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Wie können wir einfach nur abwarten und zulassen, dass es so weitergeht?

Von Robert Fisk - The Independent / ZNet 01.08.2006

Die Namen der toten Kinder stehen auf ihren Plastikleichentüchern. “Mehdi Hashem, 7 Jahre - Kana” steht mit Filzstift auf dem Plastiksack mit dem Körper des kleinen Jungen. “Hussein al-Mohamed, 12 Jahre - Kana”, “Abbas al-Shalhoub, 1 Jahr - Kana”. Ein libanesischer Soldat hebt den kleinen Leib hoch. Er wippt ihm gegen die Schulter - so, wie der kleine Junge wahrscheinlich am Samstag an der Schulter seines Vaters gewippt hat. Insgesamt wurden 56 Leichen in das Regierungskrankenhaus von Tyrus und in andere Chirurgien gebracht, 34 davon sind Kinder. Als die Plastiksäcke zur Neige gingen, hatte man die kleinen toten Körper in Teppiche gewickelt. Ihre Haare sind voller Staub, den meisten rinnt Blut aus der Nase.

Man muss ein Herz aus Stein haben, um unsere Empörung nicht zu begreifen - die Empörung, die wir fühlten, als wir das hier gestern sahen. Dieses Abschlachten ist eine Obszönität, ein Gräuel, und sollte die israelische Luftwaffe wirklich so “punktgenau” bomben können, wie sie behauptet, überdies ein Kriegsverbrechen. Israel sagt: Schützen der Hisbollah haben aus der südlibanesischen Kleinstadt Kana Raketen abgefeuert - als ob dies ein solches Massaker rechtfertigen könnte. Israels Premierminister Ehud Olmert sprach von “muslimischem Terror”, der die “westliche Zivilisation” bedrohe - als hätte Hisbollah all diese armen Menschen umgebracht.

Ausgerechnet Kana. Vor 10 Jahren ereignete sich hier schon einmal ein israelisches Massaker: 106 libanesische Flüchtlinge hingeschlachtet durch eine israelische Artilleriebatterie, Menschen, die in einer UNO-Basis in Kana Zuflucht gesucht hatten. Mehr als die Hälfte der 106 Toten waren Kinder. Später behauptete Israel, man verfüge über keinerlei Live-Fotoaufnahmen durch Aufklärungsdrohnen vom Ort des tödlichen Geschehens - eine Aussage, die sich als falsch erwies. The Independent fand ein Videoband, auf dem exakt eine solche Drohne über dem brennenden Camp zu sehen ist. Scheint fast so, als ob Kana - das Dorf, in dem, laut dessen Bewohnern, Jesus Wasser in Wein verwandelte -, von der Welt verdammt sei und schicksalhaft auf ewig Schauplatz von Tragödien.

Über die Herkunft der Rakete, die gestern all diese Kinder tötete, kann es keine Zweifel geben. Sie stammt aus den USA. Auf einem ihrer Trümmerfragmente steht: ‘For use on MK-84 Guided Bomb BSU-37-B”. Kein Wunder, dass die Firma behauptet, ihre Rakete sei “kampferprobt”: Sie hat das dreistöckige Gebäude, in dem die Shalhoub- und die Hashim-Familie wohnten, komplett zerstört. Die Menschen waren vor dem massiven israelischen Bombardement ins Untergeschoss geflüchtet - wo die meisten der Opfer starben.

Ich finde Nejwah Shalhoub im Regierungshospital von Tyrus. Ihr Kiefer und ihr Gesicht sind so bandagiert, dass sie aussieht, wie Robespierre kurz vor seiner Hinrichtung. Sie weint nicht, sie schreit nicht - obgleich ihr die Schmerzen ins Gesicht geschrieben stehen. Ihr 46jähriger Bruder Taisir wurde getötet, ebenso ihre Schwester Najla und die kleine Nichte Zeinab, die erst 6 war. “Wir versteckten uns im Untergeschoss, als gegen 1 Uhr morgens die Bombe explodierte. Was, in Gottes Namen, haben wir getan, um das zu verdienen? So viele der Toten sind Kinder, Alte, Frauen. Einige Kinder waren noch wach und haben gespielt. Warum tut uns die Welt das an?” Mit den Toten von gestern liegt die Zahl der getöteten Zivilisten im Libanon insgesamt bei mehr als 500 - seit dem 12. Juli, dem Beginn des israelischen Luft- und Seebombardements auf Libanon, das begann, nachdem Mitglieder der Hisbollah den Grenzzaun überwunden hatten, drei israelische Soldaten getötet und zwei verschleppt. Das Massaker von gestern beendete einen mehr als einjährigen Streit innerhalb der libanesischen Regierung, denn sowohl pro-syrische als auch pro-amerikanische Politiker verurteilen das “schmutzige Verbrechen”.

Tausende Demonstranten griffen das größte Gebäude der UNO in Beirut an. “Zerstört Tel Aviv, zerstört Tel Aviv”, riefen sie. Der libanesische Ministerpräsident Fouad Siniora, normalerweise ein stoischer Mann, telefonierte mit der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice und befahl ihr, den bevorstehenden Friedenstrip nach Beirut abzusagen.

