Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Lebensbedingungen in westlichen Gesellschaften lassen Depressionen deutlich zunehmen

Von Michael Schmid (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 63 vom Dezember 2009 Der gesamte Rundbrief Nr. 63 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 529 KB)

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

der tragische Suizid des Fußballnationaltorwarts Robert Enke hat große Bestürzung und Trauer hervorgerufen. Auch bei mir, Fußballfan seit Kindertagen. Ausgerechnet dieser zurückhaltende und sympathische Torhüter! Und zunächst die bohrende Frage: wie kann es sein, dass sich jemand, der zwei Tage zuvor noch das Tor seines Vereins Hannover 96 gehütet hat, nun vor einen Zug wirft? Einblick in dieses Rätsel gab die mutige Teresa Enke, indem sie nur wenige Stunden nach dem Tod ihres Mannes in einer bewegenden Pressekonferenz von dessen schweren Depressionen erzählte. Sie hat nun öffentlich darüber geredet, worüber ihr Mann geschwiegen hatte. "Er wollte seine Krankheit unter keinen Umständen in die Öffentlichkeit tragen, aus Angst, sein Privatleben und seinen Sport zu verlieren", sagte Teresa Enke. Robert Enke hat also seine Krankheit mit allen Mitteln vor der Öffentlichkeit verbergen wollen. Ihn hat offensichtlich sowohl die Angst umgetrieben, er könne das Sorgerecht für seine Adoptivtochter verlieren, als auch in der harten Profifußballer-Welt als Schwächling oder Versager dastehen und verachtet werden, wenn seine Depression bekannt würde. Der Mann, der Held in vielen Fußballspielen war, durfte kein Schwächen zeigen. Das glaubte er jedenfalls.

Dass Enkes Befürchtungen zumindest hinsichtlich einer Fußballkarriere nicht völlig unberechtigt waren, zeigt der Fall des ehemaligen Fußballprofis Sebastian Deisler. Dieses ehemals hoffnungsvollste deutsche Fußballtalent zog sich mitten in der Karriere zur Behandlung seiner Depression zurück. Nach seiner Genesung wurde er von den Mitspielern bei Bayern München verspottet. "Einige haben mich hinter vorgehaltener Hand ‘die Deislerin’ genannt. Die konnten mich nicht mehr ertragen", sagte Deisler in einem Zeitungsinterview. Er ist an den Härten des Fußballgeschäfts fast zerbrochen, bevor er vor knapp drei Jahren seine Fußballerkarriere aufgab und die Rolle des Stars beendete.

Und auch das wirft ein bezeichnendes Licht auf das Geschäft mit dem Profifußball. Als Sebastian Deisler im Oktober 2003 erstmals um Hilfe schrie und sich in psychiatrische Behandlung begab, hat Edmund Stoiber die Äußerung zu Protokoll gegeben, dass der junge Fußballer als "eines der größten Verlustgeschäfte, das der FC Bayern jemals gemacht hat", abgebucht werden müsse.

Neoliberal geprägte Lebensbedingungen fördern Depressionen

Doch ein derartig unmenschliches Geschäftsdenken gibt es nicht nur im Profifußball. Vielmehr muss sich im Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus fast alles der Jagd nach größtmöglicher Rendite unterordnen. Was zählt, ist nur noch das Machen und Rechnen, nur noch Leistung. Da werden im Namen des kurzfristigen Gewinns soziale Strukturen platt gemacht, die über Jahrzehnte entstanden sind und den Menschen Schutz vor den schlimmsten Auswüchsen des Kapitalprinzips boten. Da wird flexibilisiert, dereguliert und privatisiert, da werden Kosten gesenkt ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Folgen. Angesichts eines solchen Darwinismus greift mehrheitlich nicht Mitgefühl für die Schwachen und Armen um sich, für die Verlierer und Ausgesonderten der Märkte, sondern Verachtung. Reichtum gilt dann als Synonym für Leistung und Verdienst. Wer arm und schwach ist, ist selber dafür verantwortlich.

