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Vier Jahre Hartz IV: Schwarze Pädagogik

Die wichtigste Arbeitsmarktreform der Bundesrepublik wirkt weit in die Sphäre der Lohnarbeit hinein - und schönt in großem Stil Erwerbslosenzahlen

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Von Connie Uschtrin

Hartz IV ist zu einem Symbol geworden. Schon vier Jahre nach ihrer Einführung gilt die wichtigste Arbeitsmarktreform der Bundesrepublik als Inbegriff eines Schicksals, das man kaum seinen ärgsten Feinden an den Hals wünschen würde. "Hartz IV" steht mittlerweile für schnellen und dauerhaften sozialen Abstieg, eine Kultur der Angst und den Zwang zur Arbeit. Wer zynisch ist, könnte sagen, für Arbeit habe das Gesetz spürbar gesorgt, allerdings nur bei den Sozialgerichten, die teilweise ihr Richter- und Verwaltungspersonal wegen der sich türmenden Widersprüche verdreifachen mussten. Verfahren, die übrigens etwa zu zwei Dritteln zugunsten der Hartz IV-Empfänger entschieden werden. Die vielen fehlerhaften Bescheide sind nicht unbedingt Folge der Boshaftigkeit der Sachbearbeiter, sondern vielmehr der Komplexität des Gesetzes und der ständig neuen Anweisungen, die die Arbeitsverwaltungen kaum noch überblicken.

Im Dezember 2008 bezogen 5,6 Millionen Menschen Arbeitslosengeld. Davon hatten 905.000 Anspruch auf Arbeitslosengeld I und 4,7 Millionen auf Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Offiziell gab es aber nur 3,1 Millionen Arbeitslose. Denn diese Reform betreibt vor allem eines: Eine schamlose Schönfärberei der Arbeitslosenzahlen. Große Erwerbslosengruppen rechnet die offizielle Monatsstatistik der Bundesagentur einfach heraus, so dass selbst offizielle Verlautbarungsorgane wie die Tagesschau sich immer wieder gezwungen sehen, die Zahlen durch andere Hochrechnungen zu ergänzen, die der Realität näher kommen. Wer in Ein-Euro-Jobs oder anderen Eingliederungsmaßnahmen beschäftigt ist, wer krank ist, über 58 Jahre oder einen Armutslohn "aufstockt", fällt sofort aus der offiziellen, von Bundesagentur-Chef Weise verkündeten Arbeitslosenstatistik.

Doch die gravierendste Wirkung hat die Reform auf Löhne: Hartz IV ist in der relativ kurzen Zeit seines Bestehens zu einem so bedrohlichen Schreckgespenst geworden, dass Menschen, die Arbeit haben, um jeden Preis vermeiden wollen "in Hartz IV zu kommen". Sie sind durch die Angst vor Arbeitslosigkeit erpressbarer denn je - Lohndumping ist die Folge. Das noch in den Siebzigern schwer vorstellbare Phänomen, mit dem Lohn für einen Vollzeitjob nicht über die Runden zu kommen, wird immer häufiger. Und für Hartz IV-Empfänger gilt sowieso jede Arbeit als zumutbar, die nicht sittenwidrig ist. Anfang 2009 wurden mit der "Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente" die Zumutbarkeitskriterien noch einmal verschärft.

Kollateralschaden im System

Einen enormen Sanktionsdruck bauen die Job-Center auf, sobald ein Betroffener sich entweder nicht meldet oder eine zumutbare Arbeit nicht annimmt oder fortführt. Ein besonders drastischer Fall ereignete sich 2007, als einem 20-jährigen, kranken, ehemaligen Sonderschüler aus Speyer Leistungen gestrichen wurden. Der junge Mann ist nach extremer Unterernährung an einem Herz-Kreislauf-Versagen gestorben. Bei dem Verstorbenen fand man die halb verhungerte Mutter, der ebenfalls die Leistungen gestrichen worden waren, weil sie sich nicht bei der ARGE (Arbeitsgemeinschaft) gemeldet hatte. Diese soll von der verheerenden Situation nichts gewusst haben. Man habe nicht genug Geld für Lebensmittel gehabt, äußerte die Frau. Ein Kollateralschaden: von niemandem gewollt, aber im System angelegt - auch wenn die Sanktionen zu hoch und "rechtsfehlerhaft" waren, wie die Bundesregierung es später formulierte.

