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Die Zerstörung der Kindheit: Wie der Frosch im Milchglas

Ein Beitrag zur aktuellen Erziehungs- und Werte-Debatte

Von Götz Eisenberg

Turnusmäßig schrecken Nachrichten von vernachlässigten oder von ihren Eltern getöteten Kindern die Öffentlichkeit auf und setzen die Not Minderjähriger auf die Agenda. Die pflichtschuldige Empörung, die dabei jedes Mal laut wird, unterschlägt, dass in den vergangenen Jahrzehnten sich auch die so genannten “normalen” Kindheiten grundlegend verändert haben. Im folgenden Beitrag diskutiert der Gefängnispsychologe Götz Eisenberg, wie der Anpassungsdruck auf Kinder zunimmt und welche Folgen es hat, wenn ihnen die Voraussetzungen für ihre “psychische Geburt” genommen werden.

Viele Kindheiten sind heute überschattet vom Abbruch der Beziehungen, von emotionaler Unterernährung und einer medialen Verwahrlosung, die an die Praktiken der Kindsaussetzung erinnern. Immer mehr Kinder wirken hektisch, wie getrieben, und scheinen für Erzieher und Lehrer unerreichbar. Oft landen sie in einer Vorklasse, anschließend meist in einer Sonderschule. Sie beginnen die Schule zu schwänzen, treiben sich herum und begehen erste kleinere Regelverstöße und Delikte. Wenn auf ihr Verhalten, zunächst ein unbewusster Hilferuf, nur strafend und ausschließend reagiert wird, ist die Gefahr einer intensiven delinquenten Entwicklung groß.

In jüngster Zeit geraten die kindlich-jugendlichen Auffälligkeiten unter die Deutungshoheit der Medizin und werden mit dem Etikett “Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom”, in Kombination mit Hyperaktivität, kurz “ADHS”, versehen. Häufig geht ADHS mit einer “Störung des Sozialverhaltens” einher, aus der sich unter ungünstigen Bedingungen eine “dissoziale Persönlichkeitsstörung” entwickeln kann. Das hängt damit zusammen, dass die betreffenden Kinder wegen ihrer Auffälligkeiten stigmatisiert und in eine Außenseiterposition gedrängt werden. Eines Tages machen sie sich das negative Fremdbild zu eigen und schließen sich mit anderen Außenseitern zu Cliquen zusammen und beziehen ihre Anerkennung daraus, Ärgernis zu erregen und Verfolgung auf sich zu ziehen. Negative Anerkennung ist besser als gar keine.

Eine Frage der “Einstellung”

Vor mehr als 20 Jahren präsentierte die amerikanische Pharmaindustrie ein Therapeutikum gegen das “hyperkinetische Syndrom”: das Ritalin. Seine Einnahme soll dazu führen, dass unkonzentriert-auffällige Kinder sich so verhalten, wie von Eltern und Lehrern gewünscht. Die Ritalin-Produzenten waren die ersten, die mit Hochglanzbroschüren Ärzte, Lehrer und Psychologen darüber aufklärten, dass es eine neue kindliche Störung zu entdecken gebe, gegen die ein neues Wundermittel bereits bereitsteht.

Edward Shorters Geschichte der Psychiatrie (2003) ist zu entnehmen, dass dieses Verfahren keine Ausnahme darstellt. Es gibt immer mehr psychische Störungen, auf die man überhaupt erst aufmerksam wurde, nachdem irgendein Pharmakonzern behauptete, ein Medikament dagegen gefunden zu haben. Erst danach breitete sich die Störung epidemisch aus. Weil einerseits das Methylphenidat, das unter dem Namen Ritalin auf den Markt kam, nun einmal da war und seinem Hersteller Profit bringen sollte und es andererseits manchmal anstrengend ist, Jungen im Klassenzimmer zur Ruhe zu bringen, stürzte man sich auf die “Hyperaktivität” und begann, die Knabenpsyche zu pathologisieren. Dabei kann man, wie aus den gerade erschienenen Erinnerungen von Frank McCourt an seine Zeit als Lehrer an New Yorker Schulen (Tag und Nacht und auch im Sommer) zu lernen wäre, unruhigen und rebellischen Kindern durchaus auch ohne Pillen helfen und etwas beibringen. Der unbezahlbare Zaubertrank, den McCourt seinen Schülern verabreichte, heißt Begeisterung. Ohne Enthusiasmus und ein Moment der Faszination und persönlichen Übertragung hat produktives Lernen bei schwierigen Schülern keine Chance.

