Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Ist der Weltfrieden eine Utopie?

Von Theodor Ebert - Vortrag vor Ethiklehrern an der Universität Halle am 30.6.2011

Staatsutopien sind zu verstehen als Versuche, die Erfahrungen mit den sozialen Verhältnisse der eigenen Zeit zu verarbeiten - entweder in der Hoffnung auf eine radikale Verbesserung oder aus Furcht vor einer katastrophalen Verschlechterung. Die "Utopia" des Thomas Morus ist ein hoffnungsvoller Entwurf vor dem düsteren Hintergrund der Beobachtung Englands und des europäischen Festlands seiner Zeit. In der Einleitung schildert der Jurist Thomas Morus den englischen Rechtsstaat seiner Zeit, ein Land, in dem Diebe erbarmungslos abgeurteilt wurden und die Soldateska sich zu einer Landplage entwickelt hatte. George Orwells "1984" ist eine Gegenutopie, die vor der Weltherrschaft totalitärer Systeme nach dem Vorbild des Stalinismus und Faschismus warnt.

Wenn ich also die Frage stelle, ob der Weltfrieden eine konkrete Utopie ist, also ein Gebilde ist, das wir anstreben, dann kann ich dabei auch nicht absehen von den Erfahrungen, die ich während meines Lebens gemacht habe und ich muss versuchen, die Hoffnungen, die ich immer noch habe, zu konkretisieren.

Ich habe daran gedacht, das Thema "Ist der Weltfrieden eine Utopie?" zu bearbeiten in Anlehnung an die Rede Carl Friedrich von Weizsäckers, die er 1963 in der Paulskirche in Frankfurt gehalten hat - anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels.

Mir hatte diese Rede imponiert durch drei Thesen, die er damals, als ich 26 Jahre alt war, in seiner halbstündigen Rede erläuterte. Ich dachte, ich könnte ähnlich wie er - doch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Ereignisse - mein Thema entfalten und prüfen, ob der Weltfrieden inzwischen sich zur konkreten Utopie weiter entwickelt hat.

Ich habe das Vorhaben dann nicht aufgegeben, aber mir schwindelte dann doch angesichts dieser Aufgabe, und ich fragte mich: Ist dein Vorhaben nicht zu ambitioniert? Ich war zwar von 1966 bis 2002 an der Freien Universität Berlin als Friedensforscher tätig und musste mich als "Professor" immer wieder zu meiner aktuellen Sicht des Friedens in Deutschland und des Weltfriedens "bekennen", aber nun bin ich seit neun Jahren pensioniert und an Projekten der Friedensforschung und an Aktionen der Friedensbewegung nur noch am Rande beteiligt und kann ganz gut - sagen wir besser bequem - damit leben, dass die nachrückenden Generationen der Friedensforscher mich nicht mehr kennen und ihre eigenen Projekte voran treiben. Was mich belastet, ist der Umstand, dass ich über das, was sich auf der Welt ereignet, nur noch ganz unzulänglich informiert bin auf dem Wege der Lektüre einer Tageszeitung, einiger politischer Programme im Fernsehen und noch vorhandener Kontakte zu Kollegen und Freunden in weltweit engagierten Solidaritätsbewegungen. Hinzu kommen gelegentliche Recherchen im Internet. Doch mein Alltag ist eben nicht bestimmt durch die Verarbeitung von Weltinformationen, sondern durch das, was sich in meiner Nähe ereignet - also in Berlin-Kladow vor meiner Haustür und was ich von meinen Kindern und deren Familien erfahre. Ich sehe die Welt nicht mehr aus der Sicht von Amnesty International oder von Ärzte ohne Grenzen oder der International Fellowship of Reconciliation, deren Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion", die ich jahrzehntelang herausgegeben habe. Ich mache die Erfahrung der immer stärkeren Beschränkung des Aktionsradius und des Informationsgrades eines 74-jährigen. Doch es ist nur ein gradueller Unterschied zu den Zeiten der Berufstätigkeit. Auch in den Zeiten des stärksten Engagements und der Mitarbeit in mehreren Friedensforschungsorganisationen hatte ich nur einen eng begrenzten Einblick. Jetzt kann und will ich die neueste Literatur, die fast nur noch auf Englisch erscheint, nicht mehr verfolgen. Sie scheint sich in der Verwendung der neuesten Fachterminologie zu gefallen, während ich mich bemühe, als Pensionär meine Lebenserfahrungen in deutscher Sprache und zunächst vornehmlich im Gedanken an deutsche Leser zu Papier zu bringen. Weil mir die neue Literatur zur Friedensforschung, in der nicht mehr vom Regieren, sondern von gouvernance geredet wird, zu begriffslastig und zu unanschaulich vorkam, habe ich meine nachberufliche Energie darauf verwandt, das literarische Erzählen zu erlernen, in der Hoffnung, dass es mir noch gelingen könnte, einige meiner Lebenserfahrungen an diejenigen weiter zu reichen, die auch keine Lust haben, sich durch den Breiberg der Peace Research Literature zu löffeln und ein Abstract nach dem anderen zu lesen. Ja doch, Carl Friedrich von Weizsäckers Reden und Aufsätze in dem Sammelband "Der bedrohte Frieden. Politische Aufsätze 1945-1981" habe ich gerne wieder gelesen, weil sie in einem treffsicheren Deutsch geschrieben sind, und es sich immer wieder lohnt, auf die Nuancen zu achten.

Ich wiederhole Weizsäckers drei Thesen aus der Pauls-Kirchen-Rede, weil sie auch der rote Faden meines Vortrags sein werden, obgleich ich diese Thesen dann biographisch erzählend anschaulich gestalten will. Die drei Thesen lauten:

1. Der Weltfriede ist notwendig.
2. Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter.
3. Der Weltfriede fordert von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung.

Die Notwendigkeit des Weltfriedens begründet Weizsäcker damit, dass wir einen Dritten Weltkrieg nicht mehr führen können, weil der Einsatz von Atomwaffen mit dem Fortbestand unserer technisierten Kultur nicht vereinbar wäre.

