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Nicht nur die Amerikaner brauchen eine Exit-Strategie

Im Gespräch: Der Sicherheitspolitiker Willy Wimmer (MdB/CDU) über Frontbegradigungen nach den US-Kongresswahlen und einen deutschen Austritt aus der militärischen Integration der NATO

FREITAG: Der NATO-Generalsekretär hat in dieser Woche die Bundesregierung aufgefordert, in Afghanistan die Bundeswehr auch im Süden einzusetzen, um die dort unter heftigem Druck stehenden ISAF-Verbände zu entlasten. Was denken Sie darüber?

WILLY WIMMER: Jaap de Hoop Scheffer versteht offenbar die aktuelle Entwicklung nicht. Es kann doch für das westliche Bündnis 50 Jahre nach Budapest nicht darum gehen, einen Volksaufstand im Süden Afghanistans niederzuschlagen. Auch scheint der NATO-Generalsekretär nicht zu übersehen, dass nach den amerikanischen Kongresswahlen eher eine Frontbegradigung für alle Krisengebiete ansteht, in denen die Vereinigten Staaten engagiert sind.

In der Sache selbst erliegt er gleichfalls einem Trugschluss, denn die Aktivitäten vorzugsweise angelsächsischer Truppen im Süden Afghanistans sind derzeit nur möglich, weil die Bundeswehr den Norden stabilisiert. Würden diese Einheiten in den Süden verlegt, könnte die Situation im gesamten Land komplett außer Kontrolle geraten. Die deutschen ISAF-Kontingente stehen in Regionen des Nordens, in denen sich die Bevölkerung vorzugsweise aus Tadschiken und Usbeken rekrutiert - allerdings mit großen paschtunischen Anteilen. Wollten wir nun anfangen, im Süden gegen die Paschtunen zu kämpfen, gerieten wir im Norden ganz schnell in ein Minenfeld, dessen Gefahren möglicherweise unser Vorstellungsvermögen übersteigen. Das kann de Hoop Scheffer nicht ernsthaft wollen.

FREITAG: Sie haben angedeutet, es könnte einen Wandel in der amerikanischen Irak-Strategie geben - wie könnte der aussehen?

WILLY WIMMER: Wenn man die Lage in Washington nüchtern analysiert, dann drängen sich zwei Überlegungen auf. Die erste: Wir geraten jetzt schon in eine grundsätzliche Auseinandersetzung, von denen die Präsidentschaftswahl in zwei Jahren geprägt sein wird. Die zweite lautet: Die Vereinigten Staaten haben seit Beginn der neunziger Jahre äußerst einseitig auf ihre militärischen Möglichkeiten gesetzt und politische Strategien, die einst ihre Stärke - wie die der westlichen Allianz überhaupt - waren, kategorisch beiseite geschoben. Mit diesem Kurs ist man erkennbar gescheitert. Das lässt sich nicht allein den Ankündigungen zur künftigen Irak-Strategie entnehmen. Gleiches gilt für Afghanistan. Man kann nur hoffen, die Korrekturen gelingen noch rechtzeitig und in einer Weise, dass ein Scheitern der Amerikaner auf ganzer Linie vermieden wird. Auch das meine ich mit Frontbegradigung, die nicht nur den NATO-Generalsekretär, sondern auch den deutschen Bundespräsidenten zur Vorsicht mahnen sollte.

FREITAG: Weil Horst Köhler mehr Unterstützung der Europäer für die USA im Irak fordert?

WILLY WIMMER: So ist es. Wir sollten uns hier nicht von Zwangsläufigkeiten vereinnahmen lassen, bevor wir uns über die Sinnhaftigkeit eines militärischen oder wie auch immer gearteten Einsatzes im klaren sind.

FREITAG: Würde nicht eine Exit-Strategie für den Irak bedeuten, dass die USA damit ihr Scheitern eingestehen?

WILLY WIMMER: Politisch sind sie längst gescheitert - ob mit oder ohne Exit-Strategie. Jetzt kann es nur noch darum gehen, einen Abzug zu organisieren, bei dem sich das Gesicht soweit als möglich wahren lässt und die Gesamtsituation zwischen Kabul und Beirut in Betracht gezogen wird. Nach meinem Eindruck wird derzeit auch mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt die amerikanische Außenpolitik einer Überprüfung unterzogen. Das ist gewissermaßen Teil der Frontbegradigung und - wie ich hoffe - ein Zeichen für die Rückkehr zur Politik.