Allerdings ist es für die Job-Center oder ARGEn keine Ermessenssache, gegen den einen Sanktionen zu verhängen, gegen einen anderen nicht: Sie müssen bei Pflichtverletzungen dem Delinquenten die Leistungen kürzen. Auch bei Menschen, die sich nicht in einer psychischen Ausnahmesituation befinden, können Sanktionen zu existenziellen Ängsten und psychischen Problemen führen. Besonders schnell treffen Maßnahmen der Gängelung die jungen Erwachsenen unter 25 Jahren. Bei ihnen wird schon bei der ersten Pflichtverletzung der Regelsatz für drei Monate komplett gestrichen. So sollten in Aachen einem Jugendlichen die Leistungen auf Null gekürzt werden, weil er seine Schulzeugnisse nicht zum vereinbarten Zeitpunkt beim Maßnahmeträger vorgelegt hatte. Nur ein Formfehler des Job-Centers verhinderte dies. Älteren Hartz IV-Empfängern werden bei der ersten Pflichtverletzung "nur" 30 Prozent des Regelsatzes gestrichen, bei der zweiten innerhalb eines Jahres 60 Prozent und so weiter. Sanktionen sind auch beliebig addierbar.

Einkalkuliertes Misstrauen

Eine ausführliche Dokumentation zu diesem Thema legte Ende 2008 die Berliner Kampagne gegen Hartz IV vor. In akribisch bis ins Detail gehenden Fall-Schilderungen beschreiben und analysieren die Autoren dort, wie und weshalb Sanktionen angedroht und durchgeführt wurden. Ein Fall ist der des 60-jährigen Samuel Just, dessen Unkenntnis von Zuständigkeiten und ein etwas ungeschickter Auftritt bei einem Jobanbieter eine Kette von Anschuldigungen und Missverständnissen lostraten, die am Ende nur schwerlich wieder aufzulösen waren. Er wurde beschuldigt, eine Maßnahme vereitelt zu haben. Schließlich ließ sich mit Hilfe von Beratern die unberechtigte Sanktion noch einmal abwehren. Nach weiteren Sanktionsandrohungen nahm er schließlich die 58er- Regelung in Anspruch. Damit hatte er zwar keinen Anspruch auf Förderung mehr und kaum eine Chance, noch mal sozialversichert beschäftigt zu werden, aber die Sanktionsandrohungen hatten immerhin ein Ende.

Unsinnige Vorgänge und fehlerhafte Bescheide haben oft mit zu wenig oder unqualifiziertem Personal in den Job-Centern und bei den ARGEn zu tun. Sie entspringen aber auch einem durchaus einkalkulierten Misstrauen im Verhältnis zwischen Jobvermittlern und Erwerbslosen. Ein anderes Beispiel ist das eines jungen Mannes, Sadi Bozkurt, der ohne Absprache mit dem Job-Center einen Tageslehrgang besuchte, um den Hauptschulabschluss zu machen. Als der Arbeitsberater davon erfuhr, verbot er ihm den weiteren Besuch, weil er dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müsse. Später hieß es, für eine Ausbildung müsse er ohnehin Bafög beantragen. Doch ein Bafög-Bescheid kann Monate dauern und bis dahin hätte Bozkurt Anspruch auf Hartz IV gehabt. Trotzdem wurde umgehend das Geld einbehalten. Der Fall zeigt, wie mehrere Missstände zusammen kommen: Das Job-Center forderte in unverständlicher Weise Unterlagen an und stellte noch vor dem gesetzten Abgabetermin die Leistungen ein. Sein Arbeitsvermittler weist Bozkurt eine unpassende Maßnahme zu, dann bringt ihn eine falsche Auskunft dazu, seinen Lehrgang abzubrechen.

Immerhin, ein solcher Fall wird seit dem 1. Januar neu beurteilt, denn seither haben erwachsene Arbeitslose einen Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss. Dienen Sanktionen der Disziplinierung und erreichen sie ihr Ziel? Offiziell sollen Sanktionen nicht bestrafen, sondern erziehen. Doch selbst wenn der Betroffene einlenkt, wird die Sanktion in aller Regel fortgeführt. Das ist ein Widerspruch. Der Staat betreibt schwarze Pädagogik, deren erzieherischer Wert von heute längst als widerlegt gilt.

