Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Helmut Gollwitzer: Warum ich als Christ Sozialist bin

Am 29. Dezember 2008 wäre der große evangelische Theologe Helmut Gollwitzer 100 Jahre alt geworden. Der im Oktober 1993 im Alter von fast 85 Jahren verstorbene Gollwitzer trat nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 entschieden für die "Bekennende Kirche" ein und war später unter anderem Wegbegleiter der Studentenbewegung wie der sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre. Wir erinnern in der Lebenshaus-Website an ihn durch die Veröffentlichung verschiedener Predigten, Reden und Artikel.

Für Helmut Gollwitzer ergab sich aus dem Evangelium, dass er als Christ Sozialist zu sein hat. 1980 hat ihn die Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg zu einer Klausurtagung über "Christentum und Sozialismus" eingeladen, um seine Position zu begründen. Nachfolgend dokumentieren wir anlässlich Gollwitzers 100. Geburtstag seine Rede, die er vor den Synodalen gehalten hat.

Warum ich als Christ Sozialist bin

Referat vor der 9. Württembergischen Landessynode während ihrer Klausurtagung am 29. Februar 1980 in Bad Mergentheim

Von Helmut Gollwitzer

Die 9. Württembergische Landessynode befasste sich vom 28. Februar bis 1. März 1980 auf einer Klausurtagung in Bad Mergentheim mit dem Verhältnis zwischen Kirche und Sozialismus. Den Anstoß dazu hatten die Auseinandersetzungen gegeben, die noch in der8. Landessynode über die Tübinger Studentengemeinde und deren damaligen Arbeitskreis "Christen für den Sozialismus" geführt worden waren.

Die Ausgangspositionen im Gespräch der 91 Synodalen und der Mitglieder des Oberkirchenrats lagen zum Teil weit auseinander. Für manche bedeutet der Sozialismus vor allem die atheistische Ideologie des Marxismus-Leninismus, die an die Stelle Gottes den Menschen setzt, ohne dessen Endlichkeit und Schuldverstrickung wahrzunehmen; eine Ideologie, die - an die Macht gelangt - Freiheit erstickt und auf Kosten der Entwicklungsländer und der Umwelt dieselben Produktions- und Konsumziele zu realisieren versucht, wie die kapitalistischen Länder auch.

Für andere sind sozialistische Bewegungen nicht notwendig an die marxistische Ideologie gebunden und deshalb auch für Christen ernstzunehmende Alternativen angesichts der immer bedrohlicher werdenden Widersprüche unserer kapitalistischen Industriegesellschaft; der Widersprüche zwischen wachsendem Wohlstand und psychischer Verelendung, zwischen Akkumulation von Reichtum und Macht und gleichzeitiger Ausweitung von Armut und Abhängigkeit, zwischen maßloser Verschwendung und der Endlichkeit der Ressourcen, zwischen Sicherheitsstreben und Rüstungswahnsinn.

Die dreitägigen Gespräche zwischen Vertretern dieser beiden Positionen und vieler Auffassungen dazwischen wurden unter der ständigen Mitarbeit von vier Referenten, alle evangelische Theologen, geführt, deren Beiträge der weiteren Information und Klärung dienten: Prof. Jan Milic Lochman, früher Prag, jetzt Basel, Prof. Helmut Gollwitzer, Berlin, und Prof. Klaus Bockmühl, Vancouver. Prof. Eberhard Jüngel, Tübingen, schloss die Erörterungen dieser Klausurtagung mit einer "Theologischen Zusammenfassung". Wir veröffentlichen nachstehend das Referat von Helmut Gollwitzer. (Vorbemerkung Redaktion Junge Kirche)

I .

