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26 Jahre nach der Chemiekatastrophe im indischen Bhopal- Union Carbide, Exxon, Enron, BP

Von P. Sainath, 16.06.2010 - CP / ZNet

Über 20.000 Tote, über eine halbe Million Verstümmelte, chronisch Kranke und andere Betroffene. Die durchschnittliche Entschädigung pro Opfer betrug 12.414 RupienHier wurde der Wert der Rupie von 1989 zugrundegelegt. Insgesamt wurden $470 Millionen gezahlt - an 574.367 Opfer. Mehr als ein halbes Jahrhundert musste vergehen, bis sieben ehemalige Offizielle des indischen Subunternehmens der (amerikanischen Firma) ‘Union Carbide’ zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von $2.100 verurteilt wurden. Vom amerikanischen Mutterkonzern - dessen Schuld weit größer ist -, wurde niemand verurteilt.

Dennoch ist es etwas naiv zu glauben, die größte Ungerechtigkeit im Fall ‘Bhopal’ sei die Tatsache, dass der Chef von ‘Union Carbide’ (UCC), Warren Anderson, von den USA nicht ausgeliefert wurde. Mehr als zwei Jahrzehnte nach den Lehren aus der Gaskatastrophe von Bhopal (1984) - über die Tyrannei der Großkonzerne - verdrängen wir weiter und zwar absolut. Mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem das MIC-Gas in Bhopal mehr als 20.000 Menschen (die meisten davon sehr arme) tötete, zahlen die Bewohner Bhopals noch immer den Preis für das Verbrechen des US-Unternehmens UCC - in Form von gesundheitlichen Langzeitschäden (Gasopfer), toxisch verseuchtem Wasser und vergifteter Böden rund um das ehemalige Firmengelände. Und falls ein Gesetz, das die indische Regierung gerade in Planung hat - das Civil Liability for Nuclear Damage Bill (Gesetz über die zivile Entschädigung bei atomarer Schädigung) - durchkommen sollte, werden in Indien künftig Vorfälle dieser Art rechtlich abgedeckt sein.

Bhopal war der schreckliche Auftakt zu einer neuen Ära und signalisierte, dass bei den Konzernen alle Schranken der Zurückhaltung gefallen waren. Das Ölleck im Golf von Mexiko - die Schätzungen reichen von 30.000 Barrels am Tag bis zu 80.000 Barrel am Tag -, ist immer noch nicht gestopft. Dieser Unfall ist der Höhepunkt eines Vierteljahrhunderts, in dem die Konzerne, um des Profites willen, wirklich alles tun konnten (und auch taten). Die menschlichen Kosten zählten nicht. Barack Obamas ‘harte Worte’ an die Adresse von BP haben vor allem mit den bevorstehenden US-Wahlen im November zu tun - Umfragegetöse. BP indes kann Zuversicht schöpfen aus zwei Entscheidungen des Obersten US-Gerichtshofs, die in den letzten beiden Jahren ergangen sind.

Die erste Entscheidung stammt aus dem Jahr 2008. Damals ging es um die juristische Aufarbeitung des Ölunfalls der ‘Exxon Valdez’ im Jahr 1989. Diese Ölpest war die bis dahin größte Ölkatastrophe in der Geschichte - zumindest die größte eingestandene. Um es Ihnen zu verdeutlichen: Der so genannte "Blowout" des Bohrlochs der ‘Deepwater Horizon’ produziert ungefähr alle 8 Tage eine Exxon-Valdez-Katastrophe - und das seit Ende April. Im Falle Exxon verhängte die Jury 1994 eine Geldstrafe in Höhe von $5 Milliarden über das Unternehmen. 2006 wurde diese Summe "in einem Widerspruchsverfahren auf 2,5 Milliarden Dollar halbiert", so Sharon Smith in einem aufrüttelnden Artikel für counterpunch.org. Im Juni 2008 "reduzierte der Oberste Gerichtshof (der USAI) die Summe ein weiteres Mal, um 80 Prozent, auf circa $500 Millionen - das macht im Durchschnitt $15.000 pro Kläger", schreibt Smith. Exxon-Manager Lee Raymond, der leidenschaftlich gegen die Entschädigungsforderungen angekämpft hatte, ist inzwischen in Pension gegangen - mit einem 400-Million-Dollar-Paket ganz für sich allein. Smith weist darauf hin, dass die Opfer der ‘Exxon Valdez’ in etwa die gleiche Summe erhalten: Allerdings müssen sie das Geld mit 33.000 Mitbetroffenen teilen. Das ergibt dann pro Person eine Summe von $15.000 - rund 10 Prozent der ursprünglich zugesprochenen Entschädigung.

