Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Der Vertrag von Lissabon - eine verpasste Chance

Von Hans Dieter Zepf

"Der Vertrag über eine Verfassung für Europa", den die Regierungen der EU im Oktober 2004 nach langem Procedere unterzeichnet hatten, wurde durch die Referenden der Franzosen und Niederländer 2005 abgelehnt. Die Regierungen der EU haben leider aus der Ablehnung der Niederländer und Franzosen keine Konsequenzen gezogen. Der Lissabonner Vertrag (auch Reformvertrag genannt) wurde am 13. Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Um Referenden zu vermeiden, wurde das Wort "Verfassung" vermieden. Im Juni 2008 haben die Iren durch ein Referendum, das nur in ihrer Verfassung vorgeschrieben ist, den neuen Vertrag abgelehnt. In einem zweiten Referendum haben sie unter dem Druck der anderen EU-Staaten ihre Zustimmung gegeben.

Der "Vertrag von Lissabon" enthält keine grundlegenden Änderungen gegenüber dem "Vertrag über eine Verfassung für Europa". Es handelt sich um "kosmetische Zugeständnisse". Der frühere französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing hat es "unverblümt" so formuliert: "Die Regierungen Europas haben sich auf diese Weise auf kosmetische Änderungen an der Verfassung geeinigt, um sie so leichter verdaulich zu gestalten"Regina Viotto/Andreas Fisahn S. 19.. Der Neoliberalismus sowie die Militarisierung der EU, zwei wesentliche Elemente des Vertrages, werden weiterhin fortgeschrieben.

Die Sprache des Vertrages ist schwierig, er ist unübersichtlich und sehr umfangreich. Man wird den Verdacht nicht los, dass dahinter eine Strategie steht.

Der Vertrag hat vier Teile:

1. Vertrag über die Europäische Union
2. Vertrag über die Arbeitsweise der Union
3. Charta der Grundrechte der Europäischen Union
4. Protokolle

Die Organe der Union sind folgende: Europäisches Parlament (wird in Direktwahl von BürgerInnen der Mitgliedstaaten gewählt), der Europäische Rat (Staats - und Regierungschefs, Außenminister), der Rat (Minister), die Kommission (aus jedem Mitgliedsland ein Kommissar), der Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank, der Rechnungshof.

Kritikpunkte:

1. Militarisierung der Europäischen Union

a) Die Mitgliedsstaaten der EU werden zur Aufrüstung verpflichtet.

" Die Mitgliedstaaten verpflichten [eigene Hervorhebung] sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Die Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (im Folgenden "Europäische Verteidigungsagentur) ermittelt den operativen Bedarf und fördert Maßnahmen zur Bedarfsdeckung, trägt zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors bei und führt diese Maßnahmen gegebenenfalls durch, beteiligt sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung und unterstützt den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten" (EUV Art. 42,3).

Die "militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" heißt nichts anderes als Aufrüstung. Die "Europäische Verteidigungsagentur" ist das Instrument hierzu.

Die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur Aufrüstung hat es bisher in keiner Verfassung gegeben. Sie ist ein Verstoß gegen die Würde des Menschen und auf das Recht auf Leben, denn Rüstung tötet bereits im Frieden. Gelder, die dringend für den Kampf gegen Hunger, für ausreichende medizinische Versorgung, für Klimaschutz und für Bildung benötigt werden, sind damit gebunden.

