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“Schmutzige Bombe” - Panikmache oder reale Gefahr?

Radiologische Waffen sind möglich. Sie sollten geächtet werden

Von Wolfgang Kötter

Sowohl die Havarie im japanischen Atomkraftwerk Fukushima als auch der bevorstehende 25. Jahrestag des Reaktorunglücks im ukrainischen Tschernobyl erinnern eindringlich an die menschlichen Opfer und riesigen wirtschaftlichen Schäden, die eine nukleare Katastrophe verursacht. Aber nicht nur durch Naturgewalten und menschliches oder technisches Versagen bei Atommeilern, sondern auch durch kriminelle oder terroristische Attentate könnten Gebiete großräumig radioaktiv verseucht werden. Immer mal wieder wird in den Medien vor der "schmutzigen Bombe" gewarnt. Anfang Februar berichtete die Londoner Zeitung Telegraph, das Terrornetzwerk Al-Kaida habe symphatisierende Wissenschaftler damit beauftragt, solche Strahlensprengsätze zu bauen. Die Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im US-Abgeordnetenhaus, Ileana Ros-Lehtinen, warnt: "Die Aussicht einer plötzlichen und weiträumigen Verseuchung im weit entfernten Japan sollte uns daran erinnern, dass wir einer sogar noch größeren Bedrohung seitens unserer selbsternannten Feinde ausgesetzt sind, die sie eben jetzt für unsere Stadtzentren planen. Eine radiologische Bombe … ist für Al-Kaida und andere Terrororganisationen weitaus leichter zu erlangen als ein nuklearer Sprengsatz."

Was ist eine "schmutzige Bombe"?

Eine "schmutzige Bombe" ist keine Atomwaffe. Zwar ist auch bei einer radiologischen Waffe - so der exaktere Terminus - radioaktives Material im Spiel, aber es wird nicht durch eine Kernspaltungsexplosion freigesetzt. Vielmehr handelt es sich um einen konventionellen Sprengsatz, in dessen Innerem sich nukleare Isotope, z.B. Strontium, Cäsium oder Kobalt, befinden. Durch die Explosion eines solchen herkömmlichen Explosionsstoffes können radioaktive Substanzen über weite Flächen verbreitet werden. Dabei kommt keine nukleare Kettenreaktion in Gang, aber die Strahlung würde ganze Städte und Regionen auf lange Zeit unbewohnbar machen.

Mit einer "schmutzigen Bombe" lassen sich zwar nur relativ geringe Zerstörungen anrichten, aber dennoch wären Chaos, Panik und Massenpsychosen die wahrscheinlichen Folgen derartiger Anschläge. Die betroffene Gegend müsste aufwendig gereinigt werden und nach einem solchen Anschlag wäre das normale Leben erheblich gestört. Quellen für radioaktives Material können medizinische Geräte oder Abfall von Atomkraftwerken sein. Cäsium gilt als die wahrscheinlichste radioaktive Füllung, weil es vergleichsweise sicher in der Handhabung und in medizinischen Geräten weit verbreitet ist.

Das Horrorszenario

Schwerbewaffnete Kämpfer stürmen einen nuklearen Forschungsreaktor, besetzen eine nuklearmedizinische Praxis oder brechen in ein Strahlenlabor ein und entwenden radioaktive Substanzen. So etwa gestalten sich die Schreckensszenarien nuklearterroristischer Anschläge. Ebenso furchteinflößend wäre es, wechselten auf einem Flughafen oder grenznahen Autobahnparkplatz Container mit radioaktiven Substanzen und einige Hunderttausend Dollar ihre Besitzer. Dass Terroristen Zugang zu Atomwaffen oder Nuklearmaterial erlangen könnten, halten Politiker und Sicherheitsexperten gegenwärtig für die unmittelbarste und extremste Bedrohung der globalen Sicherheit.

Entsprechende Drohungen sind für Andrej Nowikow keine abstrakte Gefahr: "Kriminelle und Terrorgruppen zeigen Interesse am Bau einer sogenannten Dirty Bomb", meint der Chef der Anti-Terror-Zentrale der GUS-Staaten. Auch sein US-amerikanischer Kollege, Michael Leiter, hält die Wahrscheinlichkeit eines radiologischen Bombenangriffs für sehr hoch. Mit Bezug auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA sieht Tomihiro Taniguchi, Vize-Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, für die Menschheit sogar ein "nukleares 9/11" heraufziehen, wenn es Extremisten gelingt, in Plutonium- und Uranlagerstätten einzudringen. Bereits seit längerem deuten Signale darauf hin, dass solche Befürchtungen nicht ganz unberechtigt sind.

