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In Deutschland nie?

Im Gespräch: Henrik Paulitz, deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), über die mangelnde Sicherheit deutscher Atomkraftwerke

FREITAG: Hätte es im schwedischen Forsmark zum GAU kommen können?

Henrik Paulitz: Es gibt in Atomkraftwerken abgestufte Sicherheitssysteme; je mehr solcher Systeme ausfallen, desto wahrscheinlicher wird eine Kernschmelze. In Forsmark ist dieser Prozess sehr weit vorangeschritten, bis hin zum teilweisen Ausfall der Notstromdiesel und der sogenannten unterbrechungslosen Gleichstromversorgung. Das sind objektive Kriterien für eine erhebliche Gefahrenlage.

FREITAG: Die Länder und der Bundesumweltminister haben in ersten Stellungnahmen abgewiegelt: Die Schaltpläne deutscher Notstromsysteme seien mit denen in Schweden nicht zu vergleichen. Ist das wahr?

Henrik Paulitz: Grundsätzlich sind die westlichen Atomkraftwerke sehr stark vergleichbar. Im Detail gibt es Unterschiede, aber selbst die Länderministerien, wenn man ihre Stellungnahme genau liest, haben nur eine “enge”, nicht aber eine ähnliche Übertragbarkeit der schwedischen Störfallsituation auf deutsche Anlagen ausgeschlossen. Denn selbstverständlich sind auch in Deutschland Ausfälle der Notstromversorgung möglich, und es hat beispielsweise in Biblis auch schon Ausfälle der unterbrechungslosen Gleichstromversorgung gegeben. Sobald es dann noch zur ungünstigen Verkettung von Fehlerereignissen kommt, kann das System komplett zusammenbrechen.

FREITAG: Manche sagen: Und wenn schon. Es gibt die Behauptung, eine neue Generation der Druck- und Siedewasserreaktoren werde in der Lage sein, die Auswirkungen einer Kernschmelze auf das Reaktorgebäude zu beschränken.

Henrik Paulitz: Das ist nur eine Behauptung. Die Kernschmelze soll in eine Ausbreitungsfläche fließen; aber sie müsste ja gekühlt werden. Experimente im Kernforschungszentrum Karlsruhe haben nun ergeben, dass es beim Kontakt zwischen metallischen Schmelzen und Kühlwasser zu Explosionen kommt. Wiederholt wurden die massiven Experimentieranlagen zerstört, einmal wurde eine mehrere Tonnen schwere Einrichtung gegen das Hallendach geschleudert. Niemand weiß, wie man solche Dampfexplosionen sicher ausschließt. Kommt es aber dazu, kann das Containment auf Grund des Überdrucks platzen.

FREITAG: Ist auch die Zunahme der Unwetter ein Gefahrenfaktor?

Henrik Paulitz: Verschiedene Unwettereinflüsse, seien es Blitzschläge, seien es Stürme, seien es Schneelasten, die Strommasten zu Fall bringen, können dazu führen, dass Stromleitungen aneinander geraten, was dann zum Kurzschluss führt. Es kommt zur Über- oder Unterspannung, also zu Spannungsschwankungen, die sich in die Sicherheitssysteme der Atomkraftwerke hinein fortsetzen können. Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit hat schon 1992 vor ihnen gewarnt. Im Werk Gundremmingen A kam es 1977 zum Totalschaden allein deshalb, weil es einen Kälteeinbruch gab und offenbar auch einen Blitzschlag. Die Anlage wurde stillgelegt. Das Problem der Spannungsschwankungen ist auch nach Einschätzung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit bis heute ungelöst. Dazu kommt noch, dass ein Blitz nicht dem anderen gleicht und ein zuverlässiger Blitzschutz überhaupt nicht machbar ist. Wenn sich das Wetter weiter verschlechtert, hat das also tatsächlich Folgen. Aber wie Forsmark wieder zeigt, ist das Wetter nicht die einzige Quelle von Kurzschlüssen. Explosionen in elektrischen Einrichtungen außerhalb oder innerhalb von Kraftwerken, ja auch Fehler bei Wartungsarbeiten haben in der Vergangenheit immer wieder zu gefährlichen Kurzschlüssen geführt.

