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Langzeitfolgen von Tschernobyl: Büchse der Pandora

Belarus war vom radioaktiven Niederschlag am stärksten betroffen - der entstandene Schaden liegt bei 32 Nationalbudgets

Von Wladimir Ulachowitsch

Tschernobyl ist ein Wort, das sehr viele allzu gern vergessen möchten. Aber wie UN-Generalsekretär Kofi Annan jüngst bemerkte, öffnete die Explosion des Atomreaktors im April 1986 die mit unsichtbaren Feinden und unbekannten Gefahren angefüllte Büchse der Pandora.

Bekanntlich geriet der Reaktor des AKW Tschernobyl am 26. April 1986 in einen "vorkritischen Zustand". Die diensthabende Besatzung aktivierte zwar sofort die als effektivstes Schutzsystem geltende Variante AZ-5, konnte jedoch nicht verhindern, dass es innerhalb kurzer Zeit zu zwei schweren Detonationen kam, die Millionen Menschen zum Verhängnis wurden. Die internationale Beratergruppe für nukleare Sicherheit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) zog schon bald ihr Fazit, das "Fehlen einer Sicherheitskultur" sei die Hauptursache der Katastrophe gewesen. Ein Terminus, der weit mehr umfasste, als sich nur auf die "Betriebsart eines Kernreaktors" zu beziehen, schloss er doch alle sicherheitsrelevanten Tätigkeiten, inklusive der Verantwortung von politischer Legislative und Exekutive, ein.

Um die Folgen der Havarie zu beseitigen, wurden allein für die Säuberung des AKW-Geländes und der 30-Kilometer-Schutzzone 650.000, später als "Liquidatoren" bezeichnete Hilfskräfte eingesetzt. Leider waren die meisten von ihnen nie professionell auf eine solche Arbeit unter Extrembedingungen vorbereitet worden - von der Strahlenbelastung, der sie ausgesetzt waren, ganz zu schweigen. Nicht zuletzt deshalb erschütterte Tschernobyl seinerzeit die Welt, auch wenn sich 20 Jahre danach das Verhältnis zum Ereignis selbst spürbar verändert hat. Emotionale Wertungen sind rationalerem Urteilen gewichen. Zuweilen wird in der Ukraine oder in Belarus gar das Bestreben spürbar, Tschernobyl ganz aus dem Gedächtnis zu streichen und dem Desaster keine Bedeutung mehr einzuräumen.

Dabei gibt es viele Gründe, der Tragödie zu gedenken. Sollten wir Tschernobyl wirklich vergessen, könnte dies eines Tages noch ernsthaftere technologische und ökologische Havarien zur Folge haben. Schließlich bleibt das Inferno von 1986 auch nach zwei Jahrzehnten Millionen Menschen - den unmittelbar Betroffenen nämlich - in steter Erinnerung. Die Regierungen Weißrusslands und der Ukraine geben nach wie vor einen wesentlichen Teil ihrer Budgets dafür aus, das Leid der Opfer zu lindern - auch wenn angesichts der ökonomischen Verhältnisse die eingesetzten Mittel nicht ausreichen. Daher wurde 2003 in Belarus auf Initiative der Vereinten Nationen das Programm "Zusammenarbeit für Rehabilitierung" (CORE) gestartet, das in höchst innovativer Weise all jenen dient, die in der kontaminierten Region leben. Bis Ende 2005 wurden insgesamt 105 CORE-Projekte mit einem Gesamtbudget von 8,1 Millionen Euro genehmigt, um der betroffenen Bevölkerung sozialen Schutz zu geben und - oft übersehen - ihr historisch-kulturelles Erbe zu wahren.

Belarus verzeichnete nach jenem 26. April 1986 den höchsten Kontaminierungsgrad aller betroffenen Sowjetrepubliken. 110.000 Menschen mussten sofort umgesiedelt werden, ein Fünftel der Wälder blieb verseucht, gleichermaßen 6.000 Quadratkilometer landwirtschaftlicher Nutzfläche. Neun Prozent des belarussischen Staatshaushalts werden trotz des internationalen Beistands bis heute eingesetzt, um diesen Verheerungen zu begegnen. Nach vorsichtiger Schätzung liegt der Belarus entstandene Schaden bei 32 Nationalbudgets oder 235 Milliarden Dollar. Es wurden etwa 300 Industrieobjekte und 54 Agrar-Betriebe liquidiert, 95 Hospitäler, 600 Schulen oder Kindergärten geschlossen werden. Hinter diesen Zahlen steht das Schicksal Hunderttausender.

