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Zukunftsszenarien militär- und friedenspolitischer Entwicklungen

Eine Diskussionsvorlage für die Friedensbewegung

Von Andreas Buro

Im November 2008 legte der US-National Intelligence Council unter Mitarbeit von 16 US-Geheimdiensten eine Studie über die zukünftige weltpolitische Entwicklung bis 2025 vor. Den USA wird ein relativer Machtverlust vorausgesagt. Sie spielten zwar weiterhin eine prominente, nicht aber mehr eine dominante Rolle. Ihre Handlungsfreiheit werde zunehmend eingeschränkt. Internationale Allianzen, die die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg dominiert haben, wären 2025 kaum wiederzuerkennen. Die unipolare Welt werde von einer multipolaren abgelöst.

Der Wechsel der Zeiten ist unübersehbar: die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, die Verschiebung der ökonomischen Schwergewichte gen Osten, die Umweltkatastrophe, der Kampf um die Rohstoff- und Energieressourcen, asymmetrische Kriege vielerorts, die auch mit modernster Kriegstechnologie nicht gewonnen werden können, das Ende der unipolaren Weltkonstellation mit den USA als Mittelpunkt, die Entwicklung einer multipolaren globalen Kräftekonstellation.

Für die Friedensbewegung stellt sich die Frage, mit welchen politischen und militärischen Entwicklungen sie zu rechnen hat. Wird die vorausgesagte Relativierung der US-Macht friedlich vonstatten gehen oder wird es zu einem großen gewaltsamen Endkampf kommen? Gegenwärtig werden viele Hoffnungen auf die neue US-Präsidentschaft gesetzt. Doch Obama will den militärischen Kampf in Afghanistan verstärken. Wird er sich entschlossen für eine Beendigung des Israel-Palästina-Konflikts einsetzen? Die bisherigen Erfahrungen sprechen für eine erhebliche Konstanz in der Außenpolitik von Großmächten. Euphorische Hoffnungen haben da wenig Platz.

Zu fragen ist aber auch nach der zukünftigen Rolle der EU. Wird sie weiterhin als Vasall der USA in der NATO sich kriegsintervenierend engagieren oder wird sie die Formen ihrer Konfliktbearbeitung zum Zivilen hin verlagern?

Auf alle diese Fragen kann hier freilich keine zuverlässige Antwort gegeben werden. Die im Folgenden dargestellten drei Varianten möglicher Entwicklungen sollen Grundzüge von Politik charakterisieren, aber nicht Zukunft voraussagen. Die Grundannahme ist, dass die aktuelle Weltwirtschaftskrise wohl zu einigen Reformen, nicht aber zu einem Zusammenbruch der bürgerlich-kapitalistischen Ordnungen führen wird.

Szenario 1: Eine nicht unwahrscheinliche Entwicklung

USA und NATO eskalieren den weltweiten "Krieg gegen den Terror". Die UN und internationales Recht werden weiter zurückgedrängt. Präsident Obama hat angekündigt, die US-Truppen in Afghanistan erheblich aufzustocken. Die weltweiten US-Militärstützpunkte werden weitgehend erhalten. Die Ausdehnung der NATO in den GUS-Staaten, insbesondere in der Ukraine und Georgien bleiben auf der Tagesordnung. Russland, das keine in sich kohärente, dynamische Industrie ausgebildet hat, sondern sich vorwiegend über den Export von Energie und Rohstoffen finanziert, wird in seiner strukturellen Schwäche von USA und NATO weiter bedrängt Es setzt verstärkt auf seine militärischen Kapazitäten und deren Ausbau. Die Doktrin von Obama-Berater Brzezinski, die USA müssten Zentralasien beherrschen als Schlüssel für die Beherrschung der Welt und Russland sei der wichtigste Gegner, bleibt weiter Richtlinie (vgl. Ritz, Hauke, Blätter f. dt. u. int. Politik, 7/2008, S. 53 ff.). Die Option des atomaren Ersteinsatzes wird in der NATO-Doktrin aufrechterhalten und es werden Waffenentwicklungen für diesen Zweck weiter voran getrieben.

Dies bedeutet de facto eine Marginalisierung der UN. Aufrüstung und Steigerung der Ausgaben für Militär sind vorrangig gegenüber einer entwicklungspolitischen Kooperation zur Lösung vielfältiger konfliktträchtiger Probleme. Diese vor allem militärgestützte Politik benötigt zu ihrer Legitimation vor der Bevölkerung Ideologien vom Typ der gerechten, humanitären Intervention und verbreitet massiv Feindbilder, wobei die realen und die potentiellen Gegner auf der Achse des Bösen angesiedelt werden. Das hat auch innenpolitische Auswirkungen im Sinne von Entdemokratisierung der Gesellschaften der NATO-Staaten unter dem angeblichen Vorzeichen, mehr Sicherheit gegen Terroranschläge zu schaffen. Dies dient jedoch auch der Ausbildung innenpolitischer Repressionsinstrumente für den Fall, dass die krisenhaften Entwicklungen im Finanz- und Wirtschaftsbereich zu größeren gesellschaftlichen Spannungen führen sollten.

