint. Diese Ausrüstung ist dann die Ultima Ratio für den Schlechtwetterfall.

Was soll man dazu sagen? Es gibt eine gemäßigte, sozusagen sozialdemokratische und eine radikale Variante.

Zunächst zur gemäßigten Version. Die Militärkritik warnt hier - noch im Rahmen der Ultima-Ratio-Argumentation - vor Fehleinschätzungen. Man weist hin auf hypertrophe Entwicklungen. Um im Bilde zu bleiben: Man kann sich eine Bergausrüstung zulegen, die so schwer oder so teuer ist, dass sie ihrer Funktion, das Bergwandern zu ermöglichen, nicht mehr gerecht wird und an ihr nur noch die Ausrüster der Möchte-gern-Globetrotter verdienen.

Auf diese Weise kann man bestimmte Waffensysteme, bestimmte Waffenexporte und auch Militärmissionen kritisieren. Doch Pazifismus im strengen Wortsinn ist das nicht.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Was ist die radikale Alternative? Ich habe diesen Ausweg im Untertitel meines Vortrags angetippt: "Das Potential der gewaltfreien Aktion".

Die Forschungen Professor Gene Sharps

Dahinter steckt meinerseits nicht nur die Hypothese, sondern die grundlegende Behauptung, dass Macht nicht allein aus Gewehrläufen kommt, sondern auch dadurch entsteht, dass Menschen sich - trotz bewaffneter Bedrohung - zu konstruktiven Aktionen oder auch zu Verweigerungshandlungen zusammenschließen können.

Der Amerikaner Gene Sharp, der kürzlich den alternativen Friedensnobelpreis, den Right Livelihood Award, erhielt, spricht hier von acts of omission und von acts of commission. Acts of omission sind Unterlassungshandlungen - also z.B. Streiks oder Boykottaktionen. Acts of commission sind Einsatzhandlungen, also z.B. Aufmärsche und sit-ins. Die Unterlassungs- und die Eingriffshandlungen sind beides Formen der gewaltfreien Aktion, wenn sichergestellt ist, dass auf Sanktionen nicht mit Gewalt geantwortet wird, sondern mit der Bereitschaft, die Sanktionen zu ertragen und den Widerstand nach Möglichkeit in der einen oder anderen Form fortzusetzen. Mit diesen gewaltfreien Aktionen verbindet sich die Erwartung: Die Gegenseite wird auf kurz oder lang einsehen müssen, dass sie ihren Willen nicht durchsetzen kann und dass es in ihrem Interesse ist, mit den Trägern der gewaltfreien Aktion zu einem Arrangement zu kommen.

Das Arsenal der gewaltfreien Aktion

Die Möglichkeiten, mit gewaltfreien Aktionen Macht von unten auszuüben und den Sanktionen Stand zu halten, werden unterschiedlich eingeschätzt. Da gibt es keine abschließenden Auskünfte.

Wenn man die Diskussion überblickt, lässt sich feststellen, dass das theoretische Wissen und die praktische Erfahrung auf dem Felde der gewaltfreien Aktion in den letzten 50 Jahren - und dies ist der Zeitraum, den ich persönlich überblicke - exponentiell gewachsen sind. Ein Ausdruck dieser Entwicklung ist wie gesagt, dass der heute 85jährige Amerikaner Gene Sharp vor ein paar Wochen den Right Livelihood Award erhalten hat. Der Preis ist in seinem Falle mit 50.000 Euro dotiert. Sharp, der nur noch eine einzige Mitarbeiterin hat und der über viele Jahrzehnte knapp bei Kasse war, kann das Geld wirklich gut gebrauchen. Aber er hat mir sogleich gemailt, dass er dabei ist, eine neue Broschüre zur Wirkungsweise der gewaltfreien Aktionen herauszubringen.

Ich bin glücklich, dass sein Lebenswerk diese Anerkennung gefunden hat und dass auf diese Weise auch die Methode der gewaltfreien Aktion weitere internationale Aufmerksamkeit findet.