Wie allgemein bekannt, trieben die Kleptomanen der Wallstreet im September desselben Jahren (2008) die Weltökonomie in den Ruin. Millionen von Menschen in den USA und andernorts verloren ihre Jobs und ihre Existenzen. Dennoch konnten Amerikas Manager auch 2008 Milliarden-Boni einsacken. Selbst die New York Times fühlte sich damals genötigt, in einem redaktionellen Leitartikel zu schreiben: "Nur Wochen, nachdem das (US-)Schatzamt neun amerikanischen Top-Banken $125 Milliarden an Steuergeldern zugeschossen hat, um sie aus einer nie dagewesenen Notlage zu retten, schöpfen Banker wieder Milliarden aus einem Boni-Pool, um sich für ihre Leistung zu belohnen." (Während des Wahlkampfes 2008 hatte Big Oil übrigens massiv für Offshore-Bohrungen geworben - mit dem lustigen Slogan: "Drill, Baby, drill!" (Bohr, Baby, bohr). Welchen lustigen Spruch werden sie sich wohl diesmal einfallen lassen, vielleicht "blubber, Baby, blubber?")

2010, knapp drei Monate, bevor BP den Golf von Mexiko in einen Schlammsee verwandelte, stärkte der Oberste Gerichtshof der USA die Position der Konzerne ein weiteres Mal. Diesmal ging es um den Fall ‘Citizens United versus Federal Election Commission’. Ralph Nader drückt es so aus: "Durch diese Entscheidung wird es den Konzernen möglich sein, große Summen an Unternehmensgeldern (…) DIREKT in einen Wahlkampfsumpf zu pumpen, der ohnehin überquillt von (…) (Konzern-)Dollars (…) . (Jetzt) ist es Konzernen also möglich, Leute, die für ein Amt auf kommunaler, bundesstaatlicher oder bundesstaatlicher Ebene kandidieren, zu belohnen oder einzuschüchtern."

Mason Gaffney bringt es im Newsletter von CounterPunch auf den Punkt: "Da steckt die Idee dahinter, dass ein Konzern, im rechtlichen Sinne, eine "Person" ist - mit allen Rechten (wenn auch nicht allen Pflichten) einer Person, siehe das Recht auf freie Meinungsäußerung; und spenden ist nun mal eine Form der freien Rede". Kopf hoch, BP, Hoffnung ist in Sicht, wenn man bedenkt, wie viele Leute es mit der fetten Kohle von Big Oil in den Senat bzw. den Kongress geschafft haben.

Angesichts der BP-Ölpest sollte man jene Katastrophenopfer nicht vergessen, die weder weiß noch amerikanische Staatsbürger sind. Wie der Kolumnist Conn Hallinan von Foreign Policy in Focus schreibt, "zeigen die Zahlen der nigerianischen Regierung, dass es (in Nigeria) zwischen (den Jahren) 1970 und 2000 9.000 Öllecks gab, und derzeit gibt es offiziell 2.000 Öllecks." Doch was zählt schon afrikanisches Leben?

Sieben Jahre nach dem Unfall in Bhopal war Larry Summers Chefökonom der Weltbank und verfasste ein berüchtigtes Memo, in dem er unter anderem schrieb: "Nur unter Ihnen und mir (gesagt). Sollte die Weltbank sich nicht dafür einsetzen, dass MEHR schmutzige Industrien in die LDCs ((‘Less Developed Countries) (Weniger Entwickelte Länder) abwandern?" Summers fand, dass "die ökonomische Logik, die dahintersteckt, wenn eine Ladung toxischer Fracht in dem Land mit den niedrigsten Löhnen entsorgt wird, nicht zu beanstanden ist, und wir sollten uns das klarmachen".

Später behauptete Summers, er habe nur einen Witz gemacht. Das alles sei sarkastisch gemeint gewesen usw.. Seine lächerliche Ausrede nahmen ihm die wenigsten ab. Dennoch wurde Summers Harvard-Präsident und ist heue Obamas ökonomischer Chefberater. Die Logik, die bereits in diesem alten Memo anklang, hat sich in der wirklichen Welt bewahrheitet. Genau das war es ja, was in Bhopal passiert war.

Die Reaktion der (in Indien) regierenden UPA auf das Urteil zu Bhopal belegt, dass die aktuelle Regierung nicht ethischer ist als die Regierung von 1984. Trauer um Bhopal - während man gleichzeitig ein neues Atomgesetz vorbereitet -, zeugt von einer kaum zu überbietenden Heuchelei. In Bhopal fand der Ausverkauf statt. Doch mit dem neuen Gesetz findet der vorgezogene Ausverkauf statt - bevor etwas passiert ist.

Haben nur Regierungen etwas zu verbergen, wenn es um Bhopal 1984 geht? Selbst zum Unglückszeitpunkt druckten die Zeitungen bereitwillig Geschichten, die man ihnen eingegeben hatte und in denen von "Sabotage durch Arbeiter von Union Carbide" die Rede war. Diese hätten die Katastrophe verursacht. Vier Jahre später wurde in einer von ‘Union Carbide’ in Auftrag gegebenen ‘Studie’ die Behauptung aufgestellt, das Unglück sei von einem unzufriedenen Arbeiter der Anlage verursacht worden. Immer wieder betont ‘Union Carbide’, vor keinem US-Gericht verklagt werden zu können. Im Dezember 1985 taten sich einige der größten indischen "Rechtsgelehrten" - unter ihnen Nani Palkhivala - zusammen und halfen mit, die US-Gerichte davon zu überzeugen, dass das indische Gerichtswesen der angemessene Ort für diesen Fall sei. (Mit den Ergebnissen müssen wir heute leben.) Das ersparte ‘Union Carbide’ wohl vergleichsweise weit höhere Schadenersatzsummen durch US-Gerichte.