In Art. 43,1 EUV ist zwar auch von "Abrüstungsmaßnahmen" die Rede, aber EUV Art. 42,3 (siehe oben) spricht eine andere Sprache. Die EU soll eine militärische Interventionsmacht werdenDuchrow, S. 14  " … im Kern soll die EU per Vertrag in eine weltweit operierende militärische Interventionsmacht umgewandelt werden. Was das bedeutet, kann man unschwer an den Strategieentwicklungen und faktischen Kriegen des vergangenen Jahrzehnts ablesen. Die NATO hat sich bereits das Recht der Selbstmandatierung genommen. Auch Angriffskriege wie gegen das ehemalige Jugoslawien und Afghanistan wären nun in Europa vertraglich legitimiert. So wird man sich wahrscheinlich auch bald der Präventivkriegsstrategie der USA anschließen. Auch ist nicht sicher, welches Recht unser Parlament und Bundesrat noch bei der Entsendung deutscher Soldaten im europäischen Rahmen haben werden. Das Europäische Parlament wird zu den Entscheidungen des Europäischen Rates, also der Exekutive, nur angehört. Damit wird das deutsche Grundgesetz mit seinem strikten Verbot von Angriffskriegen (vgl. Art. 26/1 GG- eigene Einfügung) und mit seinem Bestehen auf der notwendigen parlamentarischen Entscheidung schwer gefährdet. Denn trotz einer leichten Stärkung des Parlaments der EU erhält dieses nicht die Kompetenzen eines auf Gewaltenteilung beruhenden Parlaments, die nationalen Parlamente dagegen werden immer mehr in ihrer Kompetenz beschnitten".

b) Die Mitgliedstaaten werden zur gegenseitigen militärischen Hilfe verpflichtet.

"Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden [eigene Hervorhebung] die anderen Mitgliedsstaaten ihm alle in ihre Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen" (EUV Art. 42/7).

c) Die Ermöglichung des militärischen Einsatzes im Innern durch die Solidaritätsklausel.

"Die Union und ihre Mitgliedsstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag … betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel. …" (AEUV 222 Art. 1).

Es wird nicht darüber reflektiert, dass der Terrorismus nicht mit militärischen Mittel zu besiegen ist, sondern nur über eine weltweite Verteilungsgerechtigkeit.

Vergeblich sucht man im Vertrag eine Verpflichtung zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung oder die Verpflichtung zur Abschaffung der Atomwaffen. In den Zielkatalog der Union gehört die Absage an jegliche militärische Gewalt.

Die Militarisierung der EU verschlingt Gelder, die für soziale Bereiche nicht mehr zur Verfügung stehen.

In EUV Art 3,5 werden Ziele genannt, die widerlegt werden durch den Militarismus und die neoliberale Wirtschaftspolitik der EU:

"In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen" [eigene Hervorhebungen].

Die Union "schützt und fördert" "ihre Werte und Interessen." Das heißt im Klartext, dass es hier um strategische Interessen geht.

Die Union leistet "einen Beitrag zum Frieden". Die Wirklichkeit sieht anders aus, zum Beispiel durch die Beteiligung an dem unheilvollen Krieg in Afghanistan.

Wie ist es bestellt mit der "Beseitigung der Armut" und dem "Schutz der Menschenrechte", wenn weiterhin europaweit viel Geld ausgegeben wird für Rüstung, Militär und Kriege, aber zu wenig für Konflikt- und Ursachenforschung? Weltweit betragen die Militärausgaben 1.300 Milliarden Dollar, an Entwicklungshilfe wird gespart. Deutschland ist drittgrößter Rüstungsexporteur in der Welt. Die Großmächte modernisieren ihre Atomwaffenarsenale mit hohem finanziellem Aufwand. Gleichzeitig hungern weltweit 800 Millionen Menschen. Täglich sterben an un Hunger ca. 30.000 Kinder. Zu sauberem Trinkwasser oder ausreichender medizinischer Versorgung haben zwei Milliarden Menschen keinen Zugang.

2. Neoliberale Wirtschaftpolitik

"Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt [eigene Hervorhebung], sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. …" (EUV Art. 3,3).

