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CSSR 1968: Neue Ideen schockieren die alte Garde

Der Prager Frühling war zukunftsweisend, auch wenn er in der internationalen Konstellation keine Chance hatte

Von Michael Jäger

Gab es vor 40 Jahren in der CSSR eine Erneuerung oder Erosion des Sozialismus? Der damalige KP-Chef Dubcek folgte dem Programm eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Seine Gegner - vor allem in der UdSSR, in Polen und der DDR - reagierten mit dem Vorwurf, die Reformer in Prag bewirkten in der CSSR den Wandel von einem sozialistischen zu einem bürgerlichen Staat.

Das war ein Anlauf, der die Möglichkeit eines noch unbekannten Kommunismus ahnen ließ: ökonomisch effizient, demokratischer als der Westen. So viel muss man erst einmal festhalten. Die Erinnerung sollte sich nicht auf das Ereignis "militärische Intervention von fünf Warschauer Pakt-Staaten" reduzieren. Es ist freilich wahr, der tschechoslowakische Weg konnte wegen der internationalen Konstellation nicht fortgesetzt werden. Empörend, wenn auch nicht überraschend trat der Einmarsch der sozialistischen Brüder dazwischen. Und was man gern vergisst: Auch der Westen bot kein günstiges Umfeld.

Die heutige Erinnerungskultur will meistens nur sehen, dass in der CSSR eine Verwestlichung eingesetzt habe, die von der Sowjetunion zertreten worden sei. Diese Entwicklung sei erst nach 1989 zum Zuge gekommen, doch habe sie bereits 1968 ihren Frühling gehabt. Ist das plausibel, wenn man bedenkt, wie massiv das Westliche gerade damals bezweifelt, ja verworfen wurde von den Studenten in Berkeley, Berlin, Paris und Rom, von so vielen führenden Intellektuellen, teilweise auch von Arbeitern? Und in Prag sollen sie danach gegiert haben? Das ist Nonsens. Man braucht nur daran zu denken, dass Ota Šik, 1968 der führende Reformökonom und Alexander Dubceks Stellvertreter, seine Konzepte nach 1989 noch einmal anbot, bei den neuen Machthabern aber nicht auf Gegenliebe stieß.

Die Reformideen, die Šik 1968 in die Debatte seiner Partei einspeiste, gingen im Grunde kaum über Vorstellungen hinaus, die ebenso in anderen Ostblockländern erörtert und teilweise auch umgesetzt wurden. Mehr Autonomie der Betriebe war hier wie überall der Ansatz. Es war nur Polemik, wenn die Sowjetunion Šik zum Konterrevolutionär stempelte. Bedrohlich fand sie etwas ganz anderes: dass die kommunistische Partei auf ihre Diktatur verzichten wollte, um die bloß hegemoniale, freiwillig geduldete Führung zu versuchen; dass ein Parteitag unmittelbar bevorstand, auf dem der neue Kurs unwiderruflich festgeschrieben worden wäre. Aber Šik und seine Freunde sagten damals nicht alles, was sie dachten. Er gab später selbst zu, dass er eigentlich auf einen richtigen Kapitalismus hinauswollte. Wiederum darf man diese Äußerung nicht aus ihrem Kontext reißen. Als Šiks Entwurf in den siebziger Jahren fertig ausgearbeitet war, sah er Betriebe vor, deren Arbeiter die kollektiven Kapitalisten gewesen wären, und eine staatliche Gesamtplanung durch den Einsatz marktkonformer Instrumente. Man wundert sich nicht, dass Šik nach 1990 die Entwicklung in China bewunderte, dort auch freudig empfangen wurde und Spuren seiner Inspiration hinterließ. Diese ging aber über das, was in China möglich war, weit hinaus. Šiks revolutionärster Gedanke war der, dass der Bevölkerung ökonomische Hauptfragen zur Wahlentscheidung vorgelegt werden müssten.

Das war die ökonomische Perspektive der Partei. Und was hatte sie politisch zu bieten? Die Idee einer bloß hegemonialen Führung scheint allerdings naiv, wenn man sie isoliert betrachtet. Die Partei der Sowjetunion unter Gorbatschow ist eben daran gescheitert, dass sie dasselbe später auch versuchte. Die chinesische Partei konnte dem Kommunismus eine mögliche Zukunft nur deshalb offen halten, weil sie, bei aller Radikalität der ökonomischen Reformen, am Prinzip ihrer Diktatur eisern festhielt. Es ist indessen klar, diese Methode zum Schutz einer kommunistischen Verfassung kann selbst in einer rückständigen Weltregion nur eine Übergangslösung, eigentlich nur das erzwungene Aufschieben einer Lösung sein. Im Westen wäre es undenkbar, dass ein in der Bevölkerung verankerter Kommunismus so auch nur beginnen könnte. Aber natürlich ist auch dies wahr: Ein demokratisch-kommunistischer Versuch wird immer wieder von feindlichen internationalen Kräften unterwühlt werden. Da reicht es nicht aus, auf die freiwillige Gefolgschaft des Volkes zu hoffen. Jedenfalls wenn es weiterhin nur eine Partei gibt.

