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Die wahre Gefahr an Bord der “Freedom Flotilla”

Der brutale israelische Angriff auf die humanitäre Gaza-Flotte schockiert die Welt

 

Von Noam Chomsky, 11.06.2010 - ITT / ZNet

Schiffe in internationalen Gewässern zu entführen und Passagiere zu töten, ist natürlich ein ernstes Verbrechen.

Allerdings ist es kein neues Verbrechen. Seit Jahrzehnten entführt Israel Schiffe zwischen Zypern und dem Libanon und tötet oder entführt Passagiere. Manche dieser Menschen werden in israelischen Gefängnissen als Geiseln gehalten.

Israel glaubt, solche Verbrechen straffrei begehen zu können, da die USA sie tolerieren und Europa generell hinterherrennt, wenn die USA vorangehen.

Am 1. Juni schrieb die Redaktion von The Guardian zurecht: "Hätte gestern eine Gruppe von bewaffneten somalischen Piraten sechs Schiffe auf hoher See geentert und dabei mindestens 10 Passagiere getötet und viele weitere verletzt, so wäre heute eine Nato-Taskforce unterwegs an die Küste Somalias". In solchen Fällen verlangt der Nato-Vertrag von seinen Mitgliedern nämlich, einem Nato-Staat, der auf hoher See angegriffen wird, zu Hilfe zu kommen. Die Türkei wurde auf Hoher See angegriffen.

Israels Vorwand für den Angriff lautet, die "Freedom Flotilla" hätte Materialien transportiert, aus denen die Hamas Bunker bauen könnte, aus denen Raketen auf Israel abgefeuert werden könnten.

Dieser Vorwand ist unglaubwürdig, denn Israel könnte die Bedrohung durch Raketen leicht auf friedliche Weise stoppen.

Der Hintergrund ist wichtig. Die Hamas galt als große terroristische Bedrohung, als sie im Januar 2006 in freien Wahlen den Sieg errang. Die USA und Israel weiteten ihre Bestrafung der Palästinenser - für deren neues Verbrechen, falsch gewählt zu haben -, massiv aus.

Ein Resultat war die Belagerung Gazas - einschließlich einer Marineblockade. Im Juni 2007 wurde die Belagerung massiv verschärft, nachdem die Hamas, nach einem Bürgerkrieg, die Kontrolle über das Gebiet erlangt hatte.

Was im Allgemeinen als ‘Militärputsch’ der Hamas bezeichnet wird, war im Grunde von den USA und Israel angezettelt. Es war der krude Versuch, das Ergebnis der Wahlen, durch die die Hamas an die Macht gekommen war, nichtig zu machen.

Spätestens seit April 2008 sind diese Tatsachen generell bekannt. Damals berichtete David Rose in der Zeitschrift Vanity Fair, dass George W. Bushs damalige Nationale Sicherheitsberaterin Rice und deren Stellvertreter Elliott Abrams "eine bewaffnete Gruppe - unter Muhammad Dahlan, dem starken Mann der Fatah - unterstützt hatten, was in Gaza einen blutigen Bürgerkrieg auslöste, aus dem die Fatah stärker denn je hervorging".

Raketen auf benachbarte israelische Kleinstädte abzufeuern, war Teil des Hamas-Terrors. Natürlich war das kriminell - wenngleich sich dies nicht einmal mit einem Bruchteil der routinemäßigen amerikanisch-israelischen Verbrechen in Gaza messen lässt.

Im Juni 2008 kam es zwischen Israel und der Hamas zu einem Waffenstillstandsabkommen. Die israelische Regierung gibt sogar formal zu, dass dieses Abkommen von der Hamas eingehalten wurde - bis zum 4. November 2008, als Israel das Abkommen brach, indem es in Gaza einmarschierte und ein halbes Dutzend Hamas-Aktivisten tötete.

Die Hamas bot eine Erneuerung des Waffenstillstands an. Das israelische Kabinett zog das Angebot in Erwägung - und lehnte ab. Man zog einen mörderischen Einmarsch in Gaza (vom 27. Dezember 2008 an) vor.