Wenn ich an unsere beider erste Begegnung in Oxford im Oktober 1962 zurückdenke, dann ist diese Entwicklung der gewaltfreien Aktion und die weltweite Aufmerksamkeit für diese Alternative zur militärischen Gewalt so erstaunlich wie erfreulich.

Wir beide, er war 35, ich 25 Jahre alt, hatten damals bei unserem ersten, volle zwei Tage dauernden Forschungsgespräch unter vier Augen - unterbrochen durch gemeinsames vegetarisches Kochen - zwar das sichere Gefühl, dass wir zusammen auf der richtigen Spur sind und dass wir durch unsere Forschungen und unsere Mitwirkung in gewaltfreien Bewegungen soweit kommen könnten, dass in Zukunft die Waffengewalt durch gewaltfreie Aktionen ersetzt werden kann, aber wir konnten 1962 auf weit weniger Erfolgsbeispiele verweisen als heutzutage. Wir hatten als Vorbild in erster Linie Gandhi, dessen Schriften wir studierten. Martin Luther King war in Deutschland noch wenig bekannt. Es gab noch nicht den gewaltlosen Widerstand gegen den Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in Prag im Sommer 1968. Und dieser Widerstand, so sehr er viele überrascht hatte, schien dann doch der geballten Militärmacht nicht Stand halten zu können.

Mein Münchener Kollege Kurt Sontheimer nahm das Ende des Prager Frühlings zum Beweis für die letztendliche Ohnmacht der gewaltfreien Aktion. Zwanzig Jahre später erwiesen sich die gewaltfreien Aufstände in ganz Osteuropa den Panzern gewachsen. Die militärische Gewalt hatte damit aber noch nicht ausgedient.

Der Zerfall Jugoslawiens, die ethnischen Konflikte und das Massaker von Srebrenica signalisierten, dass noch keine ganz neue Zeit angebrochen war. Immerhin mussten auch nach dem Ende des Sowjetregimes noch einige autoritäre Regime mehr oder weniger gewaltfreien Aufständen weichen - in Serbien, in der Ukraine, in Georgien und neuerdings in Tunesien und Ägypten. Diese Erfolge waren wohl ausschlaggebend für die Anerkennung Gene Sharps als Theoretiker des gewaltfreien Widerstands. Die Broschüre "From Dictatorship to Democracy" hat eine weltweite Verbreitung erreicht. Jeder kann sie im Internet herunterladen.

Das ist gut. Bei solch anregenden Broschüren sollte man jedoch bedenken, dass sie ein sorgfältiges Studium dieser Methode der gewaltfreien Aktion und ihr Einüben in Trainingsgruppen nicht ersetzen können. Die Anwendung und die Hinnahme von Gewalt verbindet sich mit autoritären Charakterstrukturen. Diese zu überwinden ist nicht die Sache weniger Aufstandswochen, sondern kann Jahrzehnte der nichtautoritären Erziehung und der demokratischen Graswurzelarbeit in Bürgerinitiativen erfordern.

Ich freue mich über die Popularität von Gene Sharps Broschüre "From Dictatorship to Democracy", aber als Wissenschaftler, der 50 Jahre lang die Wirkungsweise gewaltfreier Aktionen erforscht - und dies immer wieder auch mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung unternommen hat - muss ich jedoch darauf hinweisen, dass das Hauptwerk Gene Sharps "The Politics of Nonviolent Action" drei Bände umfasst und studiert sein will. Darin hat Sharp 198 Methoden der gewaltfreien Aktion beschrieben und mit Beispielen belegt.

Vieles lässt sich schnell lernen und trainieren, und manchmal genügt schon die Nachahmung des im Fernsehen Vorgeführten. Doch ein Crashkurs in gewaltfreier Aktion ist doch nur eine Schnellbleiche, die eine jahrelange Beteiligung in einem grass root movement, also in einem Netzwerk von Bürgerinitiativen und Protestgruppen, nicht wirklich ersetzen kann. Darum wundert es mich nicht, dass es in der Ukraine und anderswo Rückschläge gab und an der Demokratisierung des Landes weiter gearbeitet werden muss. Mit dem Prädikat "gewaltfreie Revolution" sollte man vorsichtig sein. Eine grass root revolution dauert länger, aber sie ist dann auch nachhaltiger.