Während hier in EUV Art 3,3 noch von einer in "hohem Maße
wettbewerbsfähigen, sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt" die Rede ist, so heißt es in AEUV Art. 119,1 dass die Mitgliedsstaaten "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet" sind (eigene Hervorhebung). Das Wort "sozial" ist gestrichen. Die Wettbewerbsfähigkeit ist vorrangig und damit sind die angestrebten Ziele von "Vollbeschäftigung" und "sozialem Fortschritt" nachrangig. "Umweltschutz und Umweltqualität" sind leere Worte, solange es noch Kohlekraft - und Atomkraftwerke gibt und nicht alles für ihre Abschaffung getan wird und sie durch erneuerbare Energien ersetzt werden.

Ob soziale oder offene Marktwirtschaft ist im Prinzip unerheblich; denn eine Marktwirtschaft im kapitalistischen System kann nicht sozial sein, denn in ihr geht es um höchstmögliche Rendite mit ihren fatalen Folgen für soziale und ökologische Belange.

Die festgeschriebene neoliberale Wirtschaftsordnung lässt keinen Spielraum für andere Wirtschaftsformen. Die Wirtschaftspolitik der EU lässt die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Die Marktwirtschaft im kapitalistischen System ist für ethische Fragen blind. Es herrscht in ihr Wettbewerb, die Großen vertreiben die Kleinen vom Markt.

Der "freie Kapitalverkehr" mit seinem Zinssystem und der daraus resultierenden Verschuldung und Wachstumszwang belegt, dass das kapitalistische System auf Dauer nicht funktionieren kann. Wer Geld anlegt, es hortet und nicht ausgibt, keine Waren und Dienstleistungen kauft, entzieht es dem Wirtschaftskreislauf .Wenn in der Wirtschaft Geld fehlt, hat das Folgen für Unternehmen und Konsumenten. Die Konjunktur wird blockiert.

3. Demokratiedefizite

Wenn auch das Parlament der EU, das von den Völkern der Nationalstaaten gewählt wird, mehr Zuständigkeiten erhalten hat (AEUV Artikel 289 und 294), so ist als essentielles Demokratiedefizit die Nichtbeteiligung der BürgerInnen der Mitgliedsstaaten am Zustandekommen dieses Vertrages zu beklagen. Die Mitbestimmung von unten gehört zum Wesen der Demokratie.

Ein weiteres Demokratiedefizit zeigt sich im Subsidiaritätsprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip ist in Art. 23 des Grundgesetzes festgeschrieben: "Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einem diesem Grundsatz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet" [eigene Hervorhebung].

In Art. 2 AEUV heißt es, dass im Bereich der "ausschließlichen Zuständigkeit der Union … nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen; die Mitgliedstaaten dürfen in einem solchen Fall nur tätig werden, wenn sie von der Union hierzu ermächtigt werden oder um Rechtsakte der Union durchzuführen". Welche Bereiche unter die "ausschließliche Zuständigkeit der Union" fallen, vgl. AEUV Art. 3. Problematisch ist in AEUV Art. 2/2, wo es um die "geteilte Zuständigkeit" zwischen Union und Mitgliedstaaten geht, der Satz: "Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeit erneut wahr, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeit nicht mehr auszuüben" [eigene Hervorhebung; vgl. zu den Bereichen der geteilten Zuständigkeit AEUV Art.4]. Das bedeutet, dass der Deutsche Bundestag in seinem Recht, eigene Gesetze zu erlassen wesentlich eingeschränkt ist " und damit die rechtliche Vorraussetzung für die Subsidiaritätsklage recht schmal" istElke Schenk, S. 4..

4. Dienstleistungen

Die Liberalisierung der Dienstleistungen (AEUV Art. 56 ff.) ist ein wichtiges Anliegen des Lissabonner Vertrages. Dienstleistungen sind insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten (AEUV Art. 57). Es geht also um Daseinsvorsorge.

In AEUV Art. 56/1 heißt es: "Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union" … sind "verboten". Das Verbot einer Beschränkung der Freiheit von Anbietern, das hier gemeint ist, kann auch Anwendung finden auf Anbieter aus Drittländern: "Das Europäische Parlament und der Rat können gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschließen, dass dieses Kapitel [Art. 56/1 eigene Einfügung] auch auf Erbringer von Dienstleistungen Anwendung findet, welches die Staatsangehörigkeit eines dritten Landes besitzen und innerhalb der Union ansässig sind" ( AEUV Art. 56/2).

