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Amerikas neuer Feind im Aufstieg

Von John Pilger - New Statesman / ZNet 11.11.2005

Ich stieg in Paradiso aus, dem letzten Mittelstandsgebiet vor dem hispanischen Wohnviertel La Vega, das sich wie durch die Kraft der Gravitation in eine Schlucht ergießt. Es waren Stürme vorhergesagt, und die Leute waren nervös, weil sie sich an die Schlammlawinen erinnerten, die 20.000 Menschen das Leben gekostet hatten. “Warum sind Sie hier?” fragte der Mann, der mir in dem vollbepackten Jeep auf dem Weg den Hügel hinauf gegenüber saß. Wie so viele andere in Lateinamerika schien er älter zu sein, als er war. Ohne auf meine Antwort zu warten, zählte er die Gründe auf, weshalb er den Präsidenten Chavez unterstützte: Schulen, Kliniken, erschwingliche Lebensmittel, “unsere Konstitution, unsere Demokratie” und “zum erstenmal geht das Ölgeld an uns”. Ich fragte ihn, ob er der MRV angehöre, Chavez’ Partei, “nein, ich war noch nie einer politischen Partei; ich kann Ihnen nur erzählen, wie mein Leben verändert wurde, so wie ich es mir nie erträumt hätte.”

Es ist dieser reine Augenzeugenbericht, den ich in Venezuela immer wieder gehört habe, der den einseitigen Spiegel zwischen dem Westen und einem im Aufstieg befindlichen Kontinent zum Bersten bringt. Mit Aufstieg meine ich das Phänomen von Millionen von Menschen, die wieder einmal in Bewegung sind, “wie Löwen nach dem Schlaf/unüberwindbar in Zahl”, schrieb der Dichter Shelley in Die Maske der Anarchie. Das hat nichts mit Romantik zu tun; ein Epos entfaltet sich in Lateinamerika, welches unsere Aufmerksamkeit fordert, jenseits von den Sterotypen und Clichés, die ganze Gesellschaften auf ihren Grad an Ausbeutbarkeit und Ersetzbarkeit reduzieren.

Für den Mann im Bus und für Beatrice, deren Kinder geimpft werden und zum erstenmal in Geschichte, Kunst und Musik unterrichtet werden, und Celedonia, in ihren Siebzigern, die zum erstenmal Lesen und Schreiben lernt, und Jose, dessen Leben mitten in der Nacht von einem Arzt gerettet wurde, dem ersten Arzt, den er je gesehen hatte, ist Hugo Chavez weder ein “Heißsporn” noch ein “Autokrat”, sondern ein Menschenfreund und Demokrat, der fast zwei Drittel der Stimmen besitzt und sich durch nicht weniger als neun Wahlsiege akkreditiert hat, im Vergleich zu einem Fünftel der britischen Wähler, die Blair wieder eingesetzt haben, einen echten Autokraten.

Chavez und der Zuwachs der sozialen Volksbewegungen von Colombia bis hinunter nach Argentinien steht für unblutige, radikale Veränderung, die sich durch den ganzen Kontinent zieht; inspiriert durch die großen Unabhängigkeitskämpfe, die mit Simon Bolivar begannen, der in Venezuela geboren wurde und die Gedanken der Französischen Revolution in Gesellschaften trug, die durch den spanischen Absolutismus unterdrückt wurden. Bolivar, wie Che Guevara in den 60er Jahren und Chavez heute, verstand den neuen Kolonialherren im Norden. “Die USA”, sagte er 1819, “scheinen vom Schicksal dazu bestimmt, Amerika im Namen der Freiheit mit Unglück zu plagen.”

Beim Gipfeltreffen von Nord-, Süd- und Mittelamerika in Quebec 2001 verkündete George W. Bush die letzte Plage im Namen der Freiheit in Form eines Freihandelszonenabkommens für Amerika. Dieses würde den Vereinigten Staaten erlauben, ihren ideologischen “Markt”, Neo-Liberalismus, endlich allen lateinamerikanischen Ländern aufzupfropfen. Es war der natürliche Nachfolger zu Bill Clinton’s nordamerikanischem Freihandelsabkommen, das Mexico zu einem amerikanischen Ausbeutungsbetrieb machte. Bush brüstete sich damit, daß es bis 2005 Gesetz wäre.

Am 5. November kam Bush beim Gipfeltreffen von 2005 in Mar del Plata in Argentinien an, nur um sich sagen lassen zu müssen, seine FTAA stünde nicht mal auf der Tagesordnung. Unter den 34 Staatsoberhäuptern befanden sich neue, unbeugsame Gesichter und hinter allen von ihnen standen Bevölkerungen, die nicht länger gewillt waren, von den USA unterstützte Geschäftstyranneien zu akzeptieren. Noch nie zuvor haben lateinamerikanische Regierungen ihre Völker bei derlei Pseudo-Vereinbarungen konsultieren müssen; aber jetzt müssen sie es.

