Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Das System der gegenseitigen Abschreckung hat niemals wirklich funktioniert

Kritische Stellungnahme zum Artikel "Im Kalten Krieg war es sicherer" von Egon Bahr in der Süddeutschen Zeitung

 

Von Wolfgang Sternstein

"So unterschiedlich die Männer waren, die (im Kalten Krieg) über den Einsatz ihrer Superwaffen entscheiden konnten, sie folgten den Gesetzen kühler Rationalität. Ihr System der gegenseitigen Abschreckung funktionierte."

(Egon Bahr Egon Bahr: "Im Kalten Krieg war es sicherer" , in: Süddeutsche Zeitung vom 16.08.2009)

 

Wer diese Zeilen liest, findet sie durch die Geschichte bestätigt. Der gefürchtete Atomkrieg blieb aus. Das Sowjetimperium implodierte, ohne dass es zum Einsatz der Bombe kam. Aber, die Frage muss erlaubt sein, funktionierte es wirklich und vor allem: funktioniert es auf die Dauer? Die Behauptung, das System der gegenseitigen Abschreckung habe funktioniert, beruht jedoch auf einer ganzen Reihe verhängnisvoller Fehleinschätzungen und auf der Ausblendung wesentlicher Tatsachen:

1. Der Appell an die Vernunft durch die Androhung totaler Vernichtung funktioniert nicht, weil er nicht an die Ratio appelliert, sondern an die Irratio, das heißt an die Angst vor der eigenen Vernichtung. Die Reaktion ist daher keine rationale, sondern eine irrationale. Sie führt zwangsläufig zu vermehrten Rüstungsanstrengungen, um seinerseits den Gegner von einem nuklearen Angriff abzuschrecken. Das angeblich stabile Gleichgewicht des Schreckens löst sich auf in einen Rüstungswettlauf, bei dem eine der beiden Seiten früher oder später außer Atem gerät und damit vor der Alternative steht, entweder in einer letzten verzweifelten Anstrengung und den Vorteil des Angriffs nutzend, den Krieg zu beginnen, oder aber hoffnungslos abgehängt und früher oder später zur Unterwerfung gezwungen zu werden.

Dass das Sowjetimperium nicht mit einem Knall, sondern mit einem Winseln (Ronald Reagan) verschied, ist in erster Linie dem damaligen Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow, zuzuschreiben. Ihm verdanken wir womöglich, dass wir heute leben. Das Gleichgewicht des Schreckens war nie ein Gleichgewicht. Die gegenseitige Abschreckung hat nie wirklich funktioniert.

2. Das System der gegenseitigen Abschreckung lässt die Gefahr eines menschlichen oder technischen Versagens gänzlich außer Acht. Das Frühwarnsystem auf beiden Seiten hat immer wieder Falschmeldungen produziert. Oft trennten uns, während wir seelenruhig schliefen, nur wenige Minuten von der Auslösung des vermeintlichen Vergeltungsschlages. Ferner gab es zahlreiche Unfälle mit Atomwaffen, mehrere Unterseeboote mit Atomwaffen liegen auf dem Meeresgrund. Glücklicherweise kam es bisher zu keiner versehentlichen Atombombenexplosion oder radioaktiven Verseuchung der Meere.

3. Außer Acht gelassen wird von Egon Bahr auch die Neigung der Armeeführungen, in verzweifelten Situationen, in denen nur die Wahl zwischen Einsatz der Bombe oder Niederlage besteht, die Freigabe des Bombeneinsatzes zu fordern. Das war im Korea- und im Vietnamkrieg mehrmals der Fall. Wie wir alle wissen, trennte die Welt in der Kubakrise von 1962 nur noch ein Schritt vom Atomkrieg.

Der Oberkommandierende der amerikanischen Atomstreitkräfte in den Jahren 1992-94, General George Lee Butler, fasst in einem Vortrag vor kanadadischen Friedensorganisationen im Jahre 1999 sein Urteil in dem Satz zusammen: "Wir sind im Kalten Krieg dem nuklearen Holocaust nur durch eine Mischung aus Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich fürchte, das Letztgenannte hatte den größten Anteil daran." (Frankfurter Rundschau, 1.9.1999, S. 9 Vortrag von General Lee Butler, US Air Force (a.D.): "Sind Kernwaffen notwendig?" ) Der Mann weiß, wovon er spricht! Fazit: Das System der gegenseitigen Abschreckung hat also niemals wirklich funktioniert.