Auch die "Liberalisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen wird im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt." ( AEUV Art. 58/2).

Mit all diesen Äußerungen wird hinreichend deutlich, dass die Dienstleistungen privatisiert und dem Wettbewerb unterworfen sind. Das bedeutet, dass derjenige, der die nötige Kaufkraft besitzt, sich im Gegensatz zu Armen die Grundversorgung leisten kannVgl. auch Duchrow, S. 11. "International hängt dieser Problembereich zusammen mit den GATS -Verhandlungen im Rahmen der WTO. Hier hat die EU von allen Drittländern die Liberalisierung (und damit Privatisierung) auch in den ‚sensiblen’ Bereichen der Grundversorgung gefordert (Wasser, Energie, Bildung, Gesundheit, Transport etc.), im Blick auf das Angebot der eigenen Liberalisierung aber diese Bereiche (zunächst) angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks ausgeklammert. Die Wirkungen auf die Entwicklungsländer sind bekanntlich verheerend (im bekanntesten Beispiel von Cochabamba/Bolivien kam es zu bürgerkriegsartigen Zuständen, weil die Armen das privatisierte Trinkwasser nicht mehr zahlen konnten und wollten). Auch hier handelt die EU also direkt gegen gerechte Globalisierung. Aber auch in Europa selbst würde die weitere Liberalisierung und Privatisierung der grundlegenden Dienstleistungen, die die EU anstrebt und deren Grundlagen bereits im Vertrag enthalten sind, die Tendenz zu einer Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen verschärfen. Kaufkräftige könnten sich dann die Grundversorgung leisten, Arme nicht".. Aufgabe der EU wäre es, für gerechte Verteilung der Grundgüter Sorge tragen.

5. Asyl

Bundeskanzlerin Merkel hat auf einem Bürgerforum der Bertelsmann-Stiftung von "Flüchtlingsbekämpfung" gesprochen. Merkel meint damit die Abwehr von Flüchtlingen an den Grenzen von Europa. Unfassbar, dass eine Politikerin sich in so unwürdiger Weise im Ton vergreift. Ihre Wortwahl entspricht exakt der Politik der EU wie die folgenden Texte belegen:

"Die Union entwickelt eine gemeinsame Einwanderungspolitik, die in allen Phasen eine wirksame Steuerung der Migrationsströme [eigene Hervorhebung], eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gewährleisten soll" (AEUV Art. 79,1).

Und: "Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem - in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen [eigene Hervorhebung], das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität - der freie Personenverkehr gewährleistet ist." (EUV Art. 3,2)

Formulierungen wie "wirksame Steuerung der Migrationsströme", "Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung",
sind verschleiernd. Und was heißt "angemessene Behandlung" (AEUV Artikel 79/1) oder"mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf Kontrollen an den Außengrenzen" (EUV Art. 3/2)?

All diese Bestimmungen beinhalten nichts anderes als eine Abschottung der EU gegenüber Flüchtlingen. Die Einwanderungspolitik der EU ist menschenverachtend.

"’Durch die EU-Einwanderungspolitik sollen die Zuströme - im Interesse der Versorgung mit billigen Arbeitskräften - gesteuert werden. Verträge mit Drittstaaten dienen der Abschiebung unerwünschter Menschen. Im Vorgriff auf diese Bestimmungen wurde 2005 die Grenzschutzagentur Frontex gegründet, die an den EU-Außengrenzen und im Mittelmeer patrouliert, um sog. Illegale abzuwehren. Frontex kooperiert mit autokratischen Staaten in Nordafrika, liefert ihnen Ausrüstung und Fahrzeuge oder finanziert Abschiebeflüge, damit die afrikanischen Staaten einen Teil der Schmutzarbeit für das auf seine Werte und Menschenrechte so stolze Europa übernehmen. Das Frontex-Budget ist der am schnellsten wachsende Haushaltsposten der EU, mit einer Vervierfachung der Mittel von 2006 bis 2008 (taz, 13.11.2007)’. Durchschnittlich etwa 1000 Menschen verlieren durch diese EU - Politik an den Grenzen der Festung Europas ihr Leben"zitiert nach Duchrow, S. 12f..