Die Biologisierung und Medikalisierung eines im Kern sozialen Phänomens konnte sich aber nur deshalb so flächendeckend durchsetzen, weil auch viele Eltern sich entlastet fühlen, wenn ihnen durch Fachleute vermittelt wird, dass die Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes auf einer Erkrankung des Gehirns beruhen und nicht das Resultat falscher Erziehung oder eines systematisch gestörten familiären Umfelds sind. “Aha, das ist es also! Unser Kind ist krank, es fehlen Botenstoffe im Gehirn.”

Normgerechtes Verhalten wird gegenwärtig zu einer Frage der “Einstellung” - auf das richtige Medikament und die richtige Dosis. Der Pharmaindustrie scheint im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess die Aufgabe zuzufallen, die Anpassung der Individuen an die Verhaltenszumutungen des “flexiblen Kapitalismus” (Richard Sennett) chemisch-pharmakologisch zu erleichtern und lästige Hemmungen und Hindernisse zu überwinden. Das als Kleinstunternehmen konzipierte Subjekt muss bei Strafe des Untergangs lernen, sein als Störfaktor auftretendes Seelenleben mittels Drogen und Medikamenten zu regulieren und auf Vordermann zu bringen. An die Stelle autonomer Ich-Leistungen oder verinnerlichter Selbstzwänge des Individuums tritt der Gang zum Arzt oder Apotheker.

Betrand Russel hat einmal gesagt: “Wo man in sozialen Belangen auf die Biologie zurückgreift, ist das ein Beweis dafür, dass das Denken aufhört.” Wir sollten also unser Hauptaugenmerk dem Umstand widmen, dass sich unsere Gesellschaft und Kultur in einer Weise gewandelt haben, die den Kindern nicht gut tut und ihre Menschwerdung auf neue Weise hintertreibt.

Schule der Flexibilität

Eine Ahnung davon, was sich gewandelt hat, bekommen wir, wenn wir in älteren pädagogischen Büchern blättern. In Hans Zulligers Buch Schwierige Kinder von 1951 stoßen wir auf den Satz: “Die Familie ist der Ruhepunkt für das Kind, dort erhält es seine Sicherheit, sie ist seine Heimat”.

In vielen heutigen Familien, auch solchen, die nach außen vollkommen intakt erscheinen, herrscht nach innen Gleichgültigkeit und Kälte, das bloße Nebeneinander von Einsamkeiten. Viele Eltern wissen selbst nicht mehr, was richtig und was falsch ist und woran sie sich in punkto Erziehung halten sollen. Aus Verunsicherung oder Bequemlichkeit ziehen sie sich aus der Erziehung zurück und überlassen ihre Kinder sich selbst. Man sperrt sie in Kinderzimmer, die überquellen von Spielzeug und elektronischem Gerät. Die Kinder sitzen so lange vor Bildschirmen, bis die Welt einen rechteckigen Rahmen für sie hat und ihre Innenwelt von fragwürdigen Computerspiel-Heroen bevölkert ist.

Die Kinder stürzen aus dem Mutterleib unvermittelt in die Welt des entfesselten Marktes und der elektronischen Medien, ohne dass der “Airbag Familie” diesen Aufprall abfedern würde. Die wild gewordene Weltzeit dringt in die Kinderzimmer und überlagert und zerstört die Zeitmaße, in denen einen Kind heranwächst. Das, was man als “psychische Geburt des Menschen” bezeichnet, ist ein komplizierter und höchst störanfälliger Prozess, dessen Gelingen von räumlicher und zeitlicher Konstanz und zuverlässigen emotionalen Bindungen abhängig ist.