Natürlich hätte ich jetzt Lust von der gemeinsamen Arbeit mit Gene Sharp zu berichten und solche Ermunterung täte uns wohl allen gut, aber dazu ist heute Abend keine Zeit. Ich halte mich an die vernünftige Vorgabe: Nicht länger als 40 Minuten!

Wer sich für die Entwicklung der gewaltfreien Aktion in Deutschland interessiert, kann vieles in den 42 Jahrgängen der Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion. Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit" nachlesen. Diese Zeitschrift ist für die deutschsprachige Friedensforschung das Gedächtnis der gewaltfreien Aktion, und ich bin dem Versöhnungsbund und dem Hamburger Archiv Aktiv dankbar, dass sie über so viele Jahrzehnte diese Zeitschrift am Leben erhalten haben. Es gab nur ehrenamtliche Mitarbeit und nie ein Honorar auch für ganz hochkarätige Beiträge. Im englischen Sprachraum gibt es leider nichts direkt Vergleichbares und viele unserer Erkenntnisse sind unter denjenigen, welche die deutsche Sprache nicht verstehen, noch wenig bekannt. Früher musste man deutsch verstehen, um Philosophie studieren zu können. Ähnliches gilt meines Erachtens heute für das Studieren der gewaltfreien Aktion.

Wie weit sind die Deutschen beim Einsatz der gewaltfreien Aktion?

Man kann sich nun allerdings fragen, woran es denn liegt, dass aus diesen Erfahrungen und Erkenntnissen in Deutschland selbst so wenig gemacht worden ist. Ich schiebe nicht alles auf die äußeren Umstände. Ich sehe da auch persönliches Versagen. Auch die Friedensforscher und die Basisaktivisten haben sich mit dem System arrangiert und sich daran gewöhnt, dass es zu keinen Katastrophen kam und dass schon ein maßvoller Einsatz in den sozialen Bewegungen passable Ergebnisse zeitigte. Zugegeben, man kann nicht immer hochtourig in sozialen Bewegungen aktiv sein - sonst endet man wie Petra Kelly, aber im Rückblick habe ich doch das Gefühl: Wir - auch gerade ich selber - hätten mehr Druck machen können. Wir Pazifisten haben mit unserem Pfund der gewaltfreien Aktion nicht genügend gewuchert.

Es gab immer wieder hoffnungsvolle Ansätze. Aus der Friedensbewegung ist 1988/89 als Dachorganisation der pazifistischen Gruppen, die auf die gewaltfreie Aktion als letztes Mittel setzten, der Bund für Soziale Verteidigung hervorgegangen. Auch die Deutsche Friedensgesellschaft, der Versöhnungsbund und Pax Christi waren mit von der Partie. Wir wollten auf den Moment vorbereitet sein, dass deutsche Parteien sich entschließen sollten, in der Regierungsverantwortung gewaltfreie Politik zu machen. Unser Problem war, dass es zwar bei den Grünen und in der SPD einige Politiker gab, welche es damit ernst meinten, dass aber die Parteien als Ganze wenig unternahmen, um sich und ihre Wählerbasis auf die gewaltfreie Politik als Regierende vorzubereiten. Und in der Friedensbewegung hat man sich eingebildet, nach der Auflösung des Warschauer Paktes könne man die "Bundesrepublik ohne Armee" proklamieren - ohne eine effiziente gewaltfreie Alternative parat zu haben. Die Schwierigkeiten, sich im Rahmen der NATO amerikanischen Pressionen zu widersetzen, wurden unterschätzt.

Die Beteiligung der rot-grünen Regierung Schröder-Fischer am Krieg gegen Jugoslawien war dann das Ende der angeblich gewaltfreien Politik der Grünen. Davon ist fast nichts mehr übrig geblieben.

