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Süchtig nach Nonsens

Der US-Autor Chris Hedges zeichnet ein schonungsloses Bild nicht nur der USA und warnt vor einem heraufziehenden neuen Faschismus.

Von Chris Hedges, TruthDig, 30.11.2009

Wann wird Tiger Woods (der Golf-Champion, nach seinem Autounfall) endlich mit der Polizei sprechen?s. http://www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,663959,00.html . Wer wird Oprah (die berühmte Moderatorin und ihre Talkshow im US-Fernsehen) ersetzen?s. http://www.sueddeutsche.de/kultur/752/495082/text/ . Als ob Oprah jemals zu ersetzen wäre! Wird das Paar Michaele und Tareq Salahi, das sich ohne Einladung die Teilnahme am ersten Staatsdinner des Präsidenten Barack Obama erschlichen hat, die Hunderttausende Dollars erhalten, die es für ein Exklusiv-Fernsehinterview fordert?s. http://www.-spiegel.de/panorama/leute/0,1518,663536,00.html . Kann Levi Johnston, der Vater des Enkels von Sarah Palin, der früheren Gouverneurin von Alaska (und Kandidatin der Republikaner für das Amt der Vizepräsidentin) sich seinen Wunsch erfüllen und an dem TV-Tanzwettbewerb "Dancing With the Stars" teilnehmen?s. http://en.wikipedia.org/wiki/Dancing_with_the_Stars .

Das Geschwätz, das die Nachrichten ersetzt, der Klatsch, mit dem die Dampfplauderer in den audiovisuellen Medien hausieren gehen, der Smalltalk, der an die Stelle vernünftiger Gespräche getreten ist, und die Zurückhaltung und Feigheit, die unsere Printmedien prägen, widerspiegeln unsere Flucht in den kollektiven Wahnsinn. Wir erleben gerade einige der tiefgreifendsten und verstörendsten Verwerfungen in der menschlichen Geschichte, die unsere Wirtschaft und unsere Umwelt radikal verändern werden, und unsere Obsessionen kreisen nur um das Triviale und Absurde.

Was wirklich zählt in unserem Leben - die Kriege im Irak und in Afghanistan, der unaufhaltsame Verfall des Dollars, die wachsende Zahl der Zwangsvollstreckungen, die steigende Arbeitslosigkeit, das Schmelzen der Polareis-Kappen und die schreckliche Wahrheit, dass wir dem Zusammenbruch unserer Wirtschaft hilflos zusehen müssen, der im nächsten Jahr kommen wird, wenn die "Ankurbelungsmilliarden" verpufft sind - passt nicht in das Bild von der heilen Welt, das wir immer noch in unseren Köpfen haben. Wir lassen uns von den lärmenden Festivitäten einer sterbenden Zivilisation blenden. Wenn die Realität unsere eindrucksvollen Luftschlösser zerschmettert hat, werden wir wie quengelnde Kinder losbrüllen, dass man uns retten, in Sicherheit bringen, trösten und uns unsere Zufriedenheit zurückgeben soll. Dann wird es nicht an Demagogen fehlen, auch nicht an Clowns, die wie Sarah Palin agieren. Wir werden dann entweder aufwachen, die neuen Einschränkungen anerkennen, von allen imperialen Projekten ablassen und eine neue Einfachheit, eine neue Demut entdecken müssen, oder wir werden blind in eine Katastrophe und einen neuen Faschismus taumeln.

Der Starkult hat die Wirklichkeit aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt. Und die Vergötterung Prominenter macht alles andere nieder. Die Begeisterung für politische Heilsbringer ist wie die Abhängigkeit der Millionen Zuschauern von Oprah ein Teil der Sehnsucht, uns in denen verkörpert zu sehen, die wir anbeten. Wir bemühen uns, ihnen ähnlich zu sein. Wir wollen, dass sie zu uns gehören. Wenn Jesus und (Rick Warrens viel gelesenes Buch) "The Purpose Driven Life" ("Das von der Vorsehung bestimmte Leben")s. en.wikipedia.org/wiki/The_Purpose_Driven_Life . es nicht schaffen, uns auch berühmt zu machen, dann gelingt es vielleicht Tony Robbins (dem Autor zahlreicher Selbsthilfe-Bücher,s. http://en.wikipedia.org/wiki/Tony_Robbins .), den Psychologen des positiven Denkens oder dem Reality-Fernsehen. Wir warten nur auf unser Stichwort, das uns auf die Bühne ruft und bewundert, beneidet, bekannt und berühmt werden lässt. Nichts anderes im Leben zählt.

