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Tote Kinder in Gaza: Lauft auf die Engel zu

Von Suzanne Baroud, 12.01.2009 - ZNet

Was für eine Ironie. Vor zwanzig Jahren, in Palästina, entschied ich für mich, dass Gott nicht existiert. Wie könnte ein Gott, der angeblich behauptet, alle zu lieben und gleich zu behandeln, Greuel zulassen, wie sie in Palästina geschehen.

Mit jeder neuen Ausgangssperre, mit jedem neuen Angriff und der Trauer um die Toten - um den nächsten Märtyrer - nahm mein Unglaube zu. Er wuchs weiter, als es auf dem Hauptplatz von Ramallah an einem sonnigen Nachmittag quasi zu einer Hinrichtung durch Gewehrfeuer kam. Das ist lange her. Mein Unglaube wurde zementiert, als ich einem meiner Fünftklässler mitteilen musste, dass die Israelische Armee seinen Bruder mitgenommen hatte. Sein Gesichtsausdruck, das Erschlaffen seiner Glieder, das Zucken seiner Schultern, als er mit seinen Klassenkameraden in Weinen ausbrach… Das gab mir den Rest.

Seit jenem Tag sind nahezu 20 Jahre vergangen. Ich habe in eine Gazaer Familie eingeheiratet. Ich bin heute Ehefrau und Mutter und Schwester und Tante so vieler Kinder, die den Horror des heutigen Gaza erleben. Während wir die Bilder des israelischen Gemetzels sehen, höre ich mich - beim Anblick eines weiteren Kindes, das den Märtyrertod starb -, flüstern: "Renne auf die Engel zu… renn". Nach all diesen Jahren nährt der Alptraum, in dem wir hier leben, in mir die brennende Sehnsucht, wieder an ein Weiterleben nach dem Tod zu glauben.

Eingesperrt, ausgehungert, von Heckenschützen erschossen, erstickt, wie Schafe geschlachtet. Die Führer der freien Welt haben anscheinend nicht einen Augenblick Zeit, dies zu kommentieren. Golf spielen, Urlaub machen - Obama, Bush, selbst die EU - es ist einfach nicht wichtig genug. Ich murmle vor mich hin. Es ist zu einer Art Mantra geworden. Ich rufe die zerschmetterten, gequälten kleinen Leichname an, die nicht wissen, was Leben ist, weil sie so früh starben. Der einzige Trost ist die Ruhe, die sie im Tod finden.

Eine Menge versammelt sich - um sie herum Rauch, Staub und Gas. In vorderster Reihe stehen acht junge Väter. Jeder trägt ein weißes, verhülltes Bündel, das einmal sein Sohn oder seine Tochter war. Einen Moment herrscht Schweigen. Die Schreie, das Weinen und Singen versiegen. Ein Moment der Ruhe und der Stille kehrt ein. In dieser Stille fragt man sich, mit wem das Schicksal gnädiger war - mit dem Kleinkind, das von den Kugeln eines Heckenschützen getroffen wurde oder mit dessen junger Vater, der einen Weg finden muss, diese Zeit zu überstehen.

Ein kleiner Junge sitzt auf dem Bürgersteig neben seiner Mutter. Sie lehnt an der Mauer eines eingestürzten Gebäudes, während das Blut aus ihr herausfließt. Ihr Leben fließt aus ihr heraus auf den Bürgersteig. Das Blut der Mutter ist im Gesicht des Kindes; sein T-Shirt ist mit ihrem Blut beschmiert. Mit letzter Kraft hebt sie einen Arm und nimmt die Wange des Jungen in ihre Handfläche; dann stirbt sie. Er schlägt die Hände vors Gesicht und weint. Er ist ganz allein.

Die Kamera zoomt auf ein Gebäude, das gerade explodiert ist - ein ziviles Haus. Von einem kleinen Mädchen ist nicht mehr viel übrig - nur ihre braunen, verstaubten Locken und ihre großen, weit geöffneten Augen. Ihre Mutter weint und ihr Vater sucht verzweifelt in den Trümmern nach den Überresten seiner Tochter. Wo könnte ihr Körper sein? "Im Paradies wirst du wieder heil sein", höre ich mich flüstern. "Lauf’ auf die Engel zu!"