Doch was wäre die Alternative gewesen? Wichtig wäre gewesen, dass man sich der Dimension des Problems vergewissert hätte. Wer in Krisen Politik machen will, bedarf eines Instrumentariums, mit dem sich diese Krisen bearbeiten lassen. Stalin hat bei Verhandlungen mit seinen westlichen Verbündeten auf deren Versuch, den Papst ins Spiel zu bringen, süffisant mit der Frage reagiert: Wieviele Divisionen hat der Papst?

Die analoge Frage eines Bundeskanzler Schröder oder gar eines George W. Bush hätte lauten können: Wieviele Divisionen hat die Friedensbewegung bzw. welche politischen Kräfte kann die Friedensbewegung ins Feld führen?

Sage keiner, die Friedensbewegung wäre zur Zeit der Regierung Schröder-Fischer eine quantité néglieable gewesen. Die Weigerung Schröders, sich am Irakkrieg zu beteiligen, hatte einen starken Rückhalt im Potential der deutschen Friedensbewegung. Es gab die Erfahrung mit Großdemonstrationen und es gab eine weit verzweigte gewaltfreie Graswurzelarbeit - deutlich abzulesen an der Verbreitung der Friedenswochen bzw. der Friedensdekaden in der DDR und es gab die Eskalation der Zahl der Kriegsdienstverweigerer.

Doch es gab Konflikte, denen die Friedensbewegung ziemlich hilflos gegenüberstand. Was tun, wenn im ehemaligen Jugoslawien ethnische Auseinandersetzungen eskalieren? Was tun, wenn im Kosovo aus der gewaltlosen Nonkooperation mit dem Regime von Milosevic ein Guerillakrieg zu werden droht? Oder was tun, wenn in den neuen Bundesländern die Rechtsextremisten "national befreite Gebiete" schaffen?

Es ist nicht so, dass die Pazifisten ganz und gar ratlos gewesen wären. Es gab viele konstruktive Initiativen, aber sie vermochten sich gegen die herrschende Politik der polizeilichen, geheimdienstlichen und militärischen Ultima Ratio nicht durchzusetzen. Alles in allem war die pazifistische gewaltfreie Graswurzelarbeit zu klein dimensioniert.

Der Zivile Friedensdienst

Das galt auch für das Konzept des Zivilen Friedensdienstes, der bei den rot-grünen Koalitionsverhandlungen im Ansatz initiiert werden konnte. Als Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg war ich an der Entwicklung des Konzeptes maßgeblich beteiligt gewesen. Wir hatten den Zivilen Friedensdienst perspektivisch als eine vollwertige Alternative zum Militär - und nicht als dessen Ergänzung - verstanden. Die Wehrpflichtigen sollten wählen können zwischen der militärischen Ausbildung und der Ausbildung für die gewaltfreie Konfliktbearbeitung im In- und Ausland.

Die Kopplung des Zivilen Friedensdienstes mit der allgemeinen Wehrpflicht war keine ganz glückliche Lösung des Problems, dass eine große Zahl von Menschen für den Dienst ausgebildet werden sollten. Was aber dann daraus gemacht wurde, war erst recht unzulänglich. Mit dem Zivilen Friedensdienst in seiner gegenwärtigen Form hat man ein viel zu kleines Brötchen gebacken. Übrig geblieben ist von der ursprünglichen Alternative zum Militär und zu Großeinsätzen der Polizei ein ganz klein dimensionierter Auslandseinsatz weniger Fachleute für gewaltfreie Konfliktbearbeitung. Das Militär entsendet Tausende und erhält Milliarden, der ZFD entsendet nur Dutzende und erhält nur einen winzigen Bruchteil der Mittel für das Militär. So kann die neue Qualität des gewaltfreien Einsatzes sich gegen die schiere Quantität des Militärischen nicht durchsetzen.

Dürfen wir denn hoffen, dass sich dies ändert, wenn es im kommenden Jahr zu einem Regierungswechsel kommen sollte? Wenn wir nicht Druck machen, bleibt alles beim Alten und es wird schlimmer, weil dem Militär und Großeinsätzen der Polizei immer neue Aufgaben zuwachsen.