Aber die Genossen hatten auch hier schon weitergedacht, ohne es laut zu sagen. Es gab bereits eine Gruppe von Spitzenfunktionären, die sich für ein zukünftiges Zwei-Parteien-System einsetzte. Sie hielten es für möglich, dass die Wähler beider Parteien die kommunistische Landesverfassung und auch den Warschauer Pakt auf Dauer bejahen würden. Nur so jedenfalls könne die Entartung der Macht verhindert werden. Wenn das die politische Perspektive der Partei war, durfte sie sich ganz ohne Naivität auf eine nur noch hegemoniale Führung vorbereiten. Denn auch im Westen funktioniert Hegemonie nicht anders. Und Wähler, die nicht zwischen kapitalistischen, sondern kommunistischen Parteien auswählen wollen, sind durchaus vorstellbar.

Im Grunde gab es die beiden Parteien 1968 ja schon. Was war das von dem kommunistischen Schriftsteller Ludvík Vaculík verfasste, von 69 Wissenschaftlern, Technikern, Künstlern, Arbeitern und Bauern unterzeichnete Manifest der 2000 Worte (s. Freitag 33/08), das bei der Rechtfertigung der Militärintervention eine so große Rolle spielte, anderes als das Gründungsdokument einer zweiten kommunistischen Partei? "Gute Wirtschaftler muss man suchen und durchsetzen", heißt es in ihm. In diesen Prozess könnten "die Arbeiter als Unternehmer" eingreifen, indem sie gut überlegten, "wen sie in die Verwaltungen der Unternehmen und in die Werksräte wählen". Das Manifest wurde jedoch nicht nur von der Sowjetunion, sondern von der tschechoslowakischen Partei selber als Ausdruck einer kleinbürgerlichen konterrevolutionären Strömung betrachtet. Die Dubcek-Partei war für die Konsequenzen ihres eigenen Ansatzes noch nicht reif.

Ein solcher Ansatz braucht eben Zeit, sich zu entfalten. Er ist daher auf günstige internationale Rahmenbedingungen angewiesen. Die gab es nicht. Es konnte sie gar nicht geben. Sie hätten ja darin bestehen müssen, dass entweder der ganze Ostblock den Ansatz militärisch abschirmte oder eine auf sich allein gestellte CSSR stark genug gewesen wäre, sich militärisch gegen den Rest der Welt zu verteidigen. Die letztere Bedingung ist heute in China gegeben. Doch selbst dort wurden die später von Ota Šik begrüßten Reformideen zunächst durch eine Art Militärintervention beantwortet. Mit dem Instrument der so genannten Kulturrevolution versuchte Mao sie im Keim zu ersticken. Jahrelang sah es so aus, als wären sie ad acta gelegt. So ist das eben: Mit neuen Ideen schockiert man die alte Garde. Das konnte im Warschauer Pakt nicht anders sein.

Was wäre aber passiert, wenn die Bruderstaaten es bei der Polemik hätten bewenden lassen? Konnte eine isolierte, nur ausgeschlossene, nicht unterworfene CSSR sich gegen den angrenzenden Westen behaupten? Natürlich wäre sie nicht militärisch angegriffen worden. Aber der Westen hätte sie in ökonomische Abhängigkeit gebracht. Diese Abhängigkeit wäre dazu benutzt worden, den demokratischen Kommunismus zu diskreditieren. Eine ihn tragende Zweidrittelmehrheit war seine Existenzbedingung: Sie hätte nicht lange Bestand gehabt. Das Land wäre in der Umarmung falscher Freunde erdrückt worden.

Wenn man das bedenkt, darf man nur nicht vergessen, dass wir vom Jahr 1968 reden, in dem der Westen selber mit innerem Widerstand kämpfte. Man schrieb den Januar, als Dubcek zum neuen Parteichef gekürt wurde. Im April veröffentlichte die Partei ihr neues Aktionsprogramm. Dann folgte der Pariser Mai. Bevor General de Gaulle den Widerstand der französischen Studenten und Arbeiter brach, konnten beide tschechoslowakischen Parteien - die offizielle unter Dubcek und die informelle der "2000 Worte" - noch darauf hoffen, dass gerade der Westen, weil er sich zu wandeln schien, ihrem Experiment beistehen würde. Freilich wurden die 2000 Worte erst im Juni verfasst, als die Bewegung - gesamteuropäisch betrachtet - schon wieder rückläufig war. Aber das stellt sich erst im Nachhinein so dar. Die Akteure konnten es nicht wissen. Der tschechoslowakische Weg war weder innen- noch außenpolitisch naiv. Obwohl er scheitern musste, war es realistisch, ihn zu versuchen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   34 vom 22.08.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

20. August 2008

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