Ziel verfehlt

Eigentlich sollten Arbeitslose ja nicht nur gefordert, sondern auch gefördert werden. Es war schon gut durchdacht, das Konzept des Fallmanagements, das maßgeschneidert individuelle Berufswege und Lebensumstände berücksichtigen sollte. Aber die Sachbearbeiter in den ARGEn sind selbst oft in Leiharbeit oder befristet beschäftigt und häufig nicht kompetent.

Dafür haben sich die verpflichtenden Ein-Euro-Jobs seit der Einführung von Hartz IV zum wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Instrument entwickelt. Im Jahr 2007 gab es für 750.000 Hartz IV-Empfänger eine solche Maßnahme, Tendenz steigend. Das Mittel gilt Langzeitarbeitslosen und jungen Leuten, die an regelmäßige Erwerbsarbeit gewöhnt werden sollen. In einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) wurde allerdings festgestellt, dass gerade bei jungen Leuten, die immerhin ein Viertel der Ein-Euro-Jobber ausmachen, die Maßnahme ihr Ziel verfehlt und nicht dazu beiträgt, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Außerdem stehen Ein-Euro-Jobs im Verdacht, reguläre Tätigkeit zu verdrängen oder zu ersetzen. Die Sozialrechtlerin Helga Spindler erläutert die Folgen eines deregulierten öffentlichen Sektors, dessen Aufgaben zunehmend durch Ein-Euro-Jobber übernommen werden: "Auch Straßenreinigung, Sportvereine, Kirchen, Schulen und Pflegeheime brauchen dauerhaft reguläre Hilfskräfte, Hausmeister und Putzfrauen, zu deren Anstellung Kommunen und Einrichtungen finanziell ausgestattet werden müssen." Ihrer Ansicht nach ist in Deutschland der Beschäftigungsabbau im gemeinnützigen und öffentlichen Bereich zu weit getrieben worden. Es ist ein Grundproblem der Hartz-Reformen, dass die Förderung von regulären Arbeitsplätzen nicht vorgesehen ist, nicht einmal in Regionen, in denen beim besten Willen keine Arbeit zu finden ist. Stattdessen ist laut Spindler der "Abbau von dauerhaften Arbeitsplätzen" hierzulande "noch im vollen Gange".

Kein Kaugummi

Kinder sind von längeren Armutsphasen in der Familie besonders betroffen, sowohl gesundheitlich als auch durch eingeschränkte Bildungsmöglichkeiten. Hartz IV-Kinder unter 14 Jahren erhalten nur 210 Euro, das sind 60 Prozent des Regelsatzes eines Erwachsenen (derzeit 351 Euro) - obwohl sie viel öfter neue Kleidung brauchen sowie Schulbücher kaufen müssen und einen Sportverein besuchen wollen. Womit ist der niedrigere Regelsatz gerechtfertigt? Die Kinderarmut, die in Deutschland größer ist als in anderen europäischen Staaten, ist im vergangenen Jahr medial skandalisiert worden. Die Maßnahmen, die die Bundesregierung mittlerweile dagegen eingeleitet hat, sehen offensichtlich auch wieder nur eine statistische Datenbereinigung vor: Das Bundesfamilienministerium hat den Kinderzuschlag neu definiert, so dass es für Aufstocker, also Erwerbstätige, die zusätzlich zu ihrem Einkommen Hartz IV beziehen, interessant wird, Kinderzuschlag und Wohngeld zu beantragen und so aus dem Bezug von Hartz IV zu fallen. Statistik frisiert, Armutsthema erledigt - so einfach geht das. Damit wird das Problem von einer Behörde zur anderen verschoben und der Aufwand an Bürokratie maximiert. Für die Betroffenen ein Nullsummenspiel.

Nicht einmal von dem zu Jahresbeginn um zehn Euro erhöhten Kindergeld profitieren Hartz IV-Haushalte, denn Kindergeld wird ihnen generell angerechnet. Doch die Bundesregierung behauptet dreist, Hartz IV-Kinder würden doch von der Kindergelderhöhung profitieren - schließlich seien sie so auf weniger staatliche Fürsorge angewiesen. Kaufen können sich die Kleinen davon allerdings nicht einmal einen Kaugummi.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 03 vom 16.01.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

26. Januar 2009

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