Israel hat - wie andere Staaten auch - ein Recht auf Selbstverteidigung. Aber hatte Israel auch das Recht, im Namen der Selbstverteidigung in Gaza Gewalt auszuüben? Das internationale Recht, einschließlich der Charta der Vereinten Nationen, ist an dieser Stelle eindeutig: Eine Nation ist zu solchen Maßnahmen nur dann berechtigt, wenn sie alle anderen, friedlichen, Mittel ausgeschöpft hat. Im vorliegenden Fall wurden diese Mittel nicht einmal erprobt, obwohl - oder vielleicht gerade weil - alles dafür sprach, dass sie erfolgreich sein könnten.

Aus diesem Grund war die Gaza-Invasion schiere kriminelle Aggression. Das Gleiche gilt für die israelische Gewalt gegen die Flotte.

Die Belagerung Gazas ist barbarisch. Ihr Ziel ist es, die Menschen, wie Tiere in Käfigen, gerade noch am Leben zu erhalten (damit es keine internationalen Proteste gibt), aber nicht viel mehr. Es ist die letzte Phase eines langfristigen israelischen Planes - mit Rückendeckung der USA - mit dem Gaza von der Westbank abgetrennt werden soll.

Die israelische Journalistin und führende Gaza-Expertin Amira Hass umreißt die Geschichte dieses Abtrennungsprozesses so: "Mit der Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Palästinenser, im Januar 1991, wurde ein Prozess umgekehrt, der im Juni 1967 initiiert worden war.

Damals konnte ein großer Teil der palästinensischen Bevölkerung - zum ersten Mal seit 1948 - wieder im offenen Territorium eines einzigen Landes leben. Sicher, es war besetzt, aber es war trotzdem an einem Stück…"

Hass zieht die Schlussfolgerung: "Die totale Abtrennung des Gazastreifens von der Westbank ist einer der größten Erfolge der israelischen Politik - deren übergeordnetes Ziel es ist, eine Lösung auf Grundlage von internationalen Beschlüssen und Vereinbarungen zu verhindern und stattdessen ein Arrangement auf Grundlage der militärische Überlegenheit Israels zu diktieren".

Die Freiheitsflotte hat dieser Politik getrotzt und musste deswegen zerquetscht werden.

Ein Rahmenwerk zur Regelung des arabisch-israelischen Konflikts gibt es seit 1976. Damals legten regionale arabische Staaten dem UNO-Sicherheitsrat eine Resolution vor, in der eine Zweistaaten-Lösung, auf Grundlage der internationalen Grenze, gefordert wurde. Dieser Vorschlag bezog alle Sicherheitsgarantien aus der UNO-Resolution 242 mit ein. Die Resolution 242 war nach dem Sechstagekrieg von 1967 (Juni-Krieg) verabschiedet worden.

Die wesentlichen Prinzipien (dieses Vorschlags) werden praktisch von der gesamten Welt unterstützt - einschließlich der Arabischen Liga, der Organisation Islamischer Staaten (einschließlich des Iran); zudem werden sie von relevanten nichtstaatlichen Akteuren unterstützt, einschließlich der Hamas.

Doch die USA und Israel gehen seit drei Jahrzehnten voran, wenn es um die Zurückweisung einer solchen Lösung geht. Allerdings gab es eine - entscheidende und hochinteressante - Ausnahme. Im Januar 2001 initiierte US-Präsident Bill Clinton israelisch-palästinensische Verhandlungen im ägyptischen Taba. Es war Clintons letzter Monat im Amt. Bei diesen Verhandlungen wäre es beinahe zu einer Übereinkunft gekommen. Die Verhandlungsteilnehmer kündigten es an. Dann brach Israel die Verhandlungen ab.

Und heute lebt das brutale Erbe des gescheiterten Friedens fort.

Gegen mächtige Staaten lässt sich das internationale Recht nicht durchsetzen - es sei denn, die eigenen Bürger/innen dieser Staaten nehmen es in die Hand. Dies ist jedoch immer eine schwierige Aufgabe - vor allem, wenn Meinungsmacher ein Verbrechen für legitim erklären, explizit oder durch stillschweigende Akzeptanz der kriminellen Umstände. Letzteres ist noch verwerflicher, da es das Verbrechen unsichtbar macht.

Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) und hat in den 60er Jahren die Vorstellungen über Sprache und Denken revolutioniert. Zugleich ist er einer der prominentesten und schärfsten Kritiker der gegenwärtigen Weltordnung und des US-Imperialismus.

 

Quelle: ZNet Deutschland vom 13.06.2010. Originalartikel: The Real Threat Aboard the Freedom Flotilla . Übersetzt von: Andrea Noll.

Veröffentlicht am

14. Juni 2010

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