In Bolivien haben soziale Bewegungen in den letzten fünf Jahren gleichermaßen Regierungen wie fremde Konzerne abgesetzt, wie zum Beispiel den vielfüßigen Bechtel Konzern, der bemüht war, das, was die Leute total locura capitalista - den totalen kapitalistischen Blödsinn - die Privatisierung von fast allem, besonders Erdgas und Wasser, durchzusetzen. Nach Pinochets Chile sollte Bolivien ein neo-liberales Labor sein. Den Ärmsten der Armen wurden bis zu zwei Drittel ihres Hungerlohns für Regenwasser berechnet.

Während ich auf den ebenförmig grauen, eiskalten Kopfsteinpflasterstraßen von El Alto stand, 14.000 Fuß hoch in den Anden, oder in den Leichtbetonhäusern früherer Bergarbeiter und Campesinos saß, die von ihrem Land getrieben wurden, hatte ich politische Diskussionen, wie sie in Großbritannien und den USA selten entfacht werden. Sie sind direkt und redegewandt. “Warum sind wir so arm,” sagen sie, “wenn unser Land so reich ist? Warum lügen die Regierungen und vertreten fremde Mächte?” Sie sprechen von 500 Jahren der Eroberung, als sei sie gegenwärtig, was sie auch ist, und folgen den Spuren einer Reise, die mit dem spanischen Raub von Cerro Rico beginnt, einem Silberhügel, der von ansässigen Bergarbeitern in Sklavenarbeit abgebaut wurde und das spanische Imperium über drei Jahrhunderte finanzierte. Als es kein Silber mehr gab, war da noch Zinn, und als die Bergwerke in den 70er Jahren im Auftrag von IMF privatisiert wurden, brach der Zinnabbau und mit ihm 30.000 Jobs, zusammen. Als das Zinn durch das Cocablatt ersetzt wurde - in Bolivien kaut man es, um den Hunger zu stillen -, begann die bolivianische Armee, von den USA dazu gezwungen, die Cocaernte zu vernichten und die Gefängnisse zu füllen.

Im Jahr 2000 brach offene Rebellion gegen die weißen Geschäftsoligarchen und das amerikanische Konsulat aus, dessen Festung wie ein Vatikan der Anden im Zentrum von La Paz steht. So etwas hatte es noch nie gegeben, denn sie ging von der Mehrheit der indigenen Bevölkerung aus, um “unsere einheimische Seele zu schützen”. Nackter Rassismus gegen indigene Völker in ganz Lateinamerika gehört zum spanischen Erbe. Sie wurden verachtet oder waren unsichtbar, oder Kuriositäten für Touristen: die Frauen mit ihren Filzhüten und farbenfrohen Röcken. Jetzt nicht mehr. Angeführt von Visionären wie Oscar Olivera umzirkelten die Frauen mit Filzhüten und bunten Röcken die zweitgrößte Stadt des Landes, Cochabamba, und legten sie still, bis ihr Wasser wieder in die Hände des Staates zurückgegeben war.

Seitdem kämpfen die Leute jedes Jahr einen Krieg für Wasser oder Gas: im wesentlichen einen Krieg gegen Privatisierung und Armut. Nachdem sie 2003 den Präsidenten Gonzalo Sanchez de Lozada vertrieben hatten, stimmten die Bolivianer in einem Referendum für echte Demokratie. Durch die sozialen Bewegungen forderten sie eine verfassungsgebende Versammlung ähnlich der, die Chavez’ bolivianische Revolution in Venezuela gegründet hatte, zusammen mit der Ablehnung der FTTA und all den anderen “Freihandel”- Übereinkommen, die Ausschließung der transnationalen Wasserwerke und eine 50-prozentige Steuer auf die Ausbeutung aller Energieressourcen.

Als der stellvertretende Präsident, Carlos Mesa, sich weigerte, das Programm durchzuführen, wurde er gezwungen, abzudanken. Im nächsten Monat wird es Präsidentschaftswahlen geben, und die Opposition, Bewegung für den Sozialismus (MAS), könnte sehr wohl die alte Ordnung über den Haufen werfen. Ihr Anführer ist ein einheimischer ehemaliger Cocabauer, Evo Morales, den der amerikanische Ambassodor mit Osama Bin Laden verglichen hat. In Wahrheit ist er ein Sozialdemokrat, der in den Augen vieler, die Cochabamba versiegelt haben und von El Alto den Berg herunter marschierten, zu gemäßigt ist.

“Das wird nicht leicht werden”, sagte mir Abel Mamani, der einheimische Präsident des El Alto Gemeindeauschusses. “Die Wahlen werden nicht die Lösung sein, selbst wenn wir gewinnen. Was wir gewährleisten müssen ist die verfassungsgebende Versammlung, von der wie eine Demokratie aufbauen, die nicht auf dem basiert, was die USA wollen, sondern auf sozialer Gerechtigkeit.” Der Schriftsteller Pablo Solon, Sohn des großen politischen Wandmalers Walter Solon, sagte, “die Geschichte Boliviens ist die Geschichte der Regierung hinter der Regierung. Die USA können eine finanzielle Krise heraufbeschwören; aber für sie ist das in Wirklichkeit ideologisch; sie sagen, sie werden keinen zweiten Chavez akzeptieren.”