Wir sehnen uns danach, vor einer Kamera zu stehen und bemerkt und bewundert zu werden. Auf Websites sozialer Netzwerke präsentieren wir der Welt (ein möglichst vorteilhaftes) Bild von uns. Wir wollen kontrollieren, wie andere über uns zu denken haben. Wir definieren unseren Wert allein aus unserer Sichtbarkeit. Wir leben in einer Welt, in der man nicht existiert, wenn es einem nicht gelingt, irgendwie aufzufallen. Wir bezahlen Lifestyle-Berater, damit sie uns zu helfen, wie Berühmtheiten auszusehen, uns wie diese zu fühlen, und mit uns die Szenerie für den Film über unser eigenes Leben aufzubauen. Als Martha Stewart noch nicht durch Insidergeschäfte in Verruf geraten war, schuf sie ihr Finanzimperium als Ratgeberin für Frauen, denen sie (im Fernsehen) erklärte, wie ein perfektes Heim auszusehen hats. http://de.wikipedia.org/wiki/Martha_Stewart .. Dabei geht es nie um das wirkliche Leben in den Häusern, um die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern. Es kommt nur auf das Äußere an. Fachärzte für plastische Chirurgie, Fitnessgurus, Diät-Doktoren, Therapeuten, Lebensberater, Innenarchitekten und Modestylisten, sie alle versprechen, uns glücklich und berühmt zu machen. Sie versichern uns, unser Glück hänge vor allem von unserem Aussehen ab, und Reichtum verleihe Macht - oder wenigstens der Anschein von Reichtum. Hochglanzmagazine wie TOWN & COUNTRY befriedigen die absurden Bemühungen der sehr Reichen, als Berühmtheiten zu posieren. Sie werden in teuren Designer-Klamotten in den verschwenderisch ausgestatteten Palästen fotografiert, die sie ihr "Heim" nennen. Der Weg zum Glück hängt vor allem davon ab, wie geschickt wir uns der Welt präsentieren. Wir müssen uns nicht nur dem Diktat dieser vorgegebenen Vision beugen, wir müssen auch ständig vor Optimismus und Glück strahlen. Der Vergnügungssucht und dem Reichtum der Wall Street wird offen in TV-Serien wie "The Hills", "Gossip Girl" (Klatschweib), "Sex and the City", "My Super Sweet 16" und "The Real Housewives" gehuldigt - je nachdem, welche bourgoise Clique gerade in Mode ist.

Die amerikanischen Oligarchen, die nur ein Prozent der Bevölkerung ausmachen, kontrollieren mehr Reichtum als 90 Prozent aller anderen US-Bürger zusammen; das sind die Typen, die wir am meisten beneiden und am liebsten im Fernsehen anschauen. Sie leben und tändeln in Palästen, die viele Millionen Dollar wert sind. Sie heiraten Mannequins oder Berufssportlerinnen. Sie lassen sich in überlangen Limousinen chauffieren. Sie hasten von Modeschauen zu Filmpremieren und tummeln sich in bekannten Ferienorten. Sie haben chirurgisch korrigierte, vollkommene Körper und tragen Kleidung von Modeschöpfern, die mehr kostet, als viele Menschen in einem Jahr verdienen. Dieses glamouröse Leben wird uns ständig als besonders erstrebenswert vorgeführt. Man erzählt uns, es sei besonders reizvoll und befriedigend, so zu leben. Und deshalb wollen wir auch so leben. Wir glauben daran, dass Geiz geil ist, und hoffen, dass wir es eines Tages schaffen, auch zu dieser "Elite" zu gehören. Sollen die anderen Bastarde doch leiden!