Was für eine Glaubensstärke - die erste Äußerung eines Vaters, der seine Frau, seine acht Kinder und seine Eltern verloren hat und dennoch mit Bestimmtheit sagt: "Gott ist groß, dank sei Gott für alles". Was für ein starker Glaube. Er hält sein Kind. Es ist still und aschfahl. Er überschwemmt es mit Küssen. Dann zieht er vorsichtig das Tuch weg, so dass die beiden Einschusslöcher in der Brust des Kindes erkennbar sind. Er nimmt das Kind und legt es zärtlich neben dessen toten Bruder. Dann wendet er sich seinem jüngsten Sohn zu. Dieser hat einen einzigen Sniper-Einschuss in der Brust. Der Vater kann sich kaum noch zusammenreißen. Er jammert und klagt vor einem sympathisierenden Kameramann. "Gott ist groß", sagt der Vater, "danke, Gott, für alles".

Ein alter Imam (Geistlicher), mit vielen Runzeln im Gesicht, wiegt den leblosen Körper eines kleinen Mädchens, so sanft, als könnte er ihr durch eine falsche Bewegung noch wehtun. Er murmelt einen Segen und legt sie sachte zu ihren toten Schwestern und Brüdern ins Massengrab. Ich höre mich selbst, wie ich versuche, sie zu trösten: "Jetzt hast du endlich einen Ort, wo du sicher bist. Ruhe neben deinen Schwestern und Brüdern. Lass deine Ängste ruhen. Du triffst deinen geliebten Propheten und die vielen, vielen anderen Kleinen, die dir im Tod vorangegangen sind".

Hospitäler, Schulen, Moscheen, Privathäuser, UN-Schutzräume - alle sind sie zieltauglich. Ärzte, Medizin, Lebensmittel und Wasser - Lastwagen mit Hilfsgütern aus allen Teilen der Welt - sitzen in kilometerlangen Schlangen an der ägyptischen Grenze fest. Die Sicherheitsstufe ist hoch, die Lebensmittel sind knapp, Wasser ist komplett aus.

Der Glaube überkommt uns in den ungewöhnlichsten Augenblicken. Mich überkommt er in einer Woge - durch die Verzweiflung und Agonie, die ich empfinde, wenn ich an die schneeweißen Seelen der vielen blutenden, toten Unschuldigen in Gaza denke.

Mitarbeiter der UNO hatten die Koordinaten der UN-Schule mit den Israelis abgeklärt, damit Zivilisten an diesem Ort sicher sein sollten. Kurz darauf kam diese Schule unter israelischen Beschuss. Flüchtlinge, mit Blutergüssen und Wunden sehen in das Gesicht Satans. Ihre Kleider sehen aus, als kämen sie aus der Hölle. Hunderte wurden verletzt, Dutzende starben, viele sind verschollen, niemand weiß, wo sie sind.

Die Regierungen verhandeln über einen Waffenstillstand. Verschwörungstheorien kursieren. Der neugewählte US-Präsident schweigt und schweigt. Eltern suchen in den eingefallenen Mauern nach den Resten ihrer Kinder. Zerborstener Beton, hier ein Arm, dort ein Bein, Glasreste - alles zusammen bildet einen blutigen Mischmasch. Aber in meinem Kopf sind die Kinder heil, ihre kleinen Körper befinden sich auf dem schnellsten Weg ins Paradies. Ich rufe ihnen zu: "Rennt!"

Suzanne Baroud ist Redakteurin von PalestineChronicle.com .

Quelle:  ZNet Deutschland   vom 12.01.2009. Originalartikel: Children of Gaza, Run to the Angels . Übersetzt von: Andrea Noll.

Veröffentlicht am

12. Januar 2009

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