Rufe menschlicher Not dringen aus aller Welt auf uns ein. Entgegen allen Vorhersagen des optimistischen Flügels der Futurologie vermehren sie sich täglich. Die Welthungerkatastrophe, vor fünfzehn Jahren angekündigt, ist Gegenwart geworden. Flüchtlingsströme als Folge von diktatorischen Regimen und von Explosionen ethnischer Antipathien zeigen, wie immer neu Regionen zu Krisengebieten werden. Jede internationale Krise rettet stagnierende Giganten der Rüstungsindustrie vor der Pleite, mit der die Entspannungspolitik sie bedroht, und macht die winzigen Fortschritte der auf Rüstungskontrolle, längst noch nicht auf Abrüstung gerichteten Bemühungen wieder rückgängig. Jede Krise sorgt also dafür, dass die Rüstung die Mittel an Menschen und Material und Geld aufzehrt, die wir dringend brauchen, um Hunger, Wassermangel, Wohnungsmangel, Energiemangel, Erosion usw. zu bekämpfen und eine bewohnbare Erde uns und unseren Enkeln zu erhalten -, zu schweigen von der zunehmenden, nicht etwa abnehmenden Möglichkeit der militärischen Explosion dieser Rüstung, also des Atomkrieges, den führbar zu machen Militärs und Wissenschaftler in beiden Supermächten eifrig an der Arbeit sind. Dazu kommen die psychischen Verelendungserscheinungen in den entwickelten Industrieländern - Drogensucht, Alkoholismus, psychische Erkrankungen -, die sprunghaft zunehmen und auf einen Verfall der gesellschaftlichen Integrationskräfte hinweisen, der seine Gründe in der Entwicklung der objektiven gesellschaftlichen Strukturen haben muss.

Es könnte scheinen, als würden vor der dringenden konservativen Aufgabe der Rettung und Bewahrung der Erde die weitergehenden Zielsetzungen der sozialistischen Bewegung, eine Gesellschaft von möglichst weitgehender Chancengleichheit und Solidarität zu verwirklichen, verstummen müssen. Wer sein nötigstes Existenzminimum retten muss, hat für hochgesteckte Glücksziele keinen Schwung mehr. Sozialismus scheint unaktuell zu werden, wo wir gemeinsam von existentiellen Gefahren bedroht sind; erst müssen wir diese bewältigen, bevor wir uns über eine bessere Zukunft den Kopf zerbrechen können. Auch manche Sozialisten sind geneigt, infolge unserer gemeinsamen Bedrücktheit durch die negative Weltentwicklung sozialistische Ziele ad calendas graecas zu vertagen. Deshalb könnte man uns vorschlagen, hier und heute nicht über "Christentum und Sozialismus" zu diskutieren, sondern über das Näherliegende, das Pragmatische, über die Erhaltung des Jetzigen statt über die Gestaltung des Künftigen.

Aus zwei Gründen ist das nicht ratsam sondern bleiben sozialistische Analyse und Zielorientierung unverändert aktuell:

1. Die Katastrophen, die teils schon für Millionen gegenwärtig sind, teils uns allen drohen, sind nicht durch Entwicklungen der Natur verursacht (etwa durch eine nicht von menschlicher Zivilisation verschuldete Klimaverschlechterung, durch eine beginnende Eiszeit u. ä.), sondern durch uns Menschen. Es müssen also, wenn wir einen Ausweg aus der heutigen Menschheitskrise finden wollen, die menschlichen, gesellschaftlichen Ursachen aufgedeckt werden.

2. Liegen diese Ursachen, wie die sozialistische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, von der noch zu reden sein wird, immer behauptet hat, in den krassen Ungleichheiten und in dem rücksichtslosen Streben der privilegierten Schichten der Erdbevölkerung, dann wird der Ausweg nur in der Abkehr von den Methoden, Verhaltensweisen und Strukturen, die in diese Menschheitskrise geführt haben, bestehen können. Ohne die Gestaltung einer Gesellschaft, in der Gleichheit, Freiheit und Solidarität für alle Menschen, in der also die Menschenrechte besser realisiert sind als heute, wird auch die Erhaltung der Menschenwelt, das Überleben von Menschheitskultur nicht möglich sein. Das meinten große Sozialisten schon vor 1914 mit der alternativen Prognose: "Sozialismus oder Barbarei" - und die barbarische Entwicklung seit 1914 hat das bestätigt. Ich zitiere den nichtmarxistischen Christen und Physiker A. M. Klaus Müller.