6. Armut

Vorrangiges Ziel der EU ist es, die Armut zu beseitigen.

Die EU bekennt sich dazu "die nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern zu fördern mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu beseitigen … " [eigene Hervorhebung] (EUV Art. 21/2 d). Dann aber wird davon gesprochen "die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den schrittweisen Abbau internationaler Handelshemmnisse" (EUV Art. 21, 2e).

Wie da konkret aussieht "zeigen die bilateralen Handelsverträge (EPAS) zwischen der EU und z.B. verschiedenen Ländern und Regionen in Afrika. Die EU fordert freien Zutritt mit ihren Industriegütern, schirmt sich aber selbst gegen Agrarprodukte ab. Schlimmer noch, sie exportiert z.B. subventioniertes Fleisch etc. nach Afrika und zerstört dort z.T. mit Entwicklungshilfegeldern aufgebaute einheimische Viehzucht. Freier Handel zwischen ungleich starken Partnern führt immer zu schweren Nachteilen für die Schwächeren"Duchrow, S. 12..

7. Sozialstaatlichkeit

Von einer Sozialunion ist die EU meilenweit entfernt. In EUV Art. 3,4 ist nur die Rede von einer "Wirtschafts- und Währungsunion". "Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion …". Das Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit ist auch nicht zu erwarten bei der Festschreibung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Den sozialen Gedanken haben die meisten Mitgliedsstaaten in ihren Verfassungen, z. B. auch Deutschland im Grundgesetz Art. 14,2: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen".

Alle bisherigen kritischen Anmerkungen zum Lissabonner Vertrag bedeuten keine Ablehnung des europäischen Gedankens. Die EU wäre eine Chance für die einzelnen Mitgliedsstaaten, wenn sie den Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglichte. Mit den oben benannten Kritikpunkten ist das allerdings nicht möglich.

Zu den Vorraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben und zu einem sozialen Europa gehören unter anderem:

  • soziale Gerechtigkeit (gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit von Männern und Frauen, einen gesetzlichen Mindestlohn für alle Mitgliedssaaten, in 20 von 27 ist das bereits der Fall). Soziales und Beschäftigungspolitik dürfen nicht der Wettbewerbspolitik untergeordnet werden.
  • dass Gelder nicht an Rüstung und Militär verschwendet werden, sondern verstärkt für gewaltfreie Konfliktbearbeitung verwendet werden.
  • dass in den Grundrechten verbindlich festgelegt wird, dass alle Menschen
  • das Recht auf ein existenzsicherndes Einkommen haben.
  • dass alle den gleichen Zugang zur Bildung haben
  • dass investiert wird in erneuerbare Energien
  • dass das Gesundheitswesen verstaatlicht wird
  • der Ausstieg aus der Atompolitik
  • ein einheitliches und gerechtes Steuersystem in der EU.

Exkurs:

Das Steuersystem in Deutschland bedarf dringend einer ReformDie Schwachen tragen die Starken., ebenso in anderen Mitgliedstaaten. Hier sei nur exemplarisch auf die Situation in Deutschland verwiesen.

Die Vermögenssteuer wurde 1997 abgeschafft. Warum sollte bei uns nicht möglich sein, was in anderen Ländern (USA, Japan, Großbritannien) gängige Praxis ist? Milliardäre werden geschont.

Erhöhung des Spitzensteuersatzes für Großverdiener. Er berägt zur Zeit 42%.

Erhöhung der Körperschaftssteuer (Einkommenssteuer der Kapitalgesellschaften).