Die Arbeiterklasse, die aus mehreren zehn Millionen ums Überleben kämpfenden Amerikanern besteht, kommt nicht im völlig abgeschotteten Fernsehprogramm vor. Diese Menschen werden auch noch verspottet und gepeinigt durch das verschwenderische Leben, das auf den Bildschirmen in ihren Wohnzimmern flimmert. Kaum einer von uns wird jemals ein Leben führen, das durch Reichtum und Macht geprägt ist. Und doch erzählt man uns immer wieder, wenn wir uns nur genug anstrengen und an uns selbst glauben, können auch wir alles haben. Weil wir uns das ständig ausgestrahlte ausschweifende Leben nicht leisten können, fühlen wir uns minderwertig und wertlos. Wir haben eben versagt, während andere erfolgreich waren.

Täglich prasseln unzählige Lügen auf uns herab. Wir glauben die falschen Versprechungen; wir glauben, wenn wir mehr Geld ausgeben, wenn wir diesen Markenartikel oder jenes "Qualitätsprodukt" kaufen oder wenn wir für diesen besonderen Kandidaten stimmen, werden wir respektiert, beneidet, gestärkt, geliebt und beschützt. Das extravagante Leben der Prominenten und die bewundernswerten Typen im Fernsehen, im Kino, unter den Berufsringern und in den sensationellen Talk-Shows, die uns ständig vorgeführt werden, sollen die Leere in unserem eigenen Leben ausfüllen. Der Starkult ermuntert jeden dazu, sich selbst als potenziellen Star zu sehen, dessen einzigartige Begabungen nur noch nicht entdeckt wurden. In einer Welt des Scheins ist die Selbstüberschätzung wichtiger als die Wirklichkeit. Realitätssinn wird tatsächlich als Hindernis auf dem Weg zum Erfolg angesehen, als eine zu negative Einstellung. Die Mystizismus des New Age, die Pseudo-TV-Psychologen, die evangelikalen Pastoren, zusammen mit den zahllosen Selbsthilfe-Bestsellern, die von (überschätzten) Motivationskünstlern, (geschäftstüchtigen) Psychiatern und (abgehalfterten) Konzernmanagern verfasst werden, schüren diese Fantasien. Die Realität wird in diesen populären Ersatzreligionen als Werk des Teufels, als Defätismus, als Negativismus oder als Hemmnis für die Entfaltung der uns innewohnenden Kraft abgetan. Wer Fragen stellt, wer zweifelt, wer Kritik übt, wer fähig ist, die Realität zu sehen, wer die Hohlheit und Gefährlichkeit des Starkultes durchschaut, wird für seinen Pessimismus oder Intellektualismus verachtet.

Die Illusionisten, die unsere Kultur dominieren und von unserer fehlenden Einsicht profitieren, bestärken den übertriebenen Kult um unsere eigene Person. Populäre religiöse Strömungen, die persönliche Einbildung, die Zugehörigkeit zu (bestimmten) Gruppen und politischen Parteien und die Selbstüberschätzung lassen uns glauben, dass jeder Einzelne etwas Besonderes, auserwählt und einzigartig ist. Wenn wir unsere inneren Reserven an persönlichem Wollen und unentdeckten Talenten mobilisieren und uns klarmachen, was wir wollen, können wir angeblich alles erreichen und das Glück, den Ruhm und den Erfolg einheimsen, die wir verdienen. Diese uns ständig eingehämmerte Botschaft wird von ideologischen Grenzen nicht aufgehalten. Dieses Mantra ist in jeden Aspekt unseres Lebens eingesickert. Jeder von uns soll meinen, alles erreichen zu können. Und wegen dieser Egomanie und heillosen Selbstüberschätzung sind wir ein Land von kindischen Erwachsenen geworden, die alle die hohlen Phrasen der Popkultur nachbeten und nicht mehr nachdenken.