Er sagt in seinem Buch "Die präparierte Zeit. Der Mensch in der Krise seiner eigenen Zielsetzungen" (Radius-Verlag, Stuttgart 1972, S. 122): "Die Zukunft der Freiheit wird zur Frage an den Menschen: Vermag er eine neue Qualität des Lebens zu erobern, die ihm diese Freiheit schenkt, oder ist das Defizit an Freiheit zugleich das Signal für das endgültige Defizit an Zukunft? Sollte das letzte der Fall sein, so ist das Schicksal des Menschen besiegelt. An dieser Stelle wird deutlich, dass in der Frage nach dem Überleben in der Industriegesellschaft die Frage nach der Freiheit des Menschen enthalten ist. Wer überleben will, der muss Überleben für alle wollen, und wer Überleben für alle will, der muss Freiheit für alle wollen …"

Man kann gegenüber der beängstigenden Menschheitsentwicklung sich auf verschiedene Weise einstellen:

1. Man kann die zunehmende Unregierbarkeit der Welt als ein über uns gekommenes Verhängnis sehen, gegen das sich nichts machen lässt, und bei dem wir nichts anderes mehr tun können, als die Welt diesem Verhängnis zu überlassen und nur noch für uns selbst ein Leben zu retten, das uns lebenswert erscheint. Dabei kommt es aufs gleiche hinaus, ob wir das Verhängnis apokalyptisch auf ein Gericht Gottes, astrologisch auf das Wassermannzeitalter zurückführen oder auf jede Erklärung verzichten, und es kommt auch auf das gleiche hinaus, ob wir aus der Verantwortung für diese vermeintlich nicht rettbare Welt aussteigen in der Form individueller Religiosität, in Drogen, in materialistischen Privatkonsum und Lebensgenuss oder in den Elfenbeinturm der geistigen Genüsse. Die Welt ist preisgegeben, und nur ich selbst rette mich selbst, solange und soweit es geht.

2. Wir können versuchen, weiterzumachen wie bisher, in der Hoffnung, dass Krisenmanagement, neue Technologie und ein ziemliches Maß von Glück das Überleben sowohl der Menschheit wie vor allem unserer bisherigen Lebensweise und Gesellschaftsform ermöglichen werden, ohne dass wir zu grundlegenden Systemveränderungen gezwungen werden, bei denen man ja nicht vorhersehen kann, ob sie die erhofften Besserungen wirklich bringen.

3. Wir können diese Menschheitskrise als "Ultimatum Gottes" (wie Max Scheler den 1. Weltkrieg bezeichnet hat) ansehen: so wie bisher nicht weiter! "Pflüget ein Neues!" Der alte Weg kann uns aus der Krise, in die er uns hineingeführt hat, nicht herausführen. An den Ursachen der Krise muss gearbeitet und neue, alternative Bedingungen für ein Überleben, das zugleich eine bessere Lebensweise sein muss, müssen geschaffen werden.

Die erste Einstellungsweise kommt für Christen, wie ich meine, nicht in Frage, obwohl ich manche frommen Christen kenne, die zu ihr neigen. Sie ist eine Weise des Egoismus, nicht der Nachfolge. Zwischen der zweiten und der dritten Einstellungsweise besteht unter Christen ernsthafter Streit, der uns auch heute und hier zusammengeführt hat. Die zweite Einstellungsweise hat für und die dritte hat gegen sich, dass für die dritte Einstellungsweise z.Zt. in unseren Ländern kaum Durchsetzungsaussichten bestehen. "Keine Experimente!" ist die Parole, die unsere Trägheit, unser immer noch bestehendes Wohlleben, unsere Angst vor Veränderungen uns nahelegen, und viele Theologen und Bischöfe mit ihren Warnungen vor Schwärmerei und Ideologie dazu, womit sie, wie ich meine, die Ideologie des pragmatischen Weiterwurstelns als die legitime Form von christlicher Politik ausgeben. Die dritte Einstellungsweise hat für sich, dass sie der Größe der Gefahr, der Tiefe der Krise entspricht. "Die heutige Krise ist die… Steigerung der mörderischen Kollisionen partikularer Interessen ins ,Selbstmörderische’" (A. M. Klaus Müller, a. a. Seite 65). Ob das Notwendige auch möglich, d.h. durchsetzbar ist, ist heute die Schicksalsfrage der Menschheit. Die dritte Einstellung hat außerdem für sich, dass sie gerade Christen, Jüngern Jesu, sich nahelegt. Wieso, das ist jetzt auszuführen.