Wiedereinführung der Steuer für Veräußerungsgewinne (Veräußerung von Unternehmen oder Unternehmensanteilen) von Kapitalgesellshaften. Gewinner sind Banken und Verrsicherungen.

Bekämpfung der Steuerhinterziehung und Schließung von Steuerschlupflöchern.

Um der Bodenspekulation ein Ende zu bereiten, bedarf es einer Bodenreform, das heißt die Verstaatlichung des Bodens. Wer z. B. bauen will, erhält vom Staat ein Grundstück und zahlt dafür eine jährliche Pacht, die dem Einkommen angemessen ist.

Verstaatlichung der Banken mit Abschaffung des unheilvollen Zinssystems (Zum Zinssystem vgl. oben E. Drewermann).

Alle Vermögenden müssen stärker als bisher in die Pflicht genommen werden. Die Umverteilung von unten nach oben muss aufhören. Die Steuerpolitik ist der entscheidende Hebel für die Umverteilung von unten nach oben. Das gilt ebenso für die anderen Mitgliedstaaten.

Es muss über die Steuern ein Ausgleich zwischen den armen und reichen EU-Mitgliedsstaaten geschaffen werden, um mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen. Das wäre ein Akt der Solidarität.

8. Charta der Grundrechte der EU

Die Charta der Grundrechte der EU ist nicht Teil der Vertragstexte. Sie ist ein eigenständiges Dokument, das durch Art. 6 /1 EUV den Verträgen gleichgestellt wird. In der Verfassung war die Charta Vertragsbestandteil und war somit für alle Mitgliedsstaaten bindend. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Für das Vereinigte Königreich und Polen gelten Ausnahmeregelungen, "wonach sie von der Charta der Grundrechte ausgenommen werden. Somit sind die sozialen Rechte auf europäischer Ebene, wenn nicht sogar auf ein Minimum reduziert, nicht im selben Maße verpflichtend wie die Regeln des Binnenmarktes. Demnach wäre das Soziale freiwillig und der Wettbewerb bindend. Dies führt zu einer Offizialisierung des Sozialdumpings"Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive..

Und in Artikel 15/1 der Charta der Grundrechte der EU heißt es: "Jede Person hat das Recht, zu arbeiten …" [eigene Hervorhebung], das heißt im Klartext, Arbeit ist kein Grundrecht mehr. Ein wesentliches soziales Recht fehlt damit in der Charta.

Stichworte wie "friedliche Zukunft", "Würde", "Freiheit", "Gleichheit" und "Solidarität" sind schöne Worte in der Präambel der Charta (LV, Seite 206): "Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, in dem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität" [eigene Hervorhebungen].

Was nützt die Berufung auf diese Werte, wenn die Wirklichkeit anders aussieht. Wie kann von einer friedlichen Zukunft die Rede sein, solange es noch Atomwaffen gibt (England, Frankreich etc.) und die Rüstung und das Militär Milliarden verschlingen, die dringend für soziale Bereiche benötigt werden? Wie ist es mit der Freiheit bestellt, wenn es keinen gerechten Zugang zur Bildung gibt? Und wie steht es um Gleichheit und Solidarität, wenn Frauen nicht die gleichen Berufschancen haben wie Männer?

Von einem Sozialrecht ist die EU meilenweit entfernt. "Diese Charta schafft also grundsätzlich kein europäisches Sozialrecht, das in der Lage wäre, das auf europäische Ebene weiterhin dominierende Wettbewerbsrecht aufzuwiegen. Das Tüpfelchen auf dem ‘i’: Einschränkungen an diesen Rechten können vorgenommen werden, wenn diese als ‘notwendig’ erachtet’ werden".Viotto/Andreas Fisahn, S. 20..

Fazit

Der Lissabonner Vertrag huldigt einem ungebremsten Kapitalismus und einem Ökonomismus des gesamten politischen Lebens.