Das Ausscheiden der militärischen Konfliktaustragung als Mittel der Politik von Großmächten, leitet aber nicht automatisch ein goldenes Zeitalter ein. Kein Krieg bedeutet noch nicht, dass ein lebenswertes Leben, das große Glück der großen Zahl gewährleistet ist. Es muss Weltinnenpolitik betrieben und es müssen die dazu passenden Institutionen geschaffen werden.

Die moralische Anstrengung ist erforderlich, weil die wissenschaftlich-technische Welt einer ihr angemessenen Ethik bedarf, also die Ethik der Nächstenliebe, wie sie z. B. in der Bergpredigt Jesu formuliert wurde, noch in die Gegenwart übersetzt werden muss.

Ich will nun so vorgehen, dass ich Weizsäckers Thesen auf meinen eigenen Erfahrungsbereich anwende.

1912 geboren war Weizsäcker zwar 25 Jahre älter als ich, aber er hatte mit mir doch gemeinsam die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und die Erinnerung an den nicht weit zurück liegenden Ersten Weltkriegs. Mit dem Begriff Krieg haben wir beide assoziiert Verdun und den Roman Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" und mit dem Zweiten Weltkrieg Kesselschlachten wie in Stalingrad und den Untergang von Großstädten im Feuersturm.

Mein Großvater Alfons Theodor Liebermann ist 1915 in Russland in einem Feldlazarett verreckt, noch bevor meine Mutter geboren wurde. Und ich sage bewusst "verreckt", weil "gefallen" so euphemistisch nach Kegelspiel klingt. Und mein Vater Arthur Ebert war dann sechs Jahre als gemeiner Landser im Krieg, davon die meiste Zeit in Russland als Munitionsfahrer. Während dieser Zeit verbrannte in Stuttgart sein Heim, sein Mercedes, seine Firma und seine Frau wurde mit den beiden Söhnen gerade noch auf die Schwäbische Alb evakuiert - weit genug von Stuttgart entfernt, um nur noch am roten nächtlichen Himmel zu erkennen, was dort gerade verbrannte.

Wahrscheinlich ist es bedeutsam für die Phantasien und Utopien von Krieg und Frieden, ob man den Krieg über Fernsehfilme von Guido Knopp kennen gelernt, oder ob man den Krieg selbst erlebt hat. Bei mir hatte das Kriegserlebnis zur Konsequenz, dass ich als Kind in der Vorstellung lebte, dass so etwas wie eine Wiederholung des Krieges nicht mehr in Frage käme. Darum war die Wiederbewaffnung Deutschlands für mich ein Schock. Sie beendete meine Kindheit, und ich stand vor der Frage: Wie verhalte ich mich zu einer Weltordnung, in der Kriege auch in Zukunft eine Rolle spielen können.

Meine Reaktion war - angeregt und verstärkt durch die Eltern - die vollständige Verweigerung. Ich werde hier nicht mitspielen. Wenn es nicht gelingt, in Deutschland anders Politik zu machen als durch die Beteiligung an militärischen Unternehmungen, dann werde ich innerlich auf Distanz gehen und nur noch beobachten, aber mich in dieses soziale System nicht integrieren lassen. Das habe ich später die Hälfte meiner Studienzeit durchgehalten. Ich habe kein gestaltendes Fach studiert, sondern ein betrachtendes, ein reflektierendes, nämlich Geschichte.

Als Kind und Jugendlicher hatte ich zunächst die Vorstellung, dass wir Deutschen in Zukunft so etwas wie eine christliche Politik betreiben sollten. Das war eine Übertragung privater Erfahrungen auf die große Politik. Jesus geh vor an auf der Lebensbahn, war der Grundtenor meiner Erziehung gewesen. Und wäre ich als Schüler schon wahlberechtigt gewesen, hätte ich nach der Gründung der Bundesrepublik wahrscheinlich die CDU gewählt, zumal der Großvater meines Klassenkameraden Martin Jäger der Kultusminister von Baden-Württemberg war und wir in dessen großem Garten unsere Abenteuerspiele veranstalten durften. Nach dem Entsetzen der NS-Herrschaft schien christliche Politik mir das Richtige zu sein. Umso größer dann die Enttäuschung angesichts des Angebots von Bundeskanzler Konrad Adenauer, die BRD wieder zu bewaffnen.

Wir mussten oder durften im Stuttgarter humanistischen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium im Deutschunterricht einen Besinnungsaufsatz schreiben: Sind sie für oder gegen die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht? Das war für uns 17-jährige ein ganz heißes Thema, nur dass wir auf dieses Thema - und damit verbunden war ja die Frage nach dem Weltfrieden überhaupt - nicht vorbereitet waren. Es gab nicht die Fächer "Politische Weltkunde" oder "Ethik". Es gab nur "Geschichte" und "Religion", getrennt nach Konfessionen.

Die Ablehnung der Politik Adenauers konnte nicht genügen, zumal unverkennbar war, dass auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs ein totalitäres Regime sich etabliert hatte, unter dessen Kontrolle ich auch nicht leben wollte. Ich identifizierte mich weitgehend mit dem Grundgesetz - eben minus Militär. Meine politische Leitfigur war Dr. Gustav Heinemann, und ich setzte ein Zeitlang auf die von ihm gegründete Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP). Als diese an der 5 Prozent-Hürde scheiterte, begann ich nach den Gründen zu suchen und mich intensiv mit politischen Systemen zu befassen. Ich erkannte, dass mit einem rein außenpolitischen Programm keine Wahlen zu gewinnen waren und dass es auch einen innenpolitischen alternativen Profils bedurfte. Die meisten GVP-Politiker haben sich dann den Sozialdemokraten angeschlossen. Einige sind später sehr bekannt geworden: Erhard Eppler und Johannes Rau. Sie repräsentierten die friedenspolitische Gesinnung, die ich mir von deutschen Politikern wünschte.