Unzureichende Informationen nach dem Störfall über die Langzeitfolgen radioaktiver Strahlung, eine Atmosphäre des Misstrauens wie unvermeidliche Gerüchte über verheerende genetische Mutationen haben dazu geführt, dass Millionen Menschen mehr an psychologischen Traumata als realen Gebrechen leiden. Sie begleiten noch immer ein Gefühl des Verlustes von eigener Sicherheit und der ihrer Kinder. Dabei wird Realität durch Mythen ersetzt, der Hang dazu durch sozialökonomische Probleme verstärkt, die sowohl von der Havarie selbst als auch durch Maßnahmen wie Umsiedlung und den Verzicht auf das gewohnte soziale Milieu verursacht wurden. Viele Weißrussen neigen dazu, alle Nöte und Konflikte mit der Havarie zu erklären, so dass soziale Passivität, Verantwortungslosigkeit, Alkoholismus und antisoziales Verhalten die Folgen sind. Es herrscht die Versuchung vor, alle Sorgen an gemeinnützige oder staatliche Strukturen zu delegieren.

Welche Lehren sollten 20 Jahre später aus diesem Unglück gezogen werden? Die erste und wichtigste besteht zweifellos darin, immer wieder damit zu rechnen, dass eine solche Havarie eintreten kann. Bei ihrem Versuch, internationale Finanzhilfe für die Tschernobylopfer einzuwerben, erfuhren Belarus, die Ukraine und teilweise auch Russland, dass diese Katastrophe keinem Kriterium internationaler Bedürftigkeit völlig entspricht. Noch 2005 erhielt Belarus unentgeltliche Finanzhilfen von 70,1 Millionen Dollar (2004 - 74,7 Millionen) aus 101 Staaten sowie aus nichtstaatlichen und anonymen Quellen Spenden in recht unterschiedlichem Maße. Wichtigste Geberländer waren die USA mit 17,9 Millionen Dollar (oder 25,6 Prozent), Deutschland mit 14,9 Millionen (21,4 Prozent), die Schweiz mit 8,3 Millionen (11,9 Prozent) und Irland mit vier Millionen Dollar (5,7 Prozent) sowie Russland mit 3,1 Millionen (4,4 Prozent).

Eine weitere Lehre bezieht sich auf die Präzision von Informationen, da sich die wissenschaftlich begründeten Prognosen über Strahlungsgefahren und Gesundheitsrisiken stark von den Vorstellungen unterscheiden, die sich zunächst - nach Tschernobyl - auf empirischer Basis verfestigt hatten. Bereits ein Jahr nach dem Unfall gingen führende Spezialisten aus verschiedenen Ländern von nur noch beschränkten Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung und die Natur aus - dies wurde in den Folgejahren in wachsendem Maße durch Faktenmaterial bestätigt.

20 Jahre Tschernobyl-Forschung haben gezeigt, die gravierendsten Folgen der Havarie waren nicht radiologischer, sondern sozialökonomischer Natur. Auch darum wurde der "Ernstfall Tschernobyl" zur wichtigsten Waffe einer globalen ökologischen Bewegung im Kampf gegen die Kernenergie. Der Kampagne waren beachtliche Erfolge beschieden, obwohl zwischenzeitlich Argumente wieder mehr Gehör finden, nach denen die Atomenergie die Umwelt weniger gefährde als der Gebrauch fossiler Brennstoffe und die Furcht vor radioaktiver Strahlung nur das Resultat von Nichtwissen sei.

Der Autor ist Direktor des Zentrums für Internationale Wissenschaftliche Studien (CENTIS) in Minsk.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 16 vom 21.04.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

Veröffentlicht am

26. April 2006

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