"Manche Leute glauben nicht daran, dass es ein reales Risiko gibt", erklärt der Wiener Behörden-Chef Yukiya Amano, "aber die IAEA besitzt eine Datenbank und durchschnittlich alle zwei Tage erhalten wir Informationen über den illegalen Handel mit nuklearem oder radioaktivem Material, und das könnte nur die Spitze des Eisbergs sein."

Bereits im November 1995 wurde im Moskauer Ismailowsky-Park eine Kiste mit radioaktivem Cäsium gefunden, das eine tschetschenische Gruppierung dort als Warnung versteckt hatte. Der Londoner Evening Standard meldete kürzlich, dass die Geheimdienste Großbritanniens, Pakistans und der USA vor einiger Zeit den Einsatz einer "schmutzigen Bombe" in London verhindert hätten. Als Konsequenz, so der konservative Unterhausabgeordnete Patrick Mercer, seien Evakuierungspläne nicht nur für die Metropole sondern auch für weitere britische Städte ausgearbeitet worden. Das Parlament würde im Ernstfall an einen geheimen Ort verlegt werden, und die Krankenhäuser der Hauptstadt hätten Anti-Strahlungsmedikamente wie beispielsweise Jodtabletten in großen Mengen vorrätig, um sie im Ernstfall an die Bevölkerung zu verteilen.

Veröffentlichungen der Internet-Plattform Wikileaks zufolge warnten Sicherheitsbehörden wiederholt davor, dass Islamisten die technischen Kenntnisse zum Bau radiologischer Bomben hätten und über weltweite schwarze Kanäle das nötige Material bezögen. So wurde an der kasachisch-usbekischen Grenze ein Güterzug mit waffenfähigem Material entdeckt. Ebenso meldet das Enthüllungsportal geplatzte Schmuggelversuche in Kenia, Namibia, Ruanda, und Uganda. In Portugals Hauptstadt Lissabon sollen nicht weniger als sechs gestohlene Uranplatten aus dem ukrainischen Unglücksreaktor Tschernobyl zum Kauf angeboten worden sein.

Andererseits wiegeln beschwichtigende Stimmen aber auch ab. "Al-Kaida hat nukleare Ambitionen aber keine nuklearen Kapazitäten", meint Brian Michael Jenkins von der US-amerikanischen RAND Corporation: "Osama Bin Laden versucht seit den frühen 1990-er Jahren Atomwaffen oder waffenfähiges Material zu kaufen, aber anscheinend bisher ohne Erfolg."

Verbot von Nuklearmaterial könnte Abrüstung einleiten

Der Schmuggel oder Diebstahl von Strahlungsmaterial ist dennoch eine akute Gefahr. In der Genfer Abrüstungskonferenz steht die Ächtung radiologischer Waffen seit langem auf der Tagesordnung. In jüngster Zeit konzentrieren sich die Bemühungen auf den Produktionsstopp von nuklearem Spaltmaterial, den sogenannten "cut-off". Ein solches Abschneiden des Zuflusses von neuem Spaltmaterial könnte durchaus der Auftakt zur atomaren Abrüstung sein und später auf jegliche radioaktive Substanzen für nichtfriedliche Zwecke ausgeweitet werden.

Die weltweit existierenden Mengen an Plutonium und hoch angereichertem Uran (HEU) reichen für den Bau von 100.000 nuklearen Sprengköpfen aus, mit einer Halbwertszeit von rund 25.000 Jahren! Hinzu kommen außerdem über 2.700 kg radioaktiven Materials in zivilen Forschungsreaktoren sowie in medizinischen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen. Durch die in den russisch-amerikanischen Verträgen vorgesehenen Abrüstungsmaßnahmen kommen weitere 750 t HEU und 150 t Plutonium hinzu. Unverzügliches Handeln ist also dringend geboten.

Aber nationalegoistische Interessen haben bisher Fortschritte verhindert. Ein Durchbruch schien im Sommer 2009 erreicht, als die Genfer Konferenz einmütig ein Arbeitsprogramm und den Beginn von Verhandlungen über einen Produktionsstopp von militärischem Spaltmaterial beschloss.