Wenn ich mich meiner persönlichen Situation zu Beginn der 60er Jahre zu erinnern suche, dann war für diese charakteristisch, dass ich eher zu einer negativen Utopie - zu Weltuntergangsphantasien - neigte. Besonders pessimistisch stimmten mich an der offiziellen Politik, dass sie Auswirkungen eines atomaren Krieges verleugnete. Was unter dem Stichwort "ziviler Bevölkerungsschutz" verbreitet wurde, empfand ich als Volksverdummung. Ich studierte dieses Propagandamaterial. Der Gipfel unter den verharmlosenden Empfehlungen war, im Falle eines Atomschlages unter einen Tisch zu kriechen und den Nacken mit einer Aktenmappe zu schützen. Doch ich war als Student politisch nicht organisiert und so reagierte ich zunächst ganz individuell und isoliert. Ich begann ein dreitägiges Fasten und sagte meine Teilnahme an der Promotionsfeier einer Kommilitonin an der Universität Tübingen ab. Ich sah neues Unheil auf die Deutschen zukommen.

Glücklicherweise war ich in meiner Ohnmacht doch nicht so ganz alleine. Es gab in der Bundesrepublik damals kundige und einflussreiche Wissenschaftler, die Adenauer und Strauß zu widersprechen wagten. Es kam am 12. April 1957 zur Göttinger Erklärung von 18 meist weltweit bekannten Atomwissenschaftlern, die Adenauer, welcher die sogenannten taktischen Atomwaffen als eine Fortentwicklung der Artillerie verharmlost hatte, zurechtwiesen. Ich zitiere aus der Göttinger Erklärung:

"Für die Entwicklungsmöglichkeiten der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannte. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen."

Diese Erklärung hat keiner der unterzeichnenden Nobelpreisträger, sondern der relativ junge, damals 45jährige Carl Friedrich von Weizsäcker formuliert. Wenn ich sein Lebenswerk bedenke, dann hätte er wie kein anderer Deutscher den Friedensnobelpreis verdient. Dass er ihn nie bekam, hängt wohl damit zusammen, dass bei dessen Verleihung aktuelle, opportunistische Überlegungen häufig eine ausschlaggebende Rolle spielen.

Jedenfalls schlug diese Erklärung der Göttinger 18, die in der Verweigerung gipfelte, an deutschen Atomwaffen mitzuwirken, in der politischen Öffentlichkeit ein wie eine Bombe. Das hatte es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben, dass die führenden Wissenschaftler sich aus Gründen der Vernunft und der Moral kategorisch weigerten, an einer bestimmten technischen Entwicklung mitzuarbeiten.

Das war imponierend, und ich kann mir einen Ethik-Unterricht in Deutschland ohne eine Behandlung der Göttinger Erklärung der 18 Atomwissenschaftler eigentlich nicht vorstellen.

Die Unterzeichner haben jedoch eingeräumt, dass sie sich insofern in einer gewissen Verlegenheit befänden, als sie nicht sagen könnten, welche politischen Konsequenzen aus dieser Einsicht in die Wirkung atomarer Waffen gezogen werden sollten. Doch an einem ließen sie keinen Zweifel: "Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt." Das war die Absage an den Großen Bruder in George Orwells "1984". Auf ein konstruktives Programm konnten sich diese 18 Göttinger Wissenschaftler noch nicht einigen.

Interessant ist, dass Carl Friedrich von Weizsäcker persönlich als Alternative zur militärischen Abschreckung die Entwicklung des gewaltfreien Widerstands - nach dem Vorbild Gandhis - im Auge hatte. Er war auf diesem Gebiet jedoch kein Fachmann, aber wo immer er konnte, war er bereit, die Entwicklung von Gandhis Methoden zu einer sicherheitspolitischen Strategie zu fördern.

Und hier gibt es nun eine Verbindung zwischen Carl Friedrich von Weizsäcker und meiner Person. Ich war im Laufe meines Studiums der Geschichte auf Gandhi gestoßen und hatte bei ihm die Erklärung dafür gefunden, dass Revolutionen häufig zu Ergebnissen führen, welche ihre Protagonisten sich nicht gewünscht haben. Man brachte es häufig auf die Formel "Die Revolution frisst ihre Kinder." Gandhi erklärte diesen Prozess damit, dass die gewaltsamen Methoden der Gesellschaftsveränderung den revolutionären Impuls pervertieren. Er forderte, die gewalttätigen Methoden konsequent aus dem revolutionären Prozess auszuscheiden. Der Zweck heiligt nicht die Mittel, sondern die Mittel sind die Ziele in statu nascendi. Die Mittel nehmen das Ziel vorweg. An der Stelle revolutionärer Gewalt empfahl Gandhi - und demonstrierte es durch eigene Experimente - kleine Gruppen und schließlich Massen zur gewaltfreien, direkten Aktion zu erziehen und so konstruktiven Druck auszuüben. Er meinte, dass diesem Druck sich auch die bislang Herrschenden auf die Dauer nicht entziehen könnten und so durch die Ausübung dieser neuen, gewaltfreien Macht von unten auch ein neues demokratisches System entstehen würde. In den USA hat man später diese neue Form der Revolution auf den Begriff gebracht: grass root revolution by nonviolent direct action.

Eine solche Erziehung zur gewaltfreien Revolution bzw. zur gewaltfreien Verteidigung revolutionärer Errungenschaften schien mir der Ausweg aus dem Dilemma der wechselseitigen atomaren Abschreckung zu sein.

Weizsäcker war im Prinzip derselben Auffassung, aber er war nun mal ein Mann des Laborexperimentes und der philosophischen Reflexion und nicht des Straßenkampfes, auch wenn dieser sich gewaltfreier Mittel bediente. Doch es führte kein Weg vorbei an der Konfrontation mit den Mächtigen auf der Straße.