Die Pazifisten haben das Problem nicht erkannt bzw. sie resignieren angesichts der Stimmung in der Bevölkerung. Die allgemeine Wehrpflicht wurde (ersatzlos) abgeschafft bzw. ausgesetzt. Es ist ziemlich bequem, Berufssoldaten mit Sondervergünstigungen auf Auslandseinsätze zu entsenden. Und der Bundespräsident lobt sie als die neuen Mutbürger. Herrgott nochmal: Das ist Kriegspropaganda vom Feinsten - aus dem Munde eines Pfarrers. Hin und wieder ein bisschen Talk bei Anne Will, ein bisschen Mitgefühl für Traumatisierte und im Übrigen kann die Bundesregierung es sich leisten, die Einmischung in einen weiteren Bürgerkrieg in Mali anzukündigen und auf deutschen Truppenübungsplätzen den Häuserkampf im Stile von Aleppo zu trainieren. Millionen werden dafür ausgegeben, Straßenkampfgelände zu bauen. Da geht es natürlich nicht um Straßenkampf in Erlangen, sondern man will deutsche Soldaten ausbilden, in Städten des mittleren Ostens oder in Afrika zu kämpfen bzw. die Einheimischen für solche Kämpfe zu schulen.

Es könnte sein, dass Wehrpflichtige sich geweigert hätten, diesen Unfug mitzumachen, aber wenn der Sold stimmt und das Einsatzrisiko dank Drohnen etc. überschaubar ist, dann werden die neuen Mutbürger uns noch Mores lehren.

Was sollen wir tun? Jedenfalls müssen wir als Pazifisten sehr viel mehr tun als bisher. Die gewaltfreie Aktion als letztes Mittel des Volkes ist keine love parade, sondern ein Trainingscamp, in dem man den gewaltfreien Umgang mit gewalttätigen Provokationen lernt.

In der Erwartung der Einrichtung eines Zivilen Friedensdienstes für Wehrpflichtige hatte ich am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin in den Jahren 1992 und 1993 und dann noch einmal in den Jahren 1995 und 1996 mit einer zweisemestrigen Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktbearbeitung experimentiert. Der Projektkurs bestand aus einer Kombination von gruppendynamischen Übungen und einer Vorlesung über die Strategie und Taktik der gewaltfreien Konfliktaustragung. In diesem Pilotprojekt war das praktische Training begrenzt auf 12 Teilnehmer - 6 Frauen - 6 Männer. Geleitet wurde der Kurs von einer Trainerin und einem Trainer. Alle hatten die Aufgabe, die Übungen und die dabei gemachten Erfahrungen in einem Werkstattbuch von Woche zu Woche so zu notieren, dass sie von anderen, die noch nicht beteiligt werden konnten, nachzuahmen waren. Ich selbst habe mich am Schreiben dieses Werkstattbuchs auf derselben Augenhöhe mit den Studenten beteiligt und ich habe mein Werkstattbuch dann auch veröffentlicht. Es gibt meines Wissens nichts Vergleichbares. Trotz der erzählenden Elemente wurde aus "Ziviler Friedensdienst - Alternative zum Militär", erschienen 1997 im Agenda Verlag in Münster (332 Seiten), kein Bestseller. Das 332 Seiten umfassende Buch ist in keiner Zeitung oder Zeitschrift besprochen worden. Sharp ist es übrigens mit seinen Veröffentlichungen kaum anders ergangen.

Für das wissenschaftliche Arbeiten von Politologen war es ungewöhnlich, dass in das Werkstattbuch auch Tagebuchnotizen eingefügt wurden. Sie sollten die Akteure in ihrem Alltag und in ihren außeruniversitären Beziehungen zeigen. So wurde von Zwischenfällen in der U-Bahn und von harschen Streitigkeiten in Wohngemeinschaften berichtet, und ein Taxi fahrenden Student rekonstruierte gefährliche Situationen bei nächtlicher Fahrt.

Die Beteiligten waren überrascht von der Fülle der möglichen gewaltfreien Reaktionen, mussten aber auch erkennen, dass das Training noch nicht zu der angestrebten Verhaltenssicherheit in bedrohlichen Situationen geführt hat.