Die Trennung der Eltern gehört im Leben heutiger Kinder und Jugendlicher fast schon zur Normalität. Die danach bei einem Elternteil verbliebenen Kinder erleben unter Umständen das mehrfache Auswechseln neuer Bezugsperson und lernen so zeitig, dass nichts von Dauer ist und es keinen Sinn hat, sich an irgendetwas oder irgendjemanden emotional zu binden. Das Kind trainiert die Fähigkeit, soziale Bindungen von Fall zu Fall lösen und sich auf permanent veränderte Situationen einzulassen, die im Kontext moderner Arbeitsverhältnisse auch durchaus erwünscht ist. Denn stabile Objektbeziehungen und kontinuierliche emotionale Bindungen hinterlassen bleibende Spuren im Subjekt, die sich als Sand im High-Tech-Getriebe erweisen und im “flexiblen Kapitalismus” hinderlich wirken.

Moralisches Ozonloch

Marxens Prognose, nach der der Kapitalismus sich als die Kraft der permanenten technisch-industriellen Revolution erweist, bestätigt sich also posthum. In seinem rastlosen Bestreben, seine Geld- und Kapitallogik auf alle Lebensbereiche auszudehnen, schreckt er auch vor der Zerstörung jener Teile der vorkapitalistischen Vergangenheit nicht zurück, die für seine eigene Entwicklung notwendig waren und sind. Er zerstört nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern auch die Formen, in denen “Kultur” sich die menschliche “Natur” angeeignet hat.

Ein gewisses Mindestmaß an familiärer Sozialisation, Stabilität und Verlässlichkeit von persönlichen Bindungen scheint unerlässlich zu sein, damit der Mensch seine “psychische Geburt” vollenden kann. Wird dies unterschritten, lösen sich auch jene Reste von Identität, jene leib-seelische Stabilität und Kontinuität auf, die auch für den Fortbestand der kapitalistischen Gesellschaft unabdingbar sind. Die Bindung der Libido an Objekte, der Erwerb von Symbolisierungs- und Sublimierungsfähigkeit sind Vorbedingungen eines jeden gesellschaftlichen Zusammenlebens, ja des Humanen selbst. Auch in Bezug auf die innere Natur des Menschen gibt es eine Schranke, die nur um den Preis einer Art von innerer ökologischer Krise überschritten werden darf. Sie tritt dann in Gestalt von psychischen und psychosomatischen Störungen, Drogenkonsum, Selbstverletzungen, Frühinvalidität und anderen “Dysfunktionen” wie ADHS zutage.

Heutige Familien sind also längst kein stabiler Heimathafen und Ruhepol mehr und bewahren Kinder vor gar nichts. Sie fungieren nicht länger als schützende und behütende Membran, sondern liefern die Kinder Erregungen aus, die ihren noch unfertigen Wahrnehmungsapparat überfordern. So werden wir in der um sich greifenden kindlichen Hyperaktivität den verzweifelten Versuch erkennen können, inmitten einer hektischen und diskontinuierlichen Welt Boden unter die Füße zu bekommen. Die kindliche Hyperaktivität scheint die manische Alternative zur Welt- und Beziehungsverweigerung des Autismus zu sein: Wie der ins Milchglas gefallene Frosch so lange strampelt, bis aus der Milch Butter geworden ist und er das Glas verlassen kann, zappeln diese Kinder in der vagen Hoffnung, dass jemand kommen und sie halten möge.

Eine Gesellschaft, die die Entstehungsbedingungen des Menschlichen ihren ökonomischen Funktionsimperativen opfert und es zulässt, dass auf die Kindheit der Kälteschatten von Elend, Indifferenz und Bindungslosigkeit fällt, darf sich nicht wundern, wenn ihrem unwirtlichen Schoß vermehrt psychisch frigide und moralisch verwilderte “Psychopathen” entspringen. Sie bekommt die Kinder und Jugendlichen, die sie verdient.

Das moralische Ozonloch, das sich über den Metropolen der Zivilisation ausbreitet, wird man durch Ethikkommissionen, Charakterkunde, Wertevermittlung und Familiengeld nicht stopfen und an der weiteren Ausbreitung hindern können. Das, was man “Werte” nennt, liefert nur das Libretto zu einer Melodie, die dem Kind in allerfrühester Zeit gesungen worden sein muss. Was an moralischen Traditionsbeständen und menschlichen Eigenschaften wie der Fähigkeit zu Empathie und Mitleid von der wertzynischen Motorik des Geldes und des Konsums zerrieben wurde und wird, scheint unwiderruflich verloren und lässt sich synthetisch nicht nachproduzieren.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   43 vom 27.10.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

01. November 2006

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