Das zeigte sich, als die politischen Befürworter der Abschreckungsstrategie in Deutschland ein Herbstmanöver veranstalteten, genannt "Fallex 62". Während dieses Manövers, das eine atomare Auseinandersetzung auf deutschem Boden simulierte, zeigte es sich, dass es innerhalb einer Woche zu etwa zehn Millionen Toten kommen und die medizinische und sonstige Versorgung zusammenbrechen würde. Die Veranstalter dieses Kriegsspiels hätten dies nicht an die große Glocke gehängt, sondern den Schleier der militärischen Geheimhaltung darüber gebreitet. Doch der "Spiegel" berichtete darüber detailliert. Bundeskanzler Adenauer sah darin einen "Abgrund von Landesverrat", und der Verteidigungsminister Franz Joseph Strauß erwies als Mann der Tat und als der Bayer fürs Grobe. Er ließ den Autor des Spiegelberichts in Spanien durch Francos Schergen festnehmen. Die Staatsanwaltschaft zog in Deutschland nach, und Augstein, der Herausgeber des Spiegel, wurde festgenommen und das Erscheinen des Spiegels unterbunden.

Das ist als die "Spiegel-Affäre" in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen. Die Informationsfreiheit stand auf dem Spiel. Das Vorgehen gegen den Spiegel zeigte auch: Es reicht nicht, wenn ein paar berühmte Wissenschaftler einem Adenauer und einem Strauß im Blick auf die Wirkung atomarer Waffen mit einem Papier widersprechen und feierlich erklären, dass sie an diesen Waffen nicht mitarbeiten werden, wenn die Betreiber der atomaren Abschreckung im Rahmen eines Militärbündnisses stur weitermachen und die einschlägigen Informationen zu den Schäden künftiger Kriegsführung zum militärischen Geheimnis erklären und sie unterdrücken.

Deswegen war es wichtig, dass der Spiegel die Ergebnisse des Manövers "Fallex 62" massenwirksam publizierte - und dass die Leser des Spiegel sich mit den Journalisten solidarisierten. Die Spiegel-Leser gingen auf die Straße. Das war der springende Punkt.

Ich erinnere mich noch sehr genau: Am Tage nach der Verhaftung Rudolf Augsteins traf ich mich wie jeden Sonntagmorgen mit meinen Stuttgarter Freunden, um darüber zu beraten, wie wir Gandhis Methoden in Deutschland bekannt machen und ihre Wirksamkeit demonstrieren könnten. Wir Kriegsdienstverweigerer wollten nach Gandhis Vorbild ein Netzwerk gewaltfreier Aktionsgruppen aufbauen mit dem Ziel, schließlich die militärische Verteidigung durch einen vorbereiteten gewaltfreien Widerstand zu ersetzen.

Gandhi hatte eine solche Organisation als Shanti Sena bezeichnet. Das heißt wörtlich übersetzt "Friedensarmee". Das lateinische "arma" heißt eigentlich die Waffe. Insofern konnte man eine gewaltfreie Organisation schlecht als Armee bezeichnen. Allerdings war auch damals die übertragene Nutzung des Begriffs Armee nicht unüblich. Ich erinnere nur an die Heilsarmee, die sich allerdings durch Uniformen kenntlich macht. Wenn ich heute wieder nach einer Bezeichnung für eine deutsche Shanti Sena suchen müsste, würde ich wahrscheinlich von einem gewaltfreien Netzwerk sprechen. Damals nannten wir uns "Gewaltfreie Zivilarmee". Doch wir waren eine Aufbauorganisation, keine Riesenarmee, sondern ein kleines Häuflein, doch gerade in dieser Situation außergewöhnlich handlungsfähig, aus dem Stand heraus mobilisierbar.

Wir verabredeten, uns noch am selben Tag, also am Sonntagnachmittag auf der Stuttgarter Königsstraße vor das Gebäude der Stuttgarter Nachrichten zu stellen, demonstrativ Spiegel zu lesen und uns zuvor den Mund mit Leukoplast zu verkleben. Dazu eine Presseerklärung mit einem Protest gegen die Verhaftungen und dem Hinweis, dass der sowjetische Geheimdienst wohl kaum auf die Spiegel-Lektüre angewiesen sei.

Die Spontandemonstration klappte planmäßig. Noch am Sonntagabend waren wir im Fernsehen, und die Protestaktionen breiteten sich über die ganze Republik aus - insbesondere in den Universitätsstädten. Liberale Professoren und Studenten demonstrierten gemeinsam. Jetzt reagierte auch die parlamentarische Opposition. Sie ließ sich von Adenauers Landesverratsgerede nicht länger einschüchtern. Im Endeffekt kamen die Journalisten frei und Verteidigungsminister Strauß musste zurücktreten.

Im Rückblick kann man sagen: Im Verlauf der Spiegel-Affäre haben die Deutschen gezeigt, dass sie Demokratie gelernt haben und dass sie diese nicht nur in der Wahlkabine, sondern auch auf der Straße einfordern konnten. Die Proteste zugunsten der Spiegel-Berichterstattung waren eine Vorwegnahme der Außerparlamentarischen Opposition der Studentenbewegung der Jahre 1967/68.

Es entwickelte sich jedoch in den 60er Jahren nicht geradlinig eine gewaltfreie Bewegung. Die studentische Revolte von 1967/68 war sich ihrer Methoden nicht sicher. Sie bediente sich einerseits der gewaltlosen Methoden der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, sympathisierte aber andererseits mit Guerillabewegungen in der Dritten Welt. Die Zukunftserwartungen - man könnte vielleicht auch von Utopien sprechen - waren sehr gewalttätig. Die Demonstranten skandierten auf dem Kurfürstendamm "Ho Ho Ho-tschi-Minh", und die Erklärung Che Guevaras "Schafft zwei, drei, viele Vietnam" war für Teile der Studentenschaft eine eingängige Vision, bei der aber unklar blieb, wie die Industriegesellschaften sich unter dem Einfluss der revolutionären Befreiungsbewegungen verändern sollten.

Da wurde experimentiert mit leninistischen Kaderorganisationen, und einige wenige meinten gar, man könne sich mit den revolutionären Befreiungsbewegungen solidarisieren, indem man eine Rote Armee Fraktion aufbaue.