Einige hatten das Training skeptisch begonnen und waren nach zwei Semestern auch noch nicht überzeugt, ganz und gar auf dem richtigen Wege zu sein. Einig waren wir uns aber darin, dass in der gewaltfreien Aktion ein Riesenpotential steckt, man aber auch Zeit und Geld investierten muss, um zu gesellschaftlich relevanten Ergebnissen zu gelangen.

Ich möchte unsere Situation am Ende des Kurses mit dem eines Kaiserstühler Winzers vergleichen, der in der Nachbarschaft des in Wyhl geplanten AKW einen Sonnenkollektor auf sein Scheunendach montierte, um anzudeuten, welche Alternative zur Atomenergie er sich wünscht. Unser Kurs war ein Pilotprojekt, so wie der Sonnenkollektor ein Hinweis auf das Potential der Sonnenenergie war. Doch wenn es auf dem Felde der gewaltfreien Aktion zu einer Energiewende kommen soll, bedarf es Investitionen in ganz anderen Dimensionen als bislang.

Ich muss gestehen: Ich bin ein wenig ratlos. Ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll. An die Universität mit ihren verschulten Studiengängen und diesem Trara um ein paar Plagiate passen Trainingskurse nicht mehr. Training ist Nachahmung, ist Abschreiben. Der Nachweis der Originalität ist dann, dass man seinen Kopf riskiert für das, was man gelernt oder abgekupfert hat. In gewaltfreien Aktionsgruppen wurden alle Erkenntnisse schon vor der Veröffentlichung ausgetauscht. Wer etwas zuerst gesagt und geschrieben hat, war nicht wichtig. Hauptsache es funktionierte und brachte uns dem politischen Erfolg näher. Natürlich haben wir auch auf weiterführende Literatur hingewiesen, aber wenn andere meine Vorstellungen aufgriffen, ohne mich in einer Fußnote zu würdigen, war mir dies nicht bloß egal, es freute mich: Wundervoll, die gewaltfreie Aktion breitet sich aus. Je mehr sich damit identifizieren, desto besser!

Beispiele für den Einsatz gewaltfreier Aktivisten

Unser Problem ist ein ganz anderes: Wer soll die Absolventen einer Ausbildung in gewaltfreier Konfliktbearbeitung einsetzen? Sie wollen eine Leistung für die Gemeinschaft erbringen, aber ist die Gesellschaft auch bereit, sie für diese Leistung zu alimentieren. Sie sollen und wollen ja nicht reich werden, aber sie wollen kultiviert leben und eine Familie ernähren können. Und jetzt die Frage: Wo sind die Politiker, die eine Antenne haben für den Aufbau einer gewaltfreien Alternative? Einzelne können als Basisaktivisten durchs Leben kommen, weil Ehepartner oder Verwandte und gleich gesinnte und gut verdienende Freunde für das Einkommen sorgen. Auch dafür gab und gibt es Pilotprojekte.

Ich habe die exemplarische Untersuchung eines solchen Lebenslaufes als Dissertation vergeben können. Ich zitiere: "Ulrich Philipp: Politik von unten. Wolfgang Sternstein. Erfahrungen eines Graswurzelpolitikers und Aktionsforschers", erschienen 2006 im Nora-Verlag. Es müsste viele Sternsteins geben, aber sein Weg, sich und seine Familie zu finanzieren, ist keine Lösung für die Institutionalisierung eines Zivilen Friedensdienstes. Da brauchen wir meines Erachtens ein staatliches Programm - wie wir eben für die Schulbildung auch ein staatliches Programm brauchten und die Volksbildung nicht den Klosterschulen überlassen konnten.

Ich möchte Ihnen zum Abschluss an einem Beispiel zeigen, welches Potential in der gewaltfreien Aktion steckt und wie wichtig eine größere Zahl von ausgebildeten, staatlich finanzierten Mitgliedern eines Zivilen Friedensdienstes wäre.

Im September 2007 habe ich an einer Reise ins frühere Jugoslawien teilgenommen, um die Arbeit des Zivilen Friedensdienstes vor Ort kennen zu lernen. Mein Reisebericht ist als Sonderheft 152 in der Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion" erschienen.