I I

Dass Glaube freimacht zum Tun der Liebe, ist ein grundlegender Satz des christlichen Glaubens. Sind wir durch die Sünde Gottes und des Mitmenschen Feind, in Sorge um uns selbst, uns um uns selbst, um unsere partikularen Interessen drehend, so ist Glauben die Befreiung von dieser Sorge um uns selbst zum Leben der Agape, der Hinwendung zum Nächsten. "Der Glaube ist der Täter, die Liebe ist die Tat" (Luther). So_ist Christsein tägliche Absage an das alte Leben für mich selbst und die tägliche Hinwendung zu einem Leben als "Mitarbeiter Gottes in der Welt" (Luther): "Verflucht und verdammt ist alles Leben, das sich selbst zunutz und zugut gelebt und gesucht wird; verflucht alle Werke, die nicht in der Liebe gehen. Dann aber gehen sie in der Liebe, wenn sie nicht auf eigene Lust, Nutzen, Ehre, Komfort und Heil, sondern auf anderer Nutzen, Ehre und Heil gerichtet sind, von ganzem Herzen" (Luther, "Von weltlicher Obrigkeit", 1523, WA. 11. 272). Oder ebenfalls Luther, kurz und prägnant: "Was nicht im Dienst steht, steht im Raub" (WA. 12,470; Predigt über Lukas 19,29-34, 1523). Gottes Gaben an mich sind Gottes Gaben für meinen Nächsten, und zwar vor allem für den dieser gleichen Gaben ermangelnden Nächsten. Das sind wesentliche Sätze aller christlichen Predigt, über die unter uns Konsensus bestehen dürfte.

Voraussetzung für sie ist: Gottes Geben ist verschieden, und eben die Unterschiede, die es schafft, binden uns aneinander, machen uns aufeinander angewiesen. Gottes Gaben an mich sind meine Privilegien gegenüber denen, denen sie nicht gegeben sind. Dreierlei Arten von solchen Privilegien können wir unterscheiden: Die kreatürlichen (Luther: "Augen, Ohren, Vernunft und alle Sinne", Gesundheit, Intelligenz, Begabungen aller Art), die geistlichen (Hören des Evangeliums, Glauben dürfen, Gebetskraft), die gesellschaftlichen (ökonomischer und sozialer Status des Elternhauses, Vermögen, Einkommen, Einfluss, Ansehen usw.). Die Metanoia, in die uns das Evangelium ruft, ist eine Lebensänderung, die unsere Stellung zu unseren Privilegien betrifft. Das Evangelium fragt uns täglich: Wie hältst du es mit deinen Privilegien? Gottes Gaben an dich beansprucht Gott für deinen Mitmenschen. "Was nicht im Dienst steht, steht im Raub" - und rauben heißt lateinisch bekanntlich privare. Unter dem Evangelium sind Gottes Gaben = unsere Privilegien nicht mehr unser Privateigentum, sondern unsere Dienstmöglichkeiten.