Die Menschen jedoch werden keinen zweiten Washington Quisling akzeptieren. Die Lektion ist Ecuador, wo ein Hubschrauber Lucio GutiErrez rettete, als er im letzten April dem Präsidentenpalast entfloh. Nach einem Machtsieg in Allianz mit der indigenen Pachakutik Bewegung war er der “ecuadorianische Chavez”, bis er in einem Korruptionsskandal unterging. Für gewöhnliche Lateinamerikaner ist Korruption in hohen Positionen nicht mehr länger verzeihlich. Das ist einer von zwei Gründen, weshalb die Arbeiterparteiregierung von Lula in Brasilien kaum auf der Stelle tritt; der andere ist, daß ein Wirtschaftsplan der IMF höhere Priorität hat als seine Leute. In Argentinien haben soziale Bewegungen 2001 und 2002 fünf pro Washington Präsidenten verabschiedet. Auf der anderen Seite des Wassers in Uruguay, hat die Frente Amplio, sozialistische Nachfolger der Tupamaros, den Guerrillas der 70er Jahre, die eine der bösartigsten Terroraktionen der CIA bekämpft hat, letztes Jahr eine Volksherrschaft gebildet.

Die sozialen Bewegungen sind mittlerweile ein entscheidender Faktor in jedem lateinamerikanischen Land - selbst in dem Staat der Angst, dem Kolumbien von Alvaro Uribe Velez, dem treusten Vassalen von Bush. Im letzten Monat marschierten indigene Bewegungen durch jede der 32 kolumbianischen Provinzen und forderte ein Ende des Übels, das “so gut im Schießen” ist: Neoliberalismus. In ganz Lateinamerika ist Hugo Chavez der neue Bolivar. Die Leute bewundern seine politische Weitsicht und seinen Mut. Nur er hatte den Mut, die Vereinigten Staaten als die Ursache des Terrorismus und Bush als Senor Peligro (Mr. Danger, d.h. Gefahr) zu bezeichnen. Er unterscheidet sich sehr von Fidel Castro, den er respektiert. Venezuela ist eine außergewöhnlich offene Gesellschaft mit einer uneingeschränkten Opposition - die reich und immer noch mächtig ist. Auf der Linken befinden sich jene, die gegen den Staat sind, aus Prinzip, die glauben, seine Reformen hätten ihre Grenzen erreicht, und die wollen, daß die Macht direkt von der Gemeinschaft ausgeübt wird. Das sagen sie vehement, aber sie unterstützen Chavez. Ein redegewandter junger Anarchist, Marcel, zeigte mir die Klinik, wo die beiden kubanischen Ärzte das Leben seiner Freundin gerettet haben könnten. (Im Gegenzug für Ärzte gibt Venezuela Öl an Kuba ab.)

Am Eingang jedes barrio, jedes Wohnviertels, ist ein staatlicher Supermarkt, wo alles, von Grundnahrungsmitteln bis zu Abwaschmitteln 40 Prozent weniger kostet als in kommerziellen Geschäften. Trotz trügerischer Beschuldigungen der Regierung, sie habe die Zensur eingeführt, sind die meisten Medien nach wie vor leidenschaftlich anti-Chavez: ein großer Teil davon in den Händen von Gustavo Cisneros, der Murdoch Lateinamerikas, der den letzten gescheiterten Versuch unterstützte, Chavez zu stürzen. Bemerkenswert sind die regionalen Radiosender, die überall aus dem Boden schießen und in dem Coup vom April 2002 eine entscheidende Rolle bei der Rettung Chavez spielten, indem sie die Menschen aufriefen, einen Protestmarsch nach Caracas mitzumachen.

Während die Welt auf Iran und Syrien blickt und die nächste Bush-Attacke dort vermutet, wissen die Venezuelaner genau, sie könnten die nächsten sein. Am 17. März berichtete die Washington Post, daß Feliz Rodriguez, “ein ehemaliger CIA Agent mit guten Verbindungen zur Bush-Familie” an dem Plan zum Mordanschlag gegen den Präsidenten von Venezuela beteiligt war. Am 16. September sagte Chavez, “ich habe Beweise, daß es Pläne zur Invasion von Venezuela gibt. Des weiteren haben wir Dokumente: wie viele Bombenflugzeuge am Tag der Invasion Venezuela überfliegen werden…die USA führen Manöver auf Curacao Island durch, die sogenannte Operation Balboa.” Seitdem haben interne Dokumente des Pentagon, die den Medien zugespielt wurden, Venezuela als eine “post-Irak Drohung” identifiziert, die Planung “im vollen Ausmaß” erfordere.

Der alte-junge Mann im Jeep, Beatrice und ihre gesunden Kinder und Celedonia mit ihrem “neuen Respekt” sind in der Tat eine Bedrohung - die Bedrohung durch eine alternative, anständige Welt, die einige als nicht mehr möglich beweinen. Aber sie ist möglich, und sie verdient unsere Unterstützung.

Quelle: ZNet Deutschland vom 30.01.2006. Übersetzt von: Gesine Stone. Orginalartikel: The Rise Of America’s New Enemy

Veröffentlicht am

31. Januar 2006

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