Wir besuchten auch das Kosovo und machten Station in Prizren. Das ist der Ort, an dem die KFOR-Soldaten der Bundeswehr stationiert waren und noch sind. Unabhängig davon hatten auch zwei Mitarbeiter des Zivilen Friedensdienstes dort ihre Arbeit aufgenommen. Ein Ziel war, serbische Flüchtlinge bei der Rückkehr nach Prizren zu unterstützen.

Wir sprachen in Prizren neben anderen mit Silke Maier-Witt. Sie hatte sich eine Zeitlang bei der Roten Armee Fraktion engagiert, war ausgestiegen, hatte sich in die DDR abgesetzt und nach der Wende eine fünfjährige Gefängnisstrafe verbüßt und dann eine Ausbildung für den Zivilen Friedensdienst absolviert. In Prizren arbeitete sie mit albanischen Frauen zusammen. Ihr Bestreben war, das friedliche Zusammenleben von albanischen und serbischen Familien zu fördern. Sie war damit auf gutem Wege, als ein Zwischenfall in Mitrovica im März 2003 die Emotionen aufwühlte. Auch in Prizren schwenkten Albaner rote Adler-Fahnen und fackelten serbisch-orthodoxe Kirchen und die Privathäuser serbischer Familien ab. Die KFOR-Soldaten griffen nicht ein. Sie waren für einen polizeiähnlichen Einsatz nicht ausgebildet. Sie hätten nur schießen oder sich unbewaffnet dazwischen werfen können. Das wollten oder konnten sie nicht.

Nach Auskunft von Silke Maier-Witt wäre dies die Stunde der Frauen gewesen. Sie hätten die männlichen Fanatiker wahrscheinlich aufhalten können. Aber sie waren noch nicht so weit. Die Frauen missbilligten zwar die Ausschreitungen, aber sie wagten nicht einzugreifen und die Stimme zu erheben. Eine einzelne Mitarbeiterin vom Zivilen Friedensdienst kann da auch keine Wunder vollbringen. Wäre ein Dutzend ausgebildete Mitarbeiterinnen des Zivilen Friedensdienstes vor Ort gewesen, hätten sie zusammen mit den albanischen Frauen einen gewaltfreien Einsatz wagen oder - besser noch - im Vorfeld die Ausschreitungen verhindern können.

Man braucht Erfahrung im Organisieren von Nachbarschaften. Der Einsatz darf nicht zu kurz befristet sein, und man braucht mehr als ein paar Einzelkämpfer. Silke Maier-Witt hat das Vertrauen der armen albanischen Frauen unter anderem dadurch gewonnen, indem sie ihnen bei Krankheitsfällen half und auch mal die erforderlichen Medikamente aus eigener Tasche zahlte. Das ist Graswurzelarbeit. Das ist etwas ganz anderes als im Jeep Patrouille zu fahren oder gar - wie bald in Mali - einheimische Soldaten auszubilden.

Es gibt seit Gandhis Zeiten Erfahrungen, wie man mit ethnischen und religiösen Konflikten gewaltfrei umgehen kann. Als ich 1997 sechs Wochen auf den Spuren Gandhis durch indische Dörfer und Kleinstädte reiste, wurde mir von den Einsätzen der Shanti Sainiks, also diesen gewaltfreien Basisaktivisten, berichtet. Die Konfliktlagen ähneln sich. Mit Gerüchten werden Emotionen aufgewühlt, ein Mob bildet sich und schlägt angeblich Schuldige tot oder zündet Behausungen an. Und dann kommt es leicht vor, dass die Presse diese Gerüchte auch noch verstärkt, indem sie aus den Gerüchten - ohne sorgfältig zu recherchieren - Tatsachen macht. In einer Kleinstadt im Staate Bihar wurde berichtet, dass die Moslems den Hindu-Frauen die Brüste abschneiden. Was tun? Hingehen und den Redakteuren an den Kopf werfen, dass sie Lügen verbreiten? Die Shanti-Sainiks gingen schon zur örtlichen Zeitung, betonten jedoch ihre Betroffenheit und Hilfsbereitschaft. In ihren Reihen seien Ärztinnen und Krankenschwestern. Wo denn die Frauen die verletzten Frauen seien. Sie würden gerne helfen.