In einer von diesem Geist geprägten Wirtschaft und Gesellschaft ist das Individuum also auf sich selbst angewiesen, auf seine eigene Leistungsfähigkeit. Und in Depressionen sieht der französische Soziologe Alain Ehrenberg in seinem Buch "Das erschöpfte Selbst" die Kehrseite einer solchen gesellschaftlichen Leistungserwartung. "Welchen Bereich man sich auch ansieht (Unternehmen, Schule, Familie), die Welt hat neue Regeln. Es geht nicht mehr nur um Gehorsam, Disziplin und Konformität mit der Moral, sondern um Flexibilität, Veränderung, schnelle Reaktion und dergleichen. (…) Jeder muss sich beständig an eine Welt anpassen, die eben ihre Beständigkeit verliert an eine instabile, provisorische Welt mit hin und her verlaufenden Strömungen und Bahnen." Jeder scheint also die Aufgabe zu haben, alles zu wählen, alles zu entscheiden, alles auf sich zu nehmen. Genau das aber scheint das Zusammenspiel von Körper und Geist dazu zu veranlassen, immer deutlichere Erschöpfungssignale zu senden. Und wer dann glaubt: Ich schaffe es nicht, ich werde meinen eigenen Ansprüchen und den Ansprüchen anderer nicht mehr gerecht - unabhängig davon, ob diese tatsächlich bestehen oder nur vermeintlich - steht in Gefahr, depressiv zu werden.

Natürlich reagieren nicht alle Menschen auf die gesteigerten Leistungserwartungen und den Stress mit Depressionen. Es kann angenommen werden, dass viele verschiedene Faktoren bei der Entstehung einer Depression beteiligt sind. Menschen werden eher depressiv, wenn sie aufgrund eigener Sozialisation leichter verletzlich sind. "Nur Menschen, die eine gewisse Verletzlichkeit (Vulnerabilität) haben, sind anfällig für die Depression", sagt etwa die Diplompsychologin und Psychotherapeutin Ursula Nuber. "Das heißt: Es muss eine negative Vorgeschichte in der Kindheit vorhanden sein - Missbrauch, Vernachlässigung, Verlust eines Elternteils, emotionale Kälte, Trennungserfahrungen, Krankheit -, damit sich bei einer späteren starken Belastung die Dunkelheit über die Seele legt. Diese frühe Erfahrung hinterlässt eine ‚biologische Narbe’, einen ‚biologischen Fingerabdruck’, … der den betroffenen Menschen sensibler auf weitere Belastungen reagieren lässt."

Experten machen vor allem die Lebensbedingungen in den westlichen Gesellschaften dafür verantwortlich, dass Depressionen deutlich zunehmen: Überforderung, Stress, Existenzsorgen, Arbeitslosigkeit, Zwang zur permanenten Selbstdarstellung, Trennung und viele Faktoren mehr vergrößern das Risiko für den Einzelnen.

Depression als Krankheit anerkennen

Depression zählt in Deutschland zu den häufigsten Gründen für Berufsunfähigkeit. Das Bundesgesundheitsministerium schätzt, dass vier Millionen Deutsche von einer Depression betroffen sind und dass gut zehn Millionen Menschen bis zum 65. Lebensjahr eine Depression erlitten haben. Depressionen gelten inzwischen als Volkskrankheit. Robert Enkes Tod hat die öffentliche Wahrnehmung alarmiert und auf dramatische Weise den Blick darauf gelenkt, wie verletzlich der Mensch sein kann. Plötzlich findet nun eine Auseinandersetzung mit der "Depression" statt, die bisher in unserer Schöner-schneller-erfolgreicher-Gesellschaft kaum ein Thema war.