Szenario 2: Eine durchaus mögliche Entwicklung

Zwischen den USA und der EU besteht nicht nur ein kooperatives Verhältnis in Hinblick auf die Sicherung der Vormachtstellung der entwickelten Industriestaaten im Globalisierungsprozess. Beide stehen auch in erheblicher währungspolitischer, wirtschaftlicher und politischer Konkurrenz zu einander. So will die EU bis 2010 die Weltwirtschaftsmacht Nummer Eins werden.

Diese Konkurrenz ist nicht zuletzt auch dadurch gekennzeichnet, dass die USA ihre Außenpolitik über ihre weit überlegenen Militärpotentiale und ihre weltweiten strategischen Stützpunkte abstützt und dadurch ihre Interessen gegenüber den Interessen der EU-Staaten auch via NATO durchzusetzen sucht. Für die USA sind die europäischen NATO-Staaten nur ein Instrument im Rahmen einer ansonsten autonom gestalteten Weltpolitik.

Ein deutliches Anzeichen für Dissens sind das unterschiedliche Verhalten gegenüber Russland, und die mangelnde Bereitschaft der EU-Staaten, sich geschlossen an den großen US-Kriegsaktionen im Irak und in Afghanistan zu beteiligen. Auch der Versuch der USA, die EU-Staaten in "Willige" und "Nicht-Willige" zu spalten und die Installierung der Raketenabwehr-Systeme in Polen und Tschechien, deuten in diese Richtung.

Die EU setzt auf den weiteren Ausbau ihrer militärischen Potentiale. Alle erforderlichen Strukturen sind im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bereits geschaffen worden. Im Lissaboner Vertrag ist die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten festgelegt, ihre Rüstung ständig voranzutreiben. Das Ziel ist nicht, die USA militärisch zu überholen, sondern die Fähigkeit zu schaffen, eigene militärische Interventionen möglichst unabhängig von den USA zu ermöglichen. Eine schnelle Eingreiftruppe soll bis zu 60.000 SoldatInnen stellen können. Zur ökonomischen Weltmacht soll also die militärische Komponente hinzugefügt werden. Angesichts der europäischen Geschichte spricht nichts dafür, dass eine EU-Militärmacht zurückhaltender, verantwortungsbewusster und völkerrechtskonformer handeln würde als die USA. Mit dem Ausbau der EU-europäischen Rüstungsindustrie setzt eine Eigendynamik zu immer weiterer qualitativer Aufrüstung ein.

Die NATO verliert an Bedeutung als einem zentralen militärischen Interventionsinstrument der westlichen kapitalistischen Staaten. Es bleibt aber als Basis für gemeinsame militärische Abstimmung und, wo erforderlich, für gemeinsame militärische Operationen erhalten.

Szenario 3: Eine Entwicklung mit Ansätzen zur Zivilen Konfliktbearbeitung

Die von den US-Geheimdiensten vorhergesagte Verschiebung von einer unipolaren Weltkonstellation zu einer multipolaren und die damit einhergehende ökonomische Gewichtsverlagerung nach Asien macht es kaum noch möglich, mit militärischen Großinvasionen wie in Irak und Afghanistan Ziele durchzusetzen. Die USA können allein nicht mehr die Mittel für solche Großkriege aufbringen. Auch erweist sich der "Krieg gegen den Terror" mit militärischen Mitteln als wenig erfolgversprechend. Dies gilt auch für innergesellschaftliche Konflikte in vielen Ländern, in denen es gilt, über einen sozialen Ausgleich Konflikte zu entschärfen.

Die zu erwartenden Konflikte um Ressourcen und Märkte müssen bei fortschreitender Globalisierung zunehmend mit diplomatischen, entwicklungspolitischen, ökonomischen und rechtlichen Mitteln bearbeitet werden. Regionale Zusammenschlüsse wie in Europa, Südostasien und Amerika gewinnen in der diplomatischen Regulierung von regionalen Konflikten an Einfluss. Weitere regionale Zusammenschlüsse nach dem Vorbild der früheren KSZE bilden sich in Südasien und Nahost. Internationale Institutionen und internationales Recht gewinnen an Bedeutung, weil auch weltweite Bemühungen zur Verhinderung einer Klimakatastrophe koordiniert werden müssen. Diese Entwicklung können auch die EU-Staaten nutzen, um sich der US-Dominanz zu entziehen. Sie ließen sich weniger in Gut-Böse-Konflikte, die zur Gewalteskalation neigen, einbeziehen, sondern würden verstärkt auf Dialog und Kooperation setzen. In diesem Zusammenhang ist das Verhältnis zu Russland und die Schaffung eines Systems Kollektiver Sicherheit, das Russland einschließt, von zentraler Bedeutung. Es könnte durch eine verstärkte ökonomische Kooperation zu beiderseitigem Nutzen sehr gefördert werden und "Wandel durch Annäherung" bewirken.