Keine zehn Jahre später wurde der Energieriese Enron zum Symbol einer neuen Ära - der Liberalisierung (Neoliberalismus). Top-Akademiker, so genannte "Experten" und Kolumnisten gaben sich alle Mühe, uns den Enron-Mob als netten Menschenschlag zu verkaufen. Dabei hatte es im Vorfeld viel Kritik an dem Vertrag mit Enron gegeben. Der Gesinnungswandel hing wohl mit der Summe in Höhe von mehreren 10 Millionen Dollars zusammen, die Enron investierte, um die indischen Meinungsmacher und Parlamentarier "weiterzubilden".

Auch die Werbung plätscherte frei dahin. In einer berühmten Zeitung war zunächst sehr kritisch über Enron berichtet worden. Dann kam die Kehrtwende, und die Zeitung wurde zu einem Cheerleader Enrons. Viele andere taten es ihr gleich. Ich denke, diese Art von Finanzierung sorgt für viel "Weiterbildung". Im indischen Bundesstaat Maharashtra und in Indien an sich sorgte sie indes für Millionenverluste. Der Stromsektor des einst so Einnahmen starken Staates verlor Millionen. Als Reaktion wurden Dienstleistungen und Sozialprogramme zusammengestrichen. Enron erwies sich als Betrugsunternehmen und kollabierte (in den USA). Einige seiner Topguns flohen vor dem Gesetz. Uns blieb das Chaos. Es gab nur eine Chance, die Katastrophe abzuwenden. Doch diese wurde zunichte gemacht, als der Oberste Gerichtshof der USA die Klage gegen ein Abkommen mit Enron verwarf, das CITU und Abhay Mehta getroffen hatten.

Obamas Sprache scheint die Gefühle der Briten zu verletzen. In Wirklichkeit haben die USA British Petroleum (BP) in der Vergangenheit unterstützt und sogar subventioniert. 1953 inszenierte die CIA im Iran jenen berüchtigten Staatsstreich, um die Regierung von Mohammed Massadegh loszuwerden. Der (Journalist) Alexander Cockburn spricht von "dem größten "Freikauf" (Bailout) in der Geschichte".

Das iranische Parlament hatte zuvor einstimmig beschlossen, die Ölförderung, die bislang Sache der anglo-iranischen Ölgesellschaft gewesen war, zu verstaatlichen. Mossadegh wurde gestürzt. An seiner Stelle wurde "Shah Reza Pahlewi" installiert - eine Kreatur der westlichen Ölfirmen, mit tyrannischen Machtbefugnissen. Die AIOC (anglo-iranische Ölgesellschaft) erhielt 40% ihrer Anteile zurück und wurde in ein internationales Konsortium überführt - unter dem Namen ‘British Petroleum’ (BP):

Was ‘Union Carbide’ in Bhopal angerichtet hat bzw. dass es damit durchkam, ist schockierend. Erstaunlich war es indes nicht. Seit dem Unglück ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Die Macht der Konzerne hat in dieser Zeit weiter zugenommen. Bhopal war/ist möglich, wenn Unternehmen gegenüber Gemeinden privilegiert werden und wenn private Profite mehr zählen als das öffentliche Interesse. Beschneidet die Macht der Konzerne - in Indien und Amerika - oder diese Macht wird euch zerreißen.

Ein wichtiger Punkt sollte nicht vergessen werden: Die Menschen in Bhopal sagen immer wieder: "Das darf nie wieder geschehen". Doch anscheinend sorgen wir genau für das Gegenteil. Das neue (indische) Gesetz über zivile Entschädigungen im Falle atomarer Schäden gewährleistet - in seiner jetzigen Form - dass US-Konzerne, die atomare Unfälle auf indischem Boden verursachen, nur mit minimalen Entschädigungszahlungen rechnen müssen. Eine Entschädigungssumme, die im Falle ‘Bhopal’ noch für sträflich gering gegolten hätte, könnte in Zukunft Rechtsnorm werden. Willkommen zurück, Larry Summers.

P. Sainath ist Mitarbeiter der indischen Zeitung ‘The Hindu’. Er ist Redakteur der Abteilung für ländliche Angelegenheiten. Das Original dieses Artikels ist in ‘The Hindu’ erschienen. P. Sainath ist Autor des Buches: ‘Everybody Loves a Good Drought: Stories from India’s Poorest Districts’ psainath@vsnl.com.

 

 

Quelle: ZNet Deutschland vom 21.06.2010. Originalartikel: From Union Carbide to Exxon to BP . Übersetzt von: Andrea Noll.

Fußnoten

Veröffentlicht am

22. Juni 2010

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