Niemand hier im Libanon hat vergessen, dass Präsident George Bush, Mrs. Rice und Tony Blair sich weigerten, den sofortigen Waffenstillstand zu fordern. Mit einer solchen Waffenruhe wären die gestrigen Toten alle noch am Leben. “Wir wollen einen Waffenstillstand sobald als möglich”, hatte es von Mrs. Rice nur geheißen. Kurz darauf hieß es aus Israel, man werde die Bombardierung des Libanon noch mindestens zwei Wochen fortsetzen.

Den ganzen Tag über gruben Dorfbewohner und Katastrophenhelfer in Kana mit Spaten und bloßen Händen in den Trümmern des Gebäudes. Am Schutt zerrend fanden sie eine Leiche nach der andern - noch in ihren bunten Kleidern. In einem bestimmten Schuttbereich wurden 18 Leichen in einem einzigen Raum entdeckt, zwölf von ihnen Frauen. Szenen wie diese ereignen sich derzeit überall im Libanon - vielleicht nicht so grotesk verheerend, doch nicht weniger furchtbar.

In den Dörfern haben die Menschen Angst zu fliehen und Angst zu bleiben. Über Kana hatten die Israelis Flugblätter abgeworfen, in denen die Bewohner aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen. Seit die Angriffe begannen, kam es jedoch zweimal vor, dass Dorfbewohner durch die Israelis zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert wurden und dann aus der Luft angegriffen - während sie die israelische Anordnung befolgten und flüchteten. Mindestens 3.000 Schiiten sitzen in den Dörfern zwischen Qlaya und Aiteroun noch immer in der Falle, Orte, die nicht weit von Bint Jbeil liegen - wo die Israelis zuletzt militärisch eingedrungen waren. Keiner kann fliehen - ohne die Angst, unterwegs auf der Straße den Tod zu finden.

Und Mr. Olmerts Reaktion? Nachdem er seine “große Trauer” zum Ausdruck gebracht hat, verkündet er: “Wir werden den Kampf nicht beenden, trotz der schwierigen Vorfälle (!) an diesem Morgen. Wir werden die Aktivität fortsetzen und sie, falls nötig, ohne zu zögern ausweiten”. Aber wie weit kann man sie noch ausweiten? Die Infrastruktur des Libanon wird immer mehr in Stücke gerissen, die libanesischen Dörfer eingeebnet, die Menschen zunehmend terrorisiert. ‘Terror’ ist das Wort, das sie gebrauchen - Terror, durch israelische Kampfbomber made in USA. Die Raketen der Hisbollah wurden im Iran produziert. Die Hisbollah hat diesen Krieg angefangen - mit ihrem provokativen, illegalen Überfall jenseits der Grenze. Doch die Brutalität der Israelis gegenüber der Zivilbevölkerung ist nicht nur für die westlichen Diplomaten, die in Beirut blieben, zutiefst schockierend. Sie schockt auch Hunderte humanitärer Mitarbeiter des Roten Kreuzes und der anderen großen Hilfsorganisationen.

Es ist unfassbar. Gestern versagte Israel einem Hilfskonvoi des UN World Food Programme die sichere Passage en route Richtung Süden. Der Konvoi sollte aus 6 Lastwagen mit Hilfslieferungen für die Stadt Marjayoun im Südosten des Libanon bestehen. Mehr als dreiviertel von 1 Million Libanesen sind mittlerweile aus ihren Häusern geflohen. Wieviele noch im Süden des Landes in der Falle sitzen, darüber gibt es keine genauen Zahlen. Khalil Shalhoub hat überlebt - inmitten der Trümmer von Kana. Er erzählt, seine Familie und die Hashim-Familie waren zu “terrorisiert”, um das Dorf en route zu verlassen, denn die Straße liege seit mehr als zwei Wochen unter Flugzeugbeschuss. Auf der Straße zwischen Kana und Tyrus - 7 Meilen - liegen überall Trümmer von Privathäusern und ausgebrannte Familienautos. Am Donnerstag teilte das israelische Armeeradio Al-Mashriq - ein Sender, der in den Südlibanon hineinsendet - den Einwohnern mit, man werde ihre Dörfer “völlig zerstören”, sollten von dort Raketen abgefeuert werden. Aber wer das israelische Bombardement in den vergangenen zwei Wochen mitverfolgt hat, wird feststellen, dass die Israelis oft gar nicht wissen, von wo die Hisbollah ihre Raketen abfeuert. Sollten sie es doch herausfinden, kommt es häufig zu Fehlbeschuss. Außerdem, wie sollte ein Dorfbewohner die Hisbollah wohl davon abhalten können, von der Straße zu feuern? Stimmt, die Hisbollah sucht Deckung neben zivilen Häusern (so, wie letzte Woche israelische Truppen in Bint Jbeil, auch sie haben zivile Häuser als Deckung benutzt). Aber ist damit ein Massaker dieser Größenordnung zu rechtfertigen?

Premierminister Siniora sprach gestern zu ausländischen Diplomaten in Beirut. Die Beiruter Regierung sei nicht länger an einem diplomatischen Paket interessiert, sondern nur noch an einem sofortigen Waffenstillstand ohne Zusatzpaket. Braucht nicht extra betont zu werden, dass Jeffrey Feltman, dessen Land die Bombe produziert hat, die gestern in Kana so viele Unschuldigen tötete, es vorzog, dieser Veranstaltung fernzubleiben.

Quelle: ZNet Deutschland vom 06.08.2006. Übersetzt von: Andrea Noll. Originalartikel: How Can We Stand By And Allow This To Go On?  

Veröffentlicht am

07. August 2006

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