Nun besteht aber zwischen diesen verschiedenen Arten von Privilegien ein erheblicher Unterschied, und seine Entdeckung macht den Konsensus, in dem wir uns bisher bewegt haben, kritisch. Wird der Unterschied nicht beachtet, wie weithin in der christlichen Predigt, dann bleibt diese im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse; sie ruft zum Tun der Liebe in diesem Rahmen und stellt ihn nicht in Frage. Gewiss, alle diese Privilegien sind Gottes Gaben auch an mich, auch z. B. dass ich in einer Villa oder in einem Schloss aufwachse und nicht im Slum, auch dass wir alle hier uns täglich sattessen und nicht zu den hungernden Millionen gehören. Aber die kreatürlichen und geistigen Privilegien sind mir so gegeben, dass ich sie nicht abschaffen kann, jedenfalls nicht künstlich abschaffen, sondern sie zum Dienst für den Nächsten verwenden soll. Auch die gesellschaftlich bedingten Privilegien soll ich, solange sie Privilegien sind, in den Dienst derer stellen, denen sie nicht gegeben sind. Die Frage aber ist, ob damit genug getan ist. Ist genug getan, wenn ich als Freier einem Sklaven helfe, als in Arbeit Stehender einem Arbeitslosen, in der Nazizeit als Arier einem Juden oder Zigeuner, als Bevorrechteter einem rechtlich Benachteiligten?

Die bürgerliche Gesellschaft hat diese Frage gestellt gegenüber der Feudalgesellschaft, die ein sehr strenges Privilegiensystem war, in dem auch die gesellschaftlich vermittelten Privilegien als direkt von Gott gegebene, als "von Gottes Gnaden" angesehen wurden. Durch die Infragestellung dieser Sicht der gesellschaftlichen Privilegien wurde das Feudalsystem gesprengt. Daraus ergab sich schließlich in unserer Zeit die Kodifizierung der gleichen Bürgerrechte und der allgemeinen Menschenrechte. Diese besagen: Was bisher Privileg von einzelnen und Gruppen in der Gesellschaft war, soll Recht aller werden. Nicht nur: "Keiner soll hungern und frieren", sondern auch: keiner soll Sklave sein, keiner soll vom Zugang zur Bildung, keiner soll von der Mitbestimmung an der Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten ausgeschlossen sein. Bürgerliche Freiheiten, gleiches aktives und passives Wahlrecht, Chancengleichheit, Gleichheit vor dem Gesetz, sozialstaatliche Solidarität - das soll, was bisher Privileg war, zu Rechten aller werden.

Dass die christlichen Kirchen sich heute für die Verwirklichung der von der bürgerlichen Revolution proklamierten Menschen- und Bürgerrechte einsetzen, ist die richtige Konsequenz aus der früher in ihnen nicht so vorhanden gewesenen Erkenntnis, dass diese Verallgemeinerung bisheriger Privilegien das ist, was christliche Liebe wünschen muss. Ihr Wunsch ist, dass es die anderen ebenso gut haben wie ich. Sie kann Gottes Gaben nicht dankbar genießen, ohne zu wünschen, dass die anderen sie ebenso genießen können wie ich, und ohne sich dafür tätig einzusetzen.

Dass die bürgerliche Revolution diese Grundrechte proklamiert hat, heißt aber nicht, dass sie sie auch verwirklicht hat. In ihren klassischen Ländern - USA, Frankreich und England - blieben große Bevölkerungsschichten von ihnen zunächst ganz oder teilweise ausgeschlossen: die Sklaven, die Bevölkerung der Kolonien, das Proletariat. Es hat schwerer Kämpfe bedurft, bis wenigstens der Zustand erreicht war, in dem wir heute in der Bundesrepublik leben. Das ist begründet darin, dass die bürgerliche Gesellschaft ein Produktionssystem hat, das ebenfalls ein Herrschaftssystem, also eine Ungleichheit der Machtbeziehungen zwischen Menschen darstellt (nämlich der Ungleichheit zwischen denen, die über die Produktionsmittel, und denen, die nur über ihre Arbeitskraft verfügen), und dass deshalb diese Gesellschaft auch Herrschaftsformen aus der Feudalzeit und anderer hierarchischer Privilegiensysteme nicht abschaffte, sondern sich anpasste, z. B. das Beamtentum, die Justiz, das Militär, und dass sie im Kolonialsystem ein im Grunde feudales System aufrechterhielt, nämlich ein System der Bevorrechtung auf der Basis von Geburtsunterschieden.