Von einem zivilen Europa des Friedens und der Gerechtigkeit ist dieser Vertrag weit entfernt. Eine EU, die zur Aufrüstung verpflichtet, die soziale Gerechtigkeit vermissen lässt, in der es Grundrechte gibt, die nicht für alle Mitgliedsstaaten verpflichtend sind, ist ein Europa das nicht zuerst das Wohlergehen der Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern dem Kapitalismus verhaftet bleibt, in dessen Logik es liegt, dass er nicht reformierbar ist.

Der Vertrag von Lissabon wird in der Politik und den Medien weithin positiv beurteilt. "Europa wird mit dem Vertrag von Lissabon transparenter, demokratischer und effizienter. Das ist es, was dem Bürger in Europa hilft".Eine neue Grundlage für Europa:  S. 01. Wer sich mit diesem Vertrag auseinandersetzt, wird schwerlich in diese Euphorie einstimmen können.

Das gleiche gilt für die Kirchen, sie haben hauptsächlich kritisiert, dass der Gottesbezug in der Präambel fehlt. Was den Kapitalismus und die neoliberale Wirtschaftspolitik betrifft, liegen sowohl die evangelische als auch die katholische auf der Linie der EU.

In der Denkschrift der EKD "Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive"Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive.  wird nicht darüber nachgedacht, welche Folgen der Kapitalismus für die Gesellschaft hat. Die soziale Marktwirtschaft mit all ihren Implikationen wird nicht reflektiert.

Auch der Erzbischof von München und Freising Reinhard Marx verkennt,  in seinem Buch "Das Kapital - Ein Plädoyer für den Menschen"Reinhard Marx, dass das System des Kapitalismus nicht reformierbar ist.

Der Vertrag von Lissabon darf nicht das letzte Wort sein.

2. Literaturhinweise:

  • Vertrag über eine Verfassung für Europa, Europäische Gemeinschaften, 2005
  • Vertrag von Lissabon, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008
  • Drewermann, Eugen: Jesus von Nazareth, Befreiung zum Frieden, Band 2, Glauben in Freiheit, 5. Auflage, Zürich, Düssseldorf
  • Duchrow, Ulrich: Europa und der Prozess für eine gerechte Globalisierung, unveröffentlichtes Referat 2009 (U.D. hat mir erlaubt daraus zu zitieren)
  • Eine neue Grundlage für Europa: Der Vertrag von Lissabon, Broschüre, Herausgeber: Presse und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin 2007
  • Hartmann, Michael: Die Schwachen tragen die Starken: die real stattfindende Umverteilung der Lasten in Deutschland, in Frankfurter Rundschau vom 29.12.09, S. 31
  • Marx, Reinhard: Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen, München 2008
  • Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates der evangelischen Kirche, Gütersloh 2008
  • Vertrag von Lissabon: Abgeordnete im Dialog mit ihren Bürgerinnen und Bürgern Stuttgart, 15.4.2008, Impulsvortrag von Elke Schenk
  • www.attac.de/aktuell/lissabon/dokumente/ thematischer Überblick/ (Zugriff am 02.01.010)
  • Viotto, Regina/Andreas Fisahn (Hrsg.): Europa am Scheideweg. Kritik des EU-Reformvertrags, Hamburg 2008

3. Abkürzungen:

  • AEUV: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union          
  • EU: Europäische Union           
  • EUV: Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992
  • EPAS: Economic  Partnership Agreement: Abkommen über Freihandelszonen
  • GATS: General Agreement on Trade in Services: Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen
  • LV: Lissaboner Vertrag
  • WTO: World Trade Organization: internationale Organisation zur Förderung  des freien Welthandels

Hans Dieter Zepf, Pfarrer i. R. und Dozent für Ethik (Altenpflege) - Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund - deutscher Zweig; Mitarbeit im Arbeitskreis "Friedensaufgabe und Soldatenseelsorge"  im Internationalen Versöhnungsbund - deutscher Zweig.

Fußnoten

Veröffentlicht am

05. April 2010

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