Das war jedenfalls etwas ganz anderes als das Konzept der Stuttgarter Gruppe "Gewaltfreie Zivilarmee", deren Held nicht Che Guevara, sondern neben Gandhi vor allem Martin Luther King war. Sie solidarisierte sich mit den gewaltfreien Befreiungsbewegungen mit einer Fastenaktion am Samstag jeder Woche und sie stand im Kontakt zu einem indischen Dorf, in dem Ralph Keithan, ein Quäker im Sinne Gandhis wirkte.

Da standen sich also zwei Visionen gegenüber, auf der einen Seite die des Guerillakampfes im Stile Che Guevaras und auf der anderen Seite die Vision einer gewaltfreien Graswurzelrevolution und deren Verteidigung durch gewaltfreien Widerstand. Mehrere Jahre sah es so aus, als ob die Guerillakonzepte das Bewusstsein und die Praxis der deutschen Nachkriegsjugend prägen könnten. Den Höhepunkt erreichte die Verunsicherung des Bewusstseins während der Entführung des Industriellen Hanns-Martin Schleyer. Ehrenwerte Pazifisten wie Heinrich Böll wurden verdächtigt, Sympathisanten der RAF zu sein. Da war anscheinend nirgendwo mehr von der Vision einer gewaltfreien Gesellschaft die Rede. Niemand sprach von einer Utopie des Friedens. Man hätte annehmen können: Die APO, die Studentenbewegung ist total gescheitert. Dabei hatten die Hoffnungen auf einen weltweiten Sieg des Sozialismus sich als trügerisch erwiesen. Der real existierende Sozialismus in der DDR und den anderen COMECON-Staaten wirkte auf die westeuropäischen Sozialisten im allgemeinen wenig begeisternd - und als man sich die Kulturrevolution in China etwas genauer ansah, war auch da bald der Lack ab und die Mao-Bibel verschwand aus der studentischen Verwendung. Die Studentenrevolte hatte zwar zur Demokratisierung der Universität beigetragen und deren Errungenschaften haben mich mein ganzes Berufsleben getragen, aber die studentische Rebellion war mit ihren utopischen Impulsen gescheitert.

Doch unversehens kamen die Impulse der gewaltfreien Veränderung der Gesellschaft aus einer scheinbar ganz anderen Ecke. Die Erfahrungen der erfolgreichen Proteste gegen die Festnahmen von Conny Ahlers und Rudolf Augstein waren als soziales Know-how nicht einfach vergessen. Wer in Zeiten der APO gewaltfrei zu demonstrieren gelernt hat, griff auf dieses Know-how zurück, als Situationen im deutschen Alltag dies erforderten.

Auf die APO der Studenten folgte in der Bundesrepublik die Bewegung der Bürgerinitiativen aus ehemaligen Studenten, die sich nun als junge Familien weniger um die Dritte Welt als um Aufgaben im Nahbereich kümmerten, um Abenteuerspielplätze, um Eltern-Kind-Gruppen und um die sich immer deutlicher abzeichnenden Umweltprobleme.

Die Friedensvisionen änderten sich nicht total, aber sie erweiterten sich um eine neue Dimension. Man begriff, dass man die Erde auch ohne Atomkrieg zugrunde richten kann und zwar durch die industrielle Expansion und den maßlosen Verbrauch begrenzter Ressourcen. Statt Che Guevara las man von Dennis Meadows und dem Club of Rome "Die Grenzen des Wachstums" und von Herbert Gruhl "Ein Planet wird geplündert". Die erste bundesweite Bürgerinitiative wandte sich gegen Fluglärm und die nächste dann schon gegen die Ausbreitung der Kernkraftwerke. Im Kaiserstuhl, einer Gegend, in der die CDU bei Wahlen an satte Mehrheiten gewohnt war, protestierten die Winzer gegen das AKW Wyhl und besetzten den Bauplatz.

Und beim Widerstand gegen die AKWs waren die Gandhi-Anhänger wieder am Zug und sie konnten durchsetzen, dass die gewaltfreien Methoden im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz zur Norm erhoben wurden. Es kam zu einer dauerhaften Verbindung von "grün" und "gewaltfrei", zumindest im Blick auf die innenpolitische Konfliktaustragung.

Aber es gab nach wie vor die Blockkonfrontation zwischen Ost und West, zwischen NATO und Warschauer Pakt. Auch hier hatte sich 1968 etwas bewegt. Die Tschechen und Slowaken hatten sich auf einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht verständigt und als der Warschauer Pakt auf den Prager Frühling im August 1968 mit einer bewaffneten Intervention reagierte, war es überraschend zu einem erstaunlich geschlossenen, phantasievollen gewaltlosen Widerstand von Volk und Partei gekommen. Die Hardliner konnten den Widerstand zwar unterdrücken, aber sie hatten den gewaltfreien Widerstand zu respektieren gelernt und als in den 80er Jahren Soldarnosc wieder zu gewaltfreien Methoden griff, verzichteten sie auf einen militärischen Eingriff und begnügten sich mit den Versuchen eines einheimischen Generals, das Verlangen nach Demokratie zu dämpfen - ohne nachhaltigen Erfolg.

Die Bürgerrechtsbewegungen konnten den demokratischen Aufbruch zwar im ersten Anlauf mit ihrem spontanen gewaltfreien Widerstand noch nicht verteidigen, aber sie hatten sich auch bei den Unterdrückern Respekt verschafft. Nach dem August 1968 war die Vorstellung der europäischen Nachahmer Gandhis, dass man die gewaltfreie Methoden als Mittel des Aufstandes und auch der Verteidigung einsetzen könne, nicht mehr utopisch, sondern es war eine Frage der zweckmäßigen Organisation und der Entwicklung von Strategien des Aufstands und der gewaltfreien Verteidigung.