Für Betroffene ist es wichtig, sich mit anderen Menschen auszutauschen. Das setzt allerdings bereits voraus, diese "Schwäche" nicht vertuschen zu wollen. Doch das bewahrt den Einzelnen dann eher davor, Leid, Ängste und das unvermeidliche Versagen immer und ausschließlich alleine zu tragen. Deshalb ist es sehr hilfreich, wenn Depression als Krankheit akzeptiert wird, über die zu sprechen nicht als Zeichen der Schwäche ausgelegt wird. Vielmehr soll das für Freunde, Bekannte, Kollegen die dringende Aufforderung sein, sich um den kranken Menschen zu kümmern.

Wenn aber auch veränderte gesellschaftliche Bedingungen für die Zunahme der Krankheit Depression mit verantwortlich sind, dann gilt es sich gleichzeitig zu engagieren für die Entwicklung einer Gesellschaft, in der alle Platz haben und ein würdevolles Leben führen können. Ein Leben im Einklang mit sich selbst, mit unseren Mitmenschen und unserer natürlichen Mitwelt dazu.

Lebenshaus: Solidarität mit "Schwachen", Engagement für andere Gesellschaft

Dieses waren im Übrigen zentrale Einsichten, die vor über 16 Jahren mit zur Gründung von Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie geführt haben. Gemeinschaftsbildung, damit ist zunächst gemeint, dass wir uns mit Gleichgesinnten zu einer Solidargemeinschaft zusammenschließen. Es geht um ein solidarisches Miteinander. Und um solidarisches Verhalten gegenüber Menschen, denen es nicht so gut geht, die am Rande stehen, Ausgegrenzte, Überflüssig-Gemachte, Flüchtlinge, Arme, Kranke. Miteinander Teilen ist dabei wichtig. Deshalb hat sich das Lebenshaus als eine konkrete Aufgabe vorgenommen, Menschen, die sich in einer Krisen- oder Übergangssituation befinden, in einer Hausgemeinschaft mitleben zu lassen und sie zu begleiten.Siehe hierzu auch "Mitleben im Lebenshaus" .

Gleichzeitig sehen wir es als unsere Aufgabe an, dem neoliberalen Kapitalismus mit seinen dürftigen, eindimensionalen und lebenszerstörenden Vorstellungen etwas Anderes entgegenzustellen und uns gemeinsam einzusetzen für Veränderungen krankmachender, friedloser Strukturen. Gemeinsam zu arbeiten für eine Gesellschaftsveränderung, die gutes Leben für alle Lebewesen ermöglicht. In diesem Sinne übernehmen wir auch politische Verantwortung.

Da eine solche Gesellschaftsveränderung im Gesamten natürlich alles andere als einfach ist, wollten und wollen wir im Kleinen konstruktive, lebensstiftende Antworten auf die vielfältigen Formen zerstörerischer Gewalt zu suchen. Und im Bündnis mit anderen Menschen und Organisationen auch auf die Regierungspolitik zugunsten der von uns angestrebten Veränderungen Einfluss nehmen.

Auf diesem Weg machen wir auch die wunderbare Erfahrung, dass natürlich nicht alle Menschen so vom neoliberalen Zeitgeist ergriffen sind, dessen Auswirkungen oben angedeutet wurden. Wir haben es zu tun mit Menschen, die Mitgefühl für andere aufbringen, die sich solidarisch verhalten gegenüber Schwächeren, denen an einem friedvollen Miteinander gelegen ist, die eine lebenswerte Mitwelt erhalten wollen. Zum Glück gibt es im Umfeld des Lebenshauses viele solcher Menschen! Menschen, die teilweise seit vielen Jahren, manche von Anfang an, unseren Weg mit diesem Projekt begleiten und unterstützen. Dafür bin ich sehr dankbar! Und für diese Unterstützung und Solidarität, aber auch für das entgegengebrachte Vertrauen, möchte ich mich bei Ihnen, möchte ich mich bei Euch herzlich bedanken!

Schalom - Salam

Euer / Ihr

Michael Schmid

Fußnoten

Veröffentlicht am

11. Dezember 2009

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