Spätestens dann, wenn in solchen Privilegiensystemen die Unterprivilegierten und Benachteiligten ihren Anspruch auf gleiche Menschen- und Bürgerrechte anmelden, stehen die Jünger Jesu vor der Frage, auf welche Seite sie sich schlagen. Unparteiisch bleiben können sie nicht. Denn in jedem Privilegiensystem - und noch kennen wir in der Menschheitsgeschichte spätestens seit dem Übergang zur Ackerbaukultur kein anderes - sind alle Einrichtungen, Sitten und Erziehungssysteme, auch die religiösen, und auch diejenigen, die dem Gemeinwohl dienen sollen, der Erhaltung des Privilegiensystems dienstbar gemacht. Die Aufrechterhaltung der ungleichen Verteilung der materiellen Güter, des Arbeitsproduktes, der Chancen für die Persönlichkeitsentfaltung und der ungleichen Rechtsteilhabe bedarf eines großen Apparats von Machtmitteln, kombiniert aus Ideologie und Gewalt, um das Aufbegehren der Benachteiligten möglichst schon im Entstehen zu verhindern. Diese Systeme stehen in einem permanenten Erhaltungskampf, in dem jedes Gesellschaftsmitglied zur Parteinahme für die Erhaltung gezwungen oder bekämpft wird. Mit ständiger Androhung von Gewalt wird der Auflehnung gegen das Privilegiensystem vorgebeugt, und mit brutaler Gewaltanwendung wird diese niedergeschlagen, wenn sie sich dennoch rührt. Wie jede Religion, so ist auch das Christentum zur ideologischen Stützung des Privilegiensystems bis heute mit Erfolg benützt worden. Die Christen als Gesellschaftsmitglieder sind in jedem Augenblick entweder Systemstützer oder Systemveränderer - sowohl in den Zeiten, in denen der Selbsterhaltungskampf des Systems sich auf die Gewaltandrohung beschränken kann, wie in den Zeiten, in denen dafür Gewalt eingesetzt wird.

Die Position der Jünger Jesu in diesen Kämpfen wird, wenn sie von der Freiheit der Liebe bestimmt ist, gekennzeichnet sein:

1. durch die Freiheit, ihre Privilegien loszulassen und es zu begrüßen, wenn an deren Stelle gleiches Recht für alle tritt, wenn alle es ebensogut bekommen wie ich, und wenn ich es nicht besser habe als die anderen.

2. durch das Ziel einer nicht von Privilegienunterschieden, sondern weitestmöglich von Freiheit, Gleichheit und Solidarität bestimmten und damit vom Privilegienkampf befreiten Gesellschaft.

3. durch das Bemühen, diesem Ziel auf dem Wege einer Entwicklung ohne blutige Auseinandersetzungen entgegenzukommen, die Revolution von der Privilegiengesellschaft zur solidarischen Gesellschaft möglichst auf evolutionärem Wege zu erreichen.

In der bisherigen Geschichte des Christentums haben nur kleinere Gruppen der Christenheit aus dem Evangelium die Anweisung zu einer solchen Position vernommen. Die Gründe, weshalb die Mehrheit der Christen, Kirchenvertreter und Theologen meinten, nicht Partei gegen die Privilegienstruktur der Gesellschaft ergreifen zu sollen, sind hier von mir nicht zu analysieren, weder die vorgebrachten Gründe noch die möglicherweise unbewusst dahinterstehenden, da ich hier nur die Frage zu beantworten habe, weshalb ich als Christ, also als Hörer des Evangeliums und mit dem Willen, dem Evangelium gehorsam zu sein, Sozialist bin. Wohl aber sind noch zwei Bemerkungen nötig:

1. Es ist das Evangelium, das mich in diese "Richtung und Linie" (Karl Barth) weist. Mit seiner Weisung befreit das Evangelium meine Vernunft "aus den gottlosen Bindungen dieser Welt", d.h. aus der Knechtschaft der Privilegieninteressen, in der ich mich heute als Angehöriger eines führenden Industriestaates, als Akademiker, als Beamter, als Angehöriger des Bürgertums, als Weißer, als Mann befinde, "zu freiem dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen" (Barmer Erklärung II). Das Evangelium schaltet aber meine Vernunft nicht aus. Es geht bei alledem um Gestaltung der weltlichen Dinge; insofern ist Sozialismus natürlich "ein weltlich Ding" und nicht Heilsverwirklichung, also auch nicht Heilslehre. Welche Privilegien je in einer Zeit abbaufähig und abbaudringlich sind, ob und welche Privilegien überhaupt vorhanden sind (sie können auch sehr verschleiert und unkenntlich sein!), welche gesellschaftlichen Regelungen an die Stelle der bisherigen Privilegienordnungen gesetzt werden sollen, welche Strategie zu diesem Ziele eingeschlagen werden soll -, das alles ist Sache vernünftiger Erkenntnis und also - da ich diese ja nicht für mich allein gepachtet habe - vernünftiger Diskussion und dann freilich auch des politischen Kampfes zur Durchführung der auf diese Weise gewonnenen Überzeugungen. In der Diskussion wie im Kampfe werden Christen sich stets in Dialog und Zusammenarbeit mit anderen, auch mit Andersgläubigen und Atheisten, befinden und in der Freiheit von 1. Thessalonicher 5,21 von ihnen lernen, wie auch sonst in allen weltlichen Dingen, und sich mit ihnen verbünden, auch wenn viele aus anderen geistigen Voraussetzungen und mit anderen Interessen in diese Zusammenarbeit eintreten. Das Evangelium ersetzt nicht die vernünftige Diskussion und Argumentation, aber es gibt mir die Motivation, die Zielrichtung und die Kriterien für die in Frage kommenden Mittel und Methoden des politischen Kampfes.

2. Die immanenten Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft haben heute zu einer extremen Krisensituation geführt. Unser Wohlstand hat zu seiner Kehrseite das Elend der Dritten Welt und die psychische Verelendung bei uns. Die Fortschritte, die das kapitalistische Wirtschaftssystem wenigstens für uns in den Industrienationen gebracht hat, werden heute überwogen von den destruktiven Elementen dieses Systems.

  • Da ist der Widerspruch zwischen der Proklamierung gleicher Menschen- und Bürgerrechte und ihrer strukturellen Verweigerung durch die ungleiche Machtverteilung im Produktionssystem -,
  • der Widerspruch zwischen Verfügungsrecht über die Produktionsmittel, das die Menschen voneinander trennt, und der gemeinsamen Arbeit, die sie vereint -,
  • der Widerspruch zwischen den Industrienationen und den durch Kolonialismus und planetarische Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer eigenen Entwicklung aufgehaltenen Völker der Dritten Welt -,
  • der Widerspruch zwischen den übermächtigen Multis und den von den Regierungen zu wahrenden Interessen des Volkswohls -,
  • der Widerspruch zwischen der ungeheuerlichen Verschwendung von Energie und Ressourcen und deren irdischer Begrenztheit -,
  • der Widerspruch zwischen der proklamierten Demokratie und den demokratisch nicht kontrollierten Machtballungen in Wirtschaft, Bürokratie und im industriell-militärischen Komplex -,
  • der Widerspruch zwischen reich und arm, der - im Gegensatz zu den mit der kapitalistischen Entwicklung verbundenen früheren Hoffnungen - nicht ab-, sondern so zugenommen hat, dass es 1980 mehr Hungernde, mehr Analphabeten und eine größere Kluft zwischen Nord und Süd gibt als 1970.