FREITAG: Wartungsarbeiten? Die dienen doch der Beseitigung von Fehlern.

Henrik Paulitz: Wir sehen hier eine der größten Gefahren überhaupt. Bei der Prüfung, Planung, Montage und Reparatur von sicherheitstechnischen Komponenten sind Fehler möglich, die alle Teilsysteme eines Sicherheitssystems erfassen können. Menschliche Fehler können gravierende Folgen haben. In Neckarwestheim hat Siemens 1998 im Bereich des Schnellabschaltsystems eine digitale Leittechnik nachgerüstet - in Rekordzeit, wie sich Siemens rühmte. Im Jahr 2000 war die in aller Eile eingebaute Technik schuld daran, dass Teile des Schnellabschaltsystems blockiert waren.

FREITAG: Kann man nicht davon ausgehen, dass die Betreiber das Menschenmögliche tun, um Wartungsarbeiten auf die sicherste und perfekteste Weise durchführen zu lassen?

Henrik Paulitz: Es werden Hilfskräfte und Leiharbeitskräfte eingesetzt, selbst bei Prüfungen und Reparaturen von sicherheitstechnisch zentral wichtigen Einrichtungen, und die Leute werden teilweise überfordert. Manche, mit denen wir Kontakt haben, wurden an Arbeiten beteiligt, für die sie formal nicht qualifiziert waren. Dass wir hier das höchste Sicherheitsniveau hätten, dass der TÜV allzeit vor Ort wäre und die Behörden stets alles überprüfen könnten, das hat mit der Realität in Deutschland nichts zu tun. Es gibt Zeitdruck, Hetze, Planungsfehler, Montagefehler, Prüffehler und ein Personal, das zum Teil in Zehn-Stunden-Schichten oder gar länger eingesetzt wird. Manche sicherheitstechnisch wichtigen Reparaturen und Prüfungen werden offenbar auch gezielt verzögert - eine Folge so genannter neuer Instandhaltskonzepte, die vor Jahren eingeführt wurden. Durch die Verzögerung gelingt es, die Zeit und damit die Kosten der Jahresrevision möglichst gering zu halten.

FREITAG: Stehen denn die Betreiber unter Kostendruck?

Henrik Paulitz: Ja, im Zuge der Liberalisierung der Energiemärkte. Siemens zum Beispiel rühmte sich, man habe es in Neckarwestheim geschafft, die Revisionszeit von 33 auf 17 Tage zu reduzieren. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass schon das Herunterfahren und wieder Hochfahren der Anlage am Anfang und Ende der Revision Zeit kostet, bleiben letztlich vielleicht zehn Tage für Wartungsarbeiten.

FREITAG: Diese “neuen Instandhaltungskonzepte” waren doch auch zur Zeit der rot-grünen Koalition ein Thema. Hat Jürgen Trittin einfach zugeschaut?

Henrik Paulitz: Wir haben die Thematik dem damaligen Bundesumweltminister vorgetragen und um gesetzliche oder aufsichtsrechtliche Maßnahmen nachdrücklich gebeten. In der Antwort wurde uns bestätigt, dass die Verkürzung der Revisionszeit auch nach Einschätzung des Ministeriums aus Kostengründen erfolgt war. Trittin blieb aber untätig. Er hat sich explizit geweigert, beispielsweise die Zehn-Stunden-Schichten gesetzlich auszuschließen.

FREITAG: Mit welcher Begründung?

Henrik Paulitz: Mit gar keiner Begründung.

FREITAG: Einmal abgesehen davon, dass der Atomausstieg beschleunigt werden müsste, wie das auch der jetzige Bundesumweltminister Gabriel fordert: Was muss Ihrer Meinung nach sofort geschehen?

Henrik Paulitz: Unsere Forderung an die Politik ist, dass man die Zeit für Wartungsarbeiten auf mindestens zwei Monate pro Jahr gesetzlich festschreibt.

Das Gespräch führte Michael Jäger

Quelle: Freitag - Die Ost-West-Wochenzeitung 33 vom 18.08.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Michael Jäger und des Verlags.

Veröffentlicht am

18. August 2006

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