Aus bescheidenen Verhältnissen aufgestiegene Berühmtheiten müssen als Beweis dafür herhalten, dass jeder zum Weltstar aufsteigen kann. Diese Berühmtheiten sind wie Heilige, die belegen dass Unmögliches immer wieder möglich ist. Unsere Fantasievorstellungen von Reichtum, Ruhm, Erfolg und Aufstieg projizieren wir auf diese Berühmtheiten. Diese Fantasien werden von den Legionen derjenigen bestärkt, die uns täglich die Kultur der Illusionen vorführen, die uns so weit bringen, dass wir Schatten für die Wirklichkeit halten. Wenn wir die durch den Starkult geweckten Wünsche mit unseren eigenen, eher "bescheidenen" Erfolgen vergleichen und immer wieder feststellen müssen, das sich unsere Illusionen nicht realisieren lassen, erfüllt uns das mit explosiver Frustration, mit Wut, mit Unsicherheit und mit Versagensängsten. Es entsteht ein Teufelskreis, in dem die frustrierten, verunsicherten Menschen in noch größere Verzweiflung getrieben werden und sich noch weiter von der Realität entfernen; sie glauben noch fester an die leeren Versprechungen derjenigen, die uns verführen und uns erzählen, was wir hören wollen. Je schlimmer sich die Dinge entwickeln, desto mehr flüchten wir uns in Fantasievorstellungen. Wir klammern uns an ihre Lügen, bis unser Glaube und unser Geld aufgebraucht sind. Wenn uns dann Verzweiflung befällt, schlucken wir Pillen, als sei unser Versagen der Grund dafür, dass wir das versprochene Glück nicht ergattern konnten. Und natürlich wird uns eingeredet, dass das stimmt.

Ich habe zwei Jahre damit verbracht, durch unser Land zu reisen, um ein Buch über die christliche Rechte zu schreiben. Es heißt: "American Fascists: The Christian Right and the War on America" ("Amerikanische Faschisten: Die christliche Rechte und der Krieg gegen Amerika"). Ich habe sterbende Industriestädte besucht, in denen für viele Menschen das Ende der Welt nicht länger eine abstrakte Vorstellung ist. Viele haben die Hoffnung aufgegeben. Angst und (wirtschaftliche) Instabilität haben die Arbeiterklasse in tiefe persönliche Verzweiflung und wirtschaftliche Not gestürzt und - das kann niemand überraschen - in die Arme von Demagogen und Heilspredigern der radikalen christlichen Rechten getrieben, die ihnen einen Glauben an die Magie, an Wunder und an die Fiktion eines utopisches christliches Reiches anbieten. Wenn wir diese enteigneten Arbeiter nicht schnell zurückholen und ihnen neue Jobs verschaffen, wenn es nicht gelingt, ihnen wieder Hoffnung zu geben, werden die Demagogen (mit Hilfe der entwurzelten Arbeiter) die Macht übernehmen. Die Zeit wird knapp. Die Armen können nicht mehr lange von Illusionen leben. Wenn sie begreifen, das sie betrogen wurden, wenn sie ihre düsteren Zukunftsaussichten mit den Fantastereien vergleichen, mit denen sie gefüttert werden, wenn ihre Häuser zwangsversteigert werden und sie erkennen, dass sie die Jobs, die sie verloren haben, nie wieder zurückbekommen, werden sie mit einer solchen Wut und mit einem so großen Bedürfnis nach Rache reagieren, dass die Überbleibsel unserer blutleeren Demokratie hinweggefegt werden und ein neues finsteres Zeitalter beginnt.

Chris Hedges ist ein führender Mitarbeiter am Nation Institute und schreibt jede Woche eine Kolumne für TruthDig , die montags erscheint. Er ist der Autor des Buches "Empire of Illusion: The End of Literacy and the Triumph of Spectacle" ("Das Imperium der Illusionen: Das Ende der Lese- und Schreibfertigkeit und der Triumph des Spektakels").

 

Quelle: LUFTPOST vom 28.12.2009. Originalartikel: Addicted to Nonsense . Übersetzung: Wolfgang Jung.

Fußnoten

Veröffentlicht am

30. Dezember 2009

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