FREITAG: Kehrseite dieser Frontbegradigung könnte der Wunsch der USA sein: Die NATO möge sich bei all diesen Konflikten stärker engagieren.

WILLY WIMMER: Es kann nicht sein, für eine verfehlte Politik jetzt das westliche Bündnis wie eine Art Fremdenlegion in Anspruch zu nehmen. Damit würde jene verhängnisvolle Politik fortgesetzt, wie sie mit dem NATO-Gipfel des Jahres 1998 in Lissabon eingeleitet wurde, als der Nordatlantikpakt als Verteidigungsbündnis quasi aufgebrochen und mit einem globalen Interventionsauftrag ausgestattet wurde. Ich hielt das immer für einen Kurs, der weder mit dem NATO-Statut noch mit der UN-Charta vereinbar ist.

FREITAG: Aber der NATO-Gipfel Ende November in Riga soll sich vornehmlich mit dem Wunsch der USA befassen, das amerikanische Sicherheitssystem im Pazifik stärker mit den Sicherheitsstrukturen der NATO zu verknüpfen.

WILLY WIMMER: Das wäre der Endpunkt einer Entwicklung, bei der sich die NATO immer mehr von ihrem ursprünglichen Auftrag und Vertragscharakter entfernt hat. Daran wäre besonders tragisch, dass ein solch gravierender Vorgang - wie schon bei den 1998 begonnenen Veränderungen - ohne Beteiligung, geschweige denn Zustimmung, der Parlamente in den Mitgliedsstaaten vonstatten ginge. Es wäre die Konsequenz der in Riga anstehenden Entscheidungen, dass die NATO den Charakter einer regionalen Sicherheitsorganisation im Vertragsbereich der Vereinten Nationen vollständig aufgibt. Da kann ich nur sagen: Unter diesen Umständen bleibt uns letztlich nichts weiter übrig, als aus der militärischen Integration der NATO auszusteigen, wenn wir nicht völlig die Maßstäbe einer rationalen und von den Interessen der Bundesrepublik Deutschland bestimmten Sicherheitspolitik aus dem Auge verlieren wollen.

FREITAG: Eine sehr weitgehende Forderung.

WILLY WIMMER: Ja.

FREITAG: Das hieße, die Bundesregierung sollte sich in Riga dem amerikanischen Ansinnen verweigern.

WILLY WIMMER: Genau so. Vor allem, weil die in Aussicht genommenen Partner im asiatischen Bereich - Südkorea, Japan, Australien und Neuseeland - natürlich mit Blick auf die pazifische Ausdehnung der NATO klare Vorstellungen haben, wie man das in Seoul und Tokio inzwischen zu hören bekommt: Nämlich den Einsatz der Bundeswehr im Konfliktfall auch in Asien. Dabei muss man sich nur die gespannte Lage auf der koreanischen Halbinsel oder an der Straße von Taiwan vor Augen halten, um zu wissen, in Konflikte welcher Dimensionen man damit geraten kann.

FREITAG: Auf welche Resonanz stoßen Sie derzeit mit Ihren Positionen in der Bundestagsfraktion von CDU/CSU?

WILLY WIMMER: Man muss ja immer in Rechnung stellen, dass es zunächst einmal auf die Wirksamkeit der eigenen Argumentation ankommt und auf die Begründung derselben. Es kann doch nicht angehen, dass ohne jede Beteiligung des Parlaments derart substanzielle Abkommen wie der NATO-Vertrag einfach verändert werden. Wenn wir dem nicht Einhalt gebieten, verlassen wir endgültig die Ebene des internationalen Rechts. Und ich denke, wir wissen doch durch die Ereignisse vor dem 1.September 1939 und während des Zweiten Weltkrieges zur Genüge: Das internationale Recht ist die letzte Chance, uns vor einem großen Krieg zu bewahren. Wenn ihn niemand will, muss das auch so deutlich ausgesprochen werden.

FREITAG: Wenn ich Sie richtig verstehe, setzen Sie alle Hoffnungen auf die parlamentarische Intervention.

WILLY WIMMER: Weil nur in den Parlamenten über die von mir beschriebenen Entwicklungen befunden werden sollte und nicht in irgendwelchen Hinterzimmern, in denen die amerikanischen Interessen der NATO definiert werden. Ich bin in dieser Hinsicht gegen jede Verletzung der Volkssouveränität. Wenn wir die Volkssouveränität missachten, müssen wir uns über die Ergebnisse nicht wundern.

Das Gespräch führte Lutz Herden

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   46 vom 17.11.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Veröffentlicht am

22. November 2006

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