Carl Friedrich von Weizsäcker hatte früh ein sicheres Gespür für das sicherheitspolitische Potential, das in der gewaltfreien Aktion steckte. Er machte sich 1967 zum Befürworter einer Konferenz, welche sich darauf konzentrierte, die Strategie der Civilian Defence, wie sie im angelsächsischen Raum genannt wurde, zu erkunden. Ich bekam den Auftrag, auf einer Konferenz der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler in München die Methoden des gewaltfreien Widerstands gegen Besatzungsmächte vorzustellen. Nach der Okkupation der CSSR veröffentlichte der Spiegel - also ein Jahr später - meinen Vortrag und Walter Ulbricht behauptete, man könne genau vergleichen zwischen den dort vorgeschlagenen Methoden und den konterrevolutionären Aktionen der CSSR. In Wirklichkeit hatten die Tschechen und Slowaken den gewaltlosen Widerstand ganz spontan geleistet und es gab keinen Einfluss von westdeutschen Zentralen der Konterrevolution, aber richtig war, dass sich hier eine neue politische Vision abzeichnete.

Für George Orwell waren totalitäre Regime durch gewaltlosen Widerstand nicht zu erschüttern. Der Große Bruder kontrollierte alles, sogar die Sprache. Man konnte schon gar nicht mehr widerständig denken. Karls Jaspers hatte sich ähnlich geäußert und befürchtet, dass bei einem Verzicht auf atomare Abschreckung im Falle einer Okkupation die Idee der Freiheit auf immer verloren gehen könne.

Nach 1968 war klar, dass dies nicht stimmte und dass sich das widerständige Denken und die Kenntnis der Methoden des gewaltfreien Widerstands unaufhaltsam ausbreiteten. Auch in den Medien der DDR konnte man sich über gewaltfreien Widerstand informieren. Die Schriften Martin Luther Kings waren zugänglich. Bürgerrechtsgruppen wussten über die Methoden der gewaltfreien Aktion mehr oder weniger genau Bescheid. Der Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" war dann die symbolische Verdichtung der Vision einer anderen Politik. Dem entsprachen in der Bundesrepublik die Aktionen Zivilen Ungehorsams gegen die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen. Diese Proteste wurden von einigen Vordenkern der Friedensbewegung offensiv verbunden mit der Forderung nach einer ganz anderen, rein defensiven Sicherheitspolitik.

Ich gehe hier jetzt nicht in die Details. Ich habe in Starnberg in einer Forschungsgruppe Carl Friedrich von Weizsäckers mitgearbeitet. Unter dem Gesichtspunkt "Konkrete Utopie des Friedens" war das Aufregende, dass wir eine andere Form der Weltinnenpolitik ausmalten, meist allerdings nur Umrisse zeichneten - doch es ging perspektivisch um eine Welt ohne atomare Abschreckungswaffen und das ganze gestützt auf die Fähigkeit breiter Bevölkerungskreise sich der Methoden des gewaltfreien Widerstands zu bedienen.

Wenn man aus dem Wende-Jahr 1989 zurückblickt auf die Jahre des Protestes gegen die Mittelstreckenraketen und auf die kuriosen Versuche der DDR-Führung diese Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" zu verbieten, dann kommt es einem vor, als ob sich ein gewaltfreier Aufstand zielstrebig entwickelt hätte. In Wirklichkeit hatten die Friedens- und Ökologiebewegung im Westen und die Bürgerrechtsbewegungen im Osten immer wieder gegen die Resignation und das Versiegen der Visionen zu kämpfen. Und selbst die Protagonisten der Wende, also der Abkehr vom dirigistischen Staatssozialismus wurden dann von dieser Wende und dem völligen Verzicht auf eine demokratische Form des Sozialismus überrascht. Der häufigste Kommentar im Volk war "Wahnsinn!" Doch was bedeutete dies: War eine utopisch scheinende Vision Wirklichkeit geworden?

Ich will nicht schwärmen und ich erinnere an Weizsäckers zweite These: Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter. Es ist zwar Fabelhaftes geschehen, und die Gefahr eines Atomkrieges wurde wesentlich reduziert, aber der Weltfriede ist jetzt nicht einfach Wirklichkeit. Seit 1989 hat es weitere lokal begrenzte Kriege gegeben, doch im Blick aufs Ganze kann man sagen: Die Weltinnenpolitik hat Bewegungsspielraum gewonnen. Wir sind nicht völlig blockiert durch Rüstungswettläufe und lokale Kriege und wir können uns trotz aller Handicaps den anstehenden Problemen der Überwindung der Armut und der ökologischen Einpassung unserer Lebensweise zuwenden. Der Weltfriede ist nichts Utopisches, sondern etwas, das sich erzielen lässt und dabei ist es ein ganz wichtiges Moment, dass uns jetzt in der gewaltfreien Aktion eine Methode zur Verfügung steht, mit der vor allem die Betroffenen selbst Konflikte bearbeiten und ohne den Einsatz militärischer Mittel die Lage grundlegend verbessern können. Im arabischen Raum erzielten die gewaltfreien Aufstände in Tunesien und Ägypten Veränderungen, die zu weiteren Hoffnungen berechtigen.

Es gibt allerdings viele Situationen und darunter auch neuartige, welche Anlass zu großer Sorge geben. Die Hauptfrage ist für mich: Werden wir - und damit bin ich bei der dritten These Weizsäckers - werden wir auch bei Rückschlägen geduldig an den konstruktiven Programmen festhalten und uns zu keinen gewalttätigen Reaktionen provozieren lassen.

Was mich skeptisch stimmt, ist die Reaktion der USA und auch der deutschen Regierung auf den Anschlag gegen das World Trade Center am 9. September 2001. Unser Bundeskanzler sprach von uneingeschränkter Solidarität mit den Amerikanern und der amerikanische Präsident eröffnete den "Krieg gegen den Terror" mit dem militärischen Vorgehen gegen Afghanistan, weil dessen Taliban-Regime der international agierenden Terrororganisation Al Quaida eine Basis für die Vorbereitung solcher Anschläge bot. Nach den Motiven der Selbstmordattentäter und ihrer Bewunderer und nach den Möglichkeiten, auf die Motive der Attentäter und ihrer Sympathisanten einzuwirken, wurde wenig gefragt.