Wenn man Soldaten in Krisengebiete schickt, sind diese in der Regel nicht in der Lage, in persönlichen Gesprächen zu vermitteln. Ein schwer bewaffneter Soldat, der durch ein Dorf in Afghanistan patrouilliert, vermag an der Grundkonstellation des Konfliktes wenig zu ändern. Man muss die Sprache und die örtlichen Bräuche kennen. Silke Maier-Witt hat albanisch gelernt, sonst hätte sie mit den Frauen von Prizren doch gar nicht sprechen können.

Ich habe kein Rezept, was in Mali der Zivile Friedensdienst anstelle der Bundeswehr zu leisten vermöchte, aber ich bin ziemlich sicher, dass die Ausbildung einheimischer Soldaten ein kostspieliges und wenig Erfolg versprechendes Mittel ist, um islamischen Fundamentalisten Grenzen zu setzen. Der Berliner Tagesspiegel hat heute einen grimmigen Kommentar zu einem möglichen Engagement deutscher Militärs geschrieben unter der Überschrift "Die Bundeswehr in Mali. Unterricht auf Bambara".

Der Kommentator schildert zunächst in großen Zügen die Lage und kommt dann zu folgendem Schluss: "Die Bundesregierung erweist sich erneut als völlig plan- und sprachlos. Niemand erklärt, was das Ziel ist und wann die Mission als erfüllt gelten darf, wann sie startet, welchen Umfang sie hat und wer die Truppensteller sind. Vor allem weiß keiner zu sagen, wie man verhindern will, dass deutsche Soldaten wieder in einen Konflikt hineingezogen werden wie der Ärmel in eine Maschine bei einem Arbeitsunfall - immer tiefer und tiefer. Nach den Erfahrungen am Hindukusch hätte man denken können, dass solch abenteuerliche Politik keine Zukunft mehr hat. Da hat man sich verdacht." So der Kommentar von Michael Schmidt im Tagesspiegel vom 2. November.

Es wäre wirklich an der Zeit, dass die Regierung - bzw. die Opposition, die sie ablösen will - sich intensiv mit den Alternativen zum Militär befasst. Wir Pazifisten können nicht einfach behaupten, wir hätten für alle Probleme die gewaltfreie Lösung, aber es gibt hinlängliche Gründe, auf dem Wege der gewaltfreien Aktion die passenden Lösungen zu suchen. Die Orientierung ist da. Wir agieren nicht so perspektivlos wie der Frosch, der in die Milch gefallen ist. Wir wissen, dass bei anhaltendem Strampeln Butter entstehen wird, auf die wir dann klettern können, um zu überleben. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird und welche Rückschläge wir einstecken müssen. Doch ich denke, die Deutsche Friedensgesellschaft hat in 120 Jahren bewiesen, dass sie einen langen Atem hat - und ich schließe nicht aus, dass wir dann auch mal schneller Erfolg haben werden, als wir zunächst gedacht haben.

Es hat sich in Deutschland ein gewisses Know-how der gewaltfreien Aktion angesammelt. Meines Erachtens könnte dieses Know-how schon reichen, sich auf das Wagnis einer gewaltfreien Politik einzulassen. Wann die Zeit so richtig reif ist für einen Durchbruch, weiß man im Voraus nie. Es ist den Wissenschaftlern noch nie gelungen, soziale Bewegungen vorherzusagen. Hinterher war man dann immer schlauer und hat gezeigt, welche Vorläufer es gab und wie sich die Kraft zum politischen Durchbruch aufgebaut hat. Was wir aber jetzt schon tun können, ist, uns auf diesen neuen Aufbruch zu einer gewaltfreien Politik vorzubereiten - und dieser Aufgabe dienen morgen früh die Arbeitsgruppen, die von erfahrenen Trainern geleitet werden. Also morgen früh frisch an die Arbeit! Einstweilen danke ich für die Aufmerksamkeit.

Fußnoten

Veröffentlicht am

18. November 2012

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