Wir europäischen und nordamerikanischen Christen, wir hier zu dieser Synodaltagung Versammelten gehören heute zu den extrem Privilegierten in einem Weltsystem von extremen Privilegienunterschieden. Die Politik unserer Länder dient primär der Aufrechterhaltung unserer Privilegien. Dies wird uns von den Kirchen der Dritten Welt bitter vorgehalten. Das Bemühen, unsere Privilegien aufrechtzuerhalten, wird zu immer barbarischeren Kämpfen führen. Das Evangelium fragt uns täglich: Was macht ihr mit euren Privilegien, und wie steht ihr zu ihnen? Es geht um weltliche Dinge, aber bei ihnen geht es sehr wohl um den Glauben, nämlich um die Praxis, ohne die - eine unaufgebbare Erkenntnis des Pietismus - der Glaube nicht Glaube sein kann.

Am 4. Juli 1977, am Ende der Debatte in der Württembergischen Synode, die zur jetzigen Klausurtagung über "Christentum und Sozialismus" geführt hat, zitierte Landesbischof Claß gute Worte von Karl Heim: Die offizielle Kirchlichkeit "ruht wohl auf dem Grund der Gnade, aber diese ist für sie nur eine Ruhestellung, nicht ein Boden, auf den gestemmt sie an der Umgestaltung der Welt arbeitet. Warum hat das Christentum versagt an den beiden entscheidenden Wendepunkten der Neuzeit, beim Beginn der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und dem Weltkrieg? Beide Male hat das Christentum vorbildliche Werke des barmherzigen Samariters geübt, der Öl in die Wunden der Menschheit goss, die durch den Kapitalismus entrechtet oder durch den Krieg zerbrochen halbtot am Wege lag. Die Christen sind barmherzige Samariter gewesen, aber nicht Propheten der Gerechtigkeit, wie Jesaja, Hosea und Amos, die dem sozialen Elend und den politischen Missständen ihres Volkes an die Wurzel griffen". Aus diesen sehr wahren Worten von Karl Heim geht zum einen hervor, dass die für uns primäre Frage nicht die nach dem Verhältnis von "Christentum und Sozialismus" ist, sondern die nach dem Verhältnis von Christentum und Kapitalismus, die uns, die wir im kapitalistischen Privilegiensystem leben, auf den Nägeln brennen muss -, und zum anderen, dass auch unsere Einstellung zu "weltlichen Dingen" wie Kapitalismus und Sozialismus tief mit unserem Glauben zusammenhängt und von unserem Glauben in Frage gestellt wird oder unseren Glauben in Frage stellt.

Auf jener Synodaltagung hat der Synodale Dr. Maier zu meiner These, dass das Evangelium eine Tendenz zum Sozialismus (also zu einer von der Privilegienstruktur befreiten Gesellschaft) hin ist, die Folgerung gezogen: "Dann müsste sich jeder Christ fragen lassen, warum er nicht Sozialist ist! Eine Folgerung, die man offensichtlich nicht vollziehen kann." Ich meine dagegen freilich, diese Folgerung ziehen zu müssen. Aus den Worten von Karl Heim folgt, dass jeder Christ sich fragen und sich fragen lassen muss, mit welchen Gründen er es vor dem Evangelium verantworten kann, für die Aufrechterhaltung unseres Privilegiensystems und nicht für seine Aufhebung einzutreten. Sobald ich das Evangelium höre, nimmt es mir die Möglichkeit der Neutralität und drängt mich in die Richtung gegen unser Privilegiensystem, und ich meine, Nikolai Berdjajew hat recht mit seinem Worte: "Das leibliche Brot für mich ist für mich keine Heilsfrage, aber das leibliche Brot meines Bruders ist für mich eine Heilsfrage," - oder noch einfacher ausgedrückt in den Sprüchen Salomonis 21, 13: "Wer seine Ohren verstopft vor dem Schreien des Armen, der wird auch rufen und nicht erhört werden."

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, Mai 1980, 41. Jahrgang, S. 222ff.

Veröffentlicht am

29. Dezember 2008

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