Wir sind in der Zwischenzeit etwas klüger geworden. Wer glaubt schon noch an den Erfolg eines "Krieges gegen den Terror"? Auch das Killen von Osama bin Laden hat die Gefahr terroristischer Anschläge nicht verringert, sondern seine Anhänger wahrscheinlich zu noch rücksichtsloserem Vorgehen angestachelt.

Man könnte ja meinen, wir Deutschen leben zur Zeit weitgehend im Frieden. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan tangiert ja die wenigsten Bürger und gemessen an den Opfern früherer Kriege sind ja die deutschen Verluste in Afghanistan gering.

Was mir große Sorgen macht, ist die Anfälligkeit von Industriegesellschaften für Terroranschläge - insbesondere in der Variante der Selbstmordattentate. Atomkraftwerke sind gegen solche Attentate kaum zu schützen und auch andere industrielle Anlagen sind sehr verwundbar. Wie würden die Deutschen auf ein Attentat gegen ein Atomkraftwerk reagieren? Die Zukunft des Friedens hängt meines Erachtens sehr stark davon ab, auf welche Reaktionen wir uns einstellen.

Ich erinnere noch einmal an den Anschlag auf das World Trade Center in New York. Ich hatte zunächst die Hoffnung, dass die USA es bei der interreligiösen Gedenkfeier im Yankee-Stadion belassen würden. Amerika gedachte der Toten unter den Trümmern des World Trade Centers und die Welt trauerte mit den Bürgern von New York und Washington. Muslimische Geistliche trugen Suren aus dem Koran vor und baten um Gottes Segen für ihre Heimat. Schwarze Amerikaner sangen ihre Hymne "We shall overcome" und der schwarze Pfarrer Forbes von der River Side Church zitierte kraftvoll und eindringlich die Seligpreisungen des Bergpredigers "Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen."

Auf einer Studienreise, welche den Spuren Martin Luther Kings in den USA gefolgt war, hatte ich einige Wochen vor dem Anschlag auf das World Trade Center an einem Gottesdienst in der River Side Church teilgenommen - im Gedanken an die berühmte Predigt Martin Luther Kings in dieser Kirche. King hatte 1967 - trotz der Warnungen vieler Weggefährten in der Bürgerrechtsbewegung - gegen die amerikanische Intervention in Vietnam gepredigt. Er hatte damals den prophetischen Satz gesprochen: Die Bomben, die wir über Vietnam abwerfen, werden in Amerikas Städten explodieren. Er dachte zunächst ganz praktisch an die Kosten des Krieges und die darum fehlenden Mittel im Kampf gegen die Armut in Amerika und in der Welt. Doch rückblickend scheint es mir, dass er auch in dem Sinne Recht behalten hat, dass die in den 90er Jahren fortgesetzten Manifestationen der militärischer Überlegenheit der USA einerseits diese hasserfüllten, andererseits diese präzise kalkulierten Anschläge provoziert haben.

Die Botschaft der Trauerfeier im Yankee Stadion war: Amerika lässt sich nicht terrorisieren. Aus dem, was dort gesprochen, gesungen und gebetet wurde, ließ sich der Schluss ziehen: Nun macht Amerika sich wieder an die Arbeit, es macht sich wieder an die Verwirklichung des amerikanischen Traums, zu dem neben dem Streben nach Glück für die Amerikaner auch das Streben nach Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle Bewohner dieser Erde gehört.

Wahrscheinlich hätte den Auftrag zur Verwirklichung dieses Traumes Martin Luther King den Amerikanern mit auf den Heimweg gegeben, wenn er noch gelebt hätte, ja wenn er 1968 nicht ermordet worden wäre, weil er zu intensiv für die Gleichstellung aller Amerikaner, gegen die Armut in Amerika und in der Welt und gegen die Intervention in Vietnam agitiert hatte.

Das ungute Gefühl, das mich während der Trauerfeier immer wieder beschlich, rührte von dem Gedanken: Während die New Yorker hier um ihre Toten trauern, und gemeinsam singen "We shall live in peace" und den Segen Gottes für Amerika erbitten, wird auf den Flugzeugträgern der Angriff auf Afghanistan vorbereitet. Und die Montagszeitungen publizierten auch tatsächlich neben den Bildern von der Trauerfeier ein Luftbild des Flugzeugträgers Theodore Roosevelt. Auf der Startfläche in großen Buchstaben die beiden ominösen Worte "Big Stick", anknüpfend an Teddy Roosevelts "Speak softly and carry a big stick". Sprich sanft, doch habe den dicken Knüppel zur Hand!

Israel pflegt auf Selbstmord-Attentate ähnlich zu reagieren. Doch der big stick eignet sich nicht zur Bearbeitung von Konflikten. Darum muss ich jetzt zum Schluss noch etwas sagen zur dritten These Weizsäckers: Der Weltfriede fordert von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung.

Die moralische Anstrengung besteht zunächst einmal darin, dass wir zu einer selbstkritischen Einschätzung der Weltlage und unserer Rolle in der Welt gelangen. Und dabei sollte man sich eines Wortes Jesu aus der Feldpredigt im Lukasevangelium erinnern: "Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr." (Lukas, 6,41)

Die Terroranschläge sind im Einzelnen verbrecherisch, aber sie erfolgen nicht aus dem blauen Himmel, sondern sie lassen sich verstehen als Reaktion auf vermeidbare, in der Vergangenheit liegende Fehlverhaltensweisen der nun furchtbar Getroffenen.