4. Der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) wurde 1975 geschlossen, um die Gefahr der Weiterverbreitung der Atomwaffen zu bannen. Er sah den Verzicht der Nichtatomwaffenstaaten auf den Erwerb und Besitz von Nuklearwaffen vor. Im Gegenzug verpflichteten sich die offiziellen Atomwaffenstaaten zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens und zur nuklearen Abrüstung sowie zu einem Vertrag über die allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle (Art. VI NVV). Gegen diesen Vertrag verstoßen die offiziellen Atomwaffenstaaten seit nunmehr 34 Jahren ständig, da sie, statt abzurüsten, quantitativ und qualitativ aufrüsten.

Es war abzusehen, dass sich die Nichtatomwaffenstaaten auf die Dauer diese diskrinierende Behandlung nicht würden gefallen lassen, zumal mit dem Atomwaffenbesitz eine Reihe von Privilegien verbunden sind, wie z.B. das Vetorecht im Weltsicherheitsrat. Heute gibt es neben den fünf offiziellen Atomwaffenstaaten bereits drei inoffizielle (Israel, Indien, Pakistan) und zwei Staaten, die nach Atomwaffen streben (Nordkorea und Iran). Ferner gibt es gute Gründe für die Annahme, dass auch Brasilien, Südafrika, Ägypten, Syrien, Saudiarabien uund andere Staaten insgeheim nach der Bombe streben (siehe die dreiteilige Serie "Die Bombe" von Claus Kleber im ZDF). Siehe hierzu:  Die Bombe. Dreiteilige ZDF-Dokumentation über die Dimensionen der atomaren Gefahr und Rückblick: Die Bombe vom 02.08.2009 .

Der NVV hat zudem eine Schwäche. Er garantiert den Nichtatomwaffenstaaten die uneingeschränkte Nutzung der friedlichen Atomenergie. Zwischen der friedlichen und der militärischen Nutzung besteht jedoch ein untrennbarer Zusammenhang. Es sind siamesische Zwillinge. Die Stelle an der sie zusammengewachsen sind, ist das Plutonium, das für friedliche, wie für militärische Zwecke eingesetzt werden kann. Der Verzicht auf die militärische Nutzung ist infolgedessen letztlich ein freiwilliger Akt der Nichtatomwaffenstaaten, da der Vertrag mit eine dreimonatigen Frist gekündigt werden kann (Art. X).

Fazit: Eine wirksame Strategie zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen verlangt, Atomanlagen und Atomwaffen gemeinsam abzuschaffen, zumal es auf beiden Gebieten eine Fülle konstruktiver Alternativen gibt. Der NVV ist heute von Erosion bedroht, weil wir die 34 Jahre seit seinem Bestehen, ganz zu schweigen von den 64 Jahre seit Hiroshima und Nagasaki, nicht für die nukleare Abrüstung genutzt haben.

5. Die Gefahr des Nuklearterrorismus wächst ständig. Dass New York mit erheblichem Aufwand Vorsorge gegen einen nuklearen Anschlag trifft, obwohl er auf die Dauer wohl kaum verhindert werden kann, hat Claus Kleber in seiner Serie über die Bombe eindrucksvoll demonstriert. Doch weiß im Grunde jeder, der nicht wie der sprichwörtliche Vogel Strauß den Kopf in den Sand steckt, dass nicht nur New York, sondern alle Großstädte und militärischen Kommandozentralen durch den Nuklearterrorismus bedroht sind.

Was sind das für Leute, die wie Henry Kissinger, Helmut Schmidt oder Egon Bahr heute für die Abschaffung der Atomwaffen plädieren, nachdem sie es jahrzehntelang versäumt haben, für die nukleare Abrüstung zu arbeiten. Heute sind die Aussichten für die Rettung der Menschheit vor dem "nuklearen Holocaust" (General Butler) düster. Ich sehe nur noch eine Chance, die Katastrophe eines Atomkriegs abzuwenden: Die entschiedene Anstrengung all derer, die die Gefahr erkannt haben, um das Ziel der nuklearen Abrüstung doch noch zu erreichen. Wie wahrscheinlich das ist, kann sich jede und jeder selbst ausrechnen.

Fußnoten

Veröffentlicht am

02. September 2009

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von