Doch die Freude währte nicht lange. Pakistan verabschiedete sich wenig später vom bereits erzielten Konsens und blockiert seither als einziger Staat offen den Verhandlungsbeginn. Ursache ist die regionale Rivalität auf dem indischen Subkontinent. Nach den Nukleartests Indiens und Pakistans im Mai 1998 betreiben beide Staaten einen nuklearen Rüstungswettlauf, doch von deutlich unterschiedlichen Ausgangspositionen aus. Weil Pakistan vergleichsweise geringere Mengen an Spaltmaterial besitzt, fordert Islamabad, auch vorhandene Bestände in ein Verbot einzubeziehen. Gerade das aber will Neu Delhi verhindern, das sich aus dem umstrittenen Nuklearabkommen mit den USA sogar eine Aufstockung der Spaltvorräte erhofft. Ob die jetzt gemeldete Verdopplung des pakistanischen Atomwaffenarsenals auf etwa 110 Sprengköpfe die Verweigerungshaltung der Regierung beeinflusst, bleibt abzuwarten.

Ein Verhandlungsauftrag liegt mit dem sogenannten "Shannon-Mandat" jedenfalls seit langem vor. Dem kanadischen Botschafter Gerald E. Shannon war es seinerzeit gelungen, alle 65 Delegationen auf das Mandat einzuschwören, einen "nichtdiskriminierenden, internationalen und wirksam verifizierbaren Vertrag über das Verbot der Herstellung von spaltbarem Material für Kernwaffen oder andere Kernsprengkörper" auszuhandeln.

Nachdem die Obama-Regierung die ablehnende Position ihrer Vorgängerin korrigiert hat, fordert Washington nun energisch den Verhandlungsbeginn. "Unsere Geduld ist nicht unendlich", warnte US-Außenministerin Hillary Clinton die Genfer Konferenz Anfang März: "Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass ein einziger Staat das Konsensprinzip missbraucht und auf immer und ewig die legitimen Wünsche der übrigen 64 Staaten hintertreibt, die solche Verhandlungen über ein Abkommen, das unsere gemeinsame Sicherheit stärken würde, beginnen wollen."

Bereits zu Beginn der diesjährigen Sitzungsperiode hatte US-Chefunterhändlerin Rose Gottemoeller gedrängt, die Zeit laufe aus: "Wenn wir keine Weg finden, die Verhandlungen in der Abrüstungskonferenz zu beginnen, müssen wir andere Optionen erwägen." Als Vorbild dafür könnten die Verhandlungen zum Verbot von Anti-Personenminen und von Streumunition dienen, die in erstaunlich kurzer Zeit zu völkerrechtlich verbindlichen Verträgen geführt hatten.

Globale Vorräte an nuklearem Spaltmaterial (in Tonnen)

 Material  zivil  militärisch
 Plutonium  1 700     155
 hoch angereichertes Uran     175  1 725

Quelle: Bulletin of the Atomic Scientists

Weltweite Uranvorräte in Forschungseinrichtungen

Alles in allem befinden sich etwa 20.000 kg hoch angereichertes Uran (HEU) in 345 Forschungsreaktoren auf dem Gebiet von 58 verschiedenen Staaten, darunter mindestens 28 Entwicklungsländern. 95 dieser Reaktoren sind zwar nicht mehr in Betrieb, allerdings wird in vielen immer noch HEU gelagert. Im Hinblick auf die geringeren physischen Schutzvorkehrungen, die Forschungsreaktoren im Vergleich zu anderen Atom-Anlagen haben, ist das dort verbliebene hoch angereicherte Uran verwundbarer gegenüber Diebstahl und illegaler Verbreitung, zumal nach wie vor keine internationalen Standards zu deren Schutz existieren.

Angaben nach IAEA http://www.iaea.org/Publications/Factsheets/English/ines.pdf und: Aurora-Magazin ( http://www.aurora-magazin.at/gesellschaft/atom_terror_frm.htm )

Biologieprofessor und Umweltexperte Alexej Jablokow über die Opferbilanz von Tschernobyl:

"Einige Regionen haben eine große Menge abbekommen, andere Gebiete nur wenig. Dazu kommen die Unterschiede zwischen den ständig wechselnden Radionukliden: Jod-131, besonders gefährlich für Schilddrüsenkrebs, bleibt nur einige Wochen aktiv, Plutonium aber über Zehntausende von Jahren. In der ersten Woche nach der Explosion war die "kombinierte" Strahlenbelastung - wenn man einige Dutzend Radionuklide zusammen betrachtet - tausend mal höher als in den Monaten danach. Trotz all dieser Unsicherheitsfaktoren haben unabhängige US-amerikanische und kanadische Experten die Gesamtzahl der Toten berechnet und auf 900.000 bis 1,8 Millionen Menschen weltweit beziffert. Diese Zahl bezieht auch zukünftige Tote mit ein, weil die Tschernobyl-Nuklide weiter in der Biosphäre bleiben."

Veröffentlicht am

20. April 2011

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