Nach diesen Balken im eigenen Auge zu suchen, ist wichtiger als die moralische Verurteilung der Attentäter. Mir fällt auf, dass deutsche Politiker nach Attentaten diejenigen, welche sie ausführten, immer wieder als feige bezeichnen. Wie soll jemand "feige" sein, der sein Leben riskiert und häufig genug beim Einsatz verliert? Doch anscheinend hat es eine entlastende Funktion, die Attentäter moralisch zu verurteilen. Doch damit beweist man keine Friedensfähigkeit. Wichtig ist, dass man nach der eigenen Verantwortung für die aktuelle Situation fragt und dass man überlegt, was man in Anbetracht zurückliegender Fehler tun kann, um begangenes Unrecht wieder gut zu machen und was man tun kann, um künftigem Unrecht vorzubeugen. Das ist viel verlangt. Darum spricht Weizsäcker von einer außerordentlichen moralischen Anstrengung. Doch verträgt das Wahlvolk in der Demokratie, dass man auf die Balken im eigenen Auge hinweist? Wenn ich an die Tea-Party-Bewegung in den USA denke, dann graust es mir und die neuerlichen Versuche der FDP, durch das Streben nach Steuerentlastungen die Wählergunst des Mittelstandes zurückzugewinnen, scheinen mir auch nicht von einer selbstkritischen Analyse der Rolle Deutschlands in der Weltinnenpolitik zu zeugen.

Das Interessante an Staatsutopien ist, dass sie neue Institutionen erfinden. George Orwell war in dieser Hinsicht einfallsreich, wobei man allerdings sagen muss, dass z.B. die Ministerien im Reich des Großen Bruders nur eine Totalisierung dessen waren, was man im Reiche Hitlers und Stalins bereits vorfinden konnte.

Aber welche wirklich neuen Institutionen bräuchte denn ein Friedensregime? Wenn ich Fachmann für Währungspolitik wäre, dann könnte ich jetzt auf entsprechende Vorschläge und neue Institutionen verweisen, aber ich bin dieser Fachmann nicht und darum spare ich dieses wichtige Thema hier aus.

Doch auch die gewaltfreie Konfliktaustragung fordert eine neue Institution. Bisher waren die Träger der gewaltfreien Aktionen meist spontane Gruppen, die sich als Basisgruppen verstanden und sich vielleicht auch dann mal zu einer etwas größeren, länger dauernden Kampagne zusammengeschlossen haben. Was sie an Know-how brauchten, übten sie im Blick auf einen bestimmten Bedarf kurzfristig ein. Das war ein auf eine bestimmte Aktion oder eine bestimmte Kampagne bezogenes Training. Trat wieder ein neuer Aktionsbedarf auf, musste man jedes Mal neu anfangen, auch wenn gelegentlich früher Eingeübtes sich erneut als nützlich erwies.

Doch wäre es nicht sinnvoll, das Know-how der gewaltfreien Konfliktaustragung in der gesamten Gesellschaft zu verbreiten ähnlich wie die Fähigkeit zu lesen, zu schreiben und zu rechnen? In der kritischen Auseinandersetzung mit der allgemeinen Wehrpflicht hat die Evangelische Kirche in Berlin Brandenburg 1994 vorgeschlagen, einen obligatorischen Zivilen Friedensdienst aufzubauen und auszubilden. Der Zivile Friedensdienst sollte in der Lage sein, sich in innenpolitische Konflikte vermittelnd einzuschalten. Er sollte gewaltfreie Verhaltensweisen durchsetzen. Bei Bedrohungen von außen, einer Okkupation oder einem Staatsstreich sollte er wissen, wie die demokratischen Institutionen funktionsfähig gehalten werden können. Für den Fall, dass dieses Know-how auch in anderen Ländern gefragt sein sollte, war vorgesehen, dass der Zivile Friedensdienst auch im Ausland tätig werden könnte. Der kirchliche Vorschlag basierte auf der Annahme, dass die Institution Ziviler Friedensdienst im Laufe der Jahre über eine große Zahl von ausgebildeten Mitgliedern verfügen würde. Sie sollte an die Stelle des Militärs treten und die Polizei in innenpolitischen Konflikten entlasten.

Dieses Konzept ist von der rot-grünen Bundesregierung nur in sehr bescheidenem Umfang realisiert worden. Der Zivile Friedensdienst wurde beim Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit angesiedelt. Es sind wenige hochqualifizierte Mitarbeiter in Konfliktgebiete entsandt worden. Wie ich auf einer Studienreise durch Serbien und das Kosovo feststellen konnte, haben sie dort auch gute Arbeit geleistet, aber aufgrund ihrer geringen Zahl konnten sie noch nicht zeigen, was in dieser neuen Institution an Potential steckt.

In meiner konkreten Utopie des Weltfriedens spielt dieser Zivile Friedensdienst und das Training für seinen Einsatz eine hervorragende Rolle. Doch er wird nur dann aufgebaut werden, wenn relevante Teile der Bevölkerung sich mit dem Konzept des Zivilen Friedensdienstes identifizieren und es dann auch auf der parteipolitisch-parlamentarischen Ebene durchsetzen. Es würde mich sehr interessieren, ob Sie als Ethiklehrer sich eine solche Institutionalisierung eines Zivilen Friedensdienstes vorstellen können. Man kann in der Schule einiges einüben. Es gibt Ansätze, also Konfliktlotsen und ähnliches. Ich habe auch mit Studenten der Politischen Wissenschaft Trainings in gewaltfreier Konfliktaustragung durchgeführt - zweisemestrig, vierstündig. Die Erfahrungen haben die Studenten und ich in Werkstattbüchern festgehalten. Ich fand die Experimente und die dabei gemachten Erfahrungen vielversprechend, aber ich meine, dass es jetzt dieser außerordentlichen moralischen Anstrengung bedarf, das in den Umrissen und in manchen Details bereits Konzipierte, auch auszuführen.

Ich konnte vieles in diesem Vortrag nur andeuten. Sie können sich auf dem Literaturtisch weiter umsehen, aber ich hoffe, dass dieser Vortrag zunächst einmal genügte, Sie zu Fragen und Stellungnahmen anzuregen. Ich danke jetzt zunächst einmal für Ihre Aufmerksamkeit für diesen absichtlich biographisch gehaltenen Bericht über ein zunächst sehr spekulativ anmutendes Thema.

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Veröffentlicht am

31. Januar 2012

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