Eine weitere Umorientierung könnte sich auf das Verhältnis zu den islamischen Staaten beziehen und helfen, die gegenseitigen Feindbilder abzubauen.

Durch die vermutlich nur langsame Umorientierung verliert die NATO allmählich ihre Bedeutung für die EU-Staaten. Damit gewinnen sie kritische Distanz zur nach wie vor militärgestützten Imperialpolitik der USA. Das heißt nicht, dass sie aus der NATO austreten würden, doch es würde das Gewicht der NATO als Mittel der Außenpolitik mehr und mehr vermindern. Angesichts der hohen Kosten und Risiken militärischer Machtpolitik und unter ökologischen und ökonomischen Zwängen könnten sich die EU und die EU-Staaten zunehmend auf eine Politik der zivilen Konfliktbearbeitung, die Stärkung der UN sowie des internationalen Rechts orientieren. Da die USA angesichts der Relativierung ihrer Dominanz, auf Bündnispartner angewiesen sind, könnte so auch ihre Umorientierung in Sicht kommen.

Schlussfolgerungen für die Friedensbewegungen

Wie tiefgreifend auch die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise mit allen politischen Folgen sein wird, sie wird nicht zu einem grundsätzlichen Wandel der Gesellschaftsordnung führen. Dazu gibt es keinerlei Voraussetzungen. Eine Reform des kapitalistischen Finanz- und Wirtschaftssystem ist jedoch nicht auszuschließen. Im Hintergrund steht die offene Frage, ob Reformschritte tatsächlich soweit voran getrieben werden können, dass daraus mehr Gerechtigkeit, weniger Gewalt, Lösung von Umweltproblemen und zivile Konfliktbearbeitung zur Überwindung von Kriegen resultieren. Dies wäre allenfalls durch ein sehr starkes Engagement der zivilen Gesellschaften möglich. In keinem der drei Szenarien wird erwartet, die großen weltweiten sozialen Probleme würden tatsächlich gelöst werden.

Das 3. Szenario, das vermutlich das unwahrscheinlichste Bild zukünftiger Entwicklung bietet, zeigt die wichtigen Ansatzpunkte für die Arbeit der Friedensbewegung. Die beiden anderen zeigen, wogegen wir uns zu wenden haben. In jedem Falle ist eine Transformation zu ziviler Konfliktbearbeitung nicht schnell zu erreichen. Erreichbar ist jedoch

  • dass das Ausmaß des tatsächlichen gewaltsamen militärischen Konfliktaustrages zurückgedrängt wird;
  • dass ihm durch internationales Recht und Gerichtsbarkeit Handlungsfelder entzogen werden.
  • dass drohende Konflikte durch frühzeitige öffentliche Debatten über Präventionsmaßnahmen deeskaliert werden. Die Friedensbewegung hat hier die Funktion der berühmten "Gänse auf dem Kapitol", die einst Rom retteten, nämlich unüberhörbar laut zu schnattern.
  • dass sich die Zahl der Menschen, die sich um zivile Konfliktbearbeitung und Kriegsprävention bemühen, auch um MitarbeiterInnen in nationalen und internationalen Organisationen erweitern, so dass zivile Konfliktbearbeitung in der öffentlichen Wahrnehmung an Gewicht gewinnt.

Es ist ferner vorstellbar,

  • dass sich in der deutschen Gesellschaft eine Kultur des friedlichen Konfliktaustrages zunehmend ausbreitet, die sich auf die herrschende Außenpolitik auswirkt.
  • dass erfolgreiche Prävention und zivile Konfliktbearbeitung ihre großen Vorteile für Menschen und Wirtschaft in konkreten Fällen erkennbar machen, so dass die Medien sich ihrer verstärkt annehmen.
Andreas Buro (*1928 in Berlin) ist im Ruhestand lebender ehemaliger Professor der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main für Politikwissenschaft/Internationale Beziehungen. Er ist Mitbegründer der deutschen Ostermarschbewegung/Kampagne für Demokratie und Abrüstung und deren langjähriger Sprecher, des Sozialistischen Büros und des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Heute ist er u. a. friedenspolitischer Sprecher des Komitees, Koordinator des Dialog-Kreises "Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden" und des "Monitoring-Projekts: Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention". 2008 hat er den Aachener Friedenspreis erhalten.

 

Quelle: FriedensForum 1/2009.

Veröffentlicht am

02. April 2009

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