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Der stille Tod der Freiheit

Von John Pilger - ZNet Kommentar 09.01.2006

Am Vorweihnachtsabend stattete ich Brian Haw, dessen gebückte, schreitende Gestalt im Eisnebel gerade noch sichtbar war, einen kurzen Besuch ab. Seit viereinhalb Jahren kampiert Brian im Parliament Square, mit einer Sammlung von Fotos, die den Terror und das Leid der irakischen Kinder, verursacht durch britische Politik, graphisch darstellen. Die Wirksamkeit seiner Aktion zeigte sich im vergangenen April, als die Blair-Regierung jede Form des Widerstands im Umkreis von einem Kilometer um die Regierungsgebäude verbot. Der höchste Gerichtshof entschied, dass Brian eine Ausnahme bildete, weil er sich bereits vor dem Verbot dort aufhielt.

Tag für Tag, Nacht für Nacht und in allen Jahreszeiten ist er ein Warnsignal, indem er das große Verbrechen im Irak und die Feigheit des Unterhauses beleuchtet. Während wir miteinander sprachen, brachten ihm zwei Frauen eine weihnachtliche Mahlzeit und Glühwein. Sie dankten ihm, schüttelten seine Hand und eilten davon. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. “Das ist typisch für die Öffentlichkeit”, sagte er. Ein Mann im Nadelstreifenanzug und Krawatte, der einen kleinen Kranz trug, tauchte aus dem Nebel auf. “Ich will das beim Ehrenmal niederlegen und die Namen der Toten im Irak verlesen”, erklärte er Brian, der ihn warnte: “Dann wirst du die Nacht in der Zelle verbringen, mein Freund”. Wir sahen ihm nach, als er mit großen Schritten davoneilte, um den Trauerkranz niederzulegen. Mit gesenktem Kopf, vor sich hin flüsternd. Vor dreißig Jahren habe ich Dissidenten vor den Mauern des Kreml etwas Ähnliches tun sehen.

Weil die Nacht ihn deckte, hatte er Glück. Am 7. Dezember wurde Maya Evans, eine vegetarische Köchin, 25 Jahre alt, verurteilt, weil sie das neue polizeiliche Gesetz über ein schweres organisiertes Verbrechen gebrochen hatte, indem sie beim Ehrenmal die Namen von 97 britischen Soldaten verlesen hatte, die im Irak getötet wurden. Ihr Verbrechen war dermaßen schwerwiegend, dass 14 Polizisten in zwei Polizeiwagen erforderlich waren, um sie zu verhaften. Sie wurde mit einer Geldstrafe belegt und ist für den Rest ihres Lebens als vorbestraft registriert.

Die Freiheit stirbt.

Der 80-jährige John Catt diente im Zweiten Weltkrieg bei der Britischen Luftwaffe. Letzten September wurde er von einem Polizisten in Brighton angehalten, weil er ein “beleidigendes” T-Shirt trug, dessen Aufschrift dazu anregte, Bush und Blair für Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen. Er wurde unter dem Terrorismusakt verhaftet und mit Armen auf dem Rücken in Handschellen gelegt. Das offizielle Verhaftungsprotokoll vermerkt, der “Zweck” seiner Durchsuchung sei “Terrorismus” und der “Grund für das Eingreifen” waren das “Tragen eines Plakats und T-shirts mit Anti-Blair Info” (sic).

Er sieht seinem Prozess entgegen.

Solche Fälle sind anderen vergleichbar, die geheim bleiben und jenseits des Rechts: jene von Angehörigen anderer Staaten, die im Belmarsh Gefängnis gehalten werden, die nie angeklagt, geschweige denn verhört wurden. Sie werden “auf Verdacht” gehalten. Einige der “Beweismittel”, die gegen sie angeführt werden, was immer diese auch sein mögen, hat die Blair Regierung jetzt zugegeben, hätten unter Folter in Guantanamo und Abu Ghraib erpresst werden können. Es handelt sich um politische Gefangene, denen dieser Status aberkannt wird. Ihre Zukunft sieht so aus, dass sie des Landes verwiesen und in die Arme eines Regimes getrieben werden, das sie unter Umständen zu Tode foltert. Ihre isolierten Familien und Kinder verlieren darüber langsam den Verstand.

Und wofür? Vom 11. September 2001 bis zum 30. September 2005 wurden in Großbritannien unter dem Terrorismusakt insgesamt 895 Leute verhaftet. Nur 23 wurden Vergehen bezichtigt, die unter diesen Akt fallen. Was die wahren Terroristen angeht, so war die Identität von zwei der Bombenleger vom 7. Juli, einschließlich des mutmaßlichen Vordenkers, dem MI5 bekannt, und nichts wurde unternommen. Und Blair möchte ihnen mehr Macht geben. Nach seiner Hilfeleistung bei der Zerstörung des Irak tötet er jetzt die Freiheit im eigenen Land.

Parallel dazu geben Ereignisse in den Vereinigten Staaten Anlass zum Nachdenken. Im vergangenen Oktober wurde ein amerikanischer Chirurg, von seinen Patienten geliebt, mit 22 Jahren Gefängnis bestraft, weil er eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet hatte, “Help the Needy” - Hilf den Bedürftigen - die Kindern im Irak half, Kindern, die durch die von Amerika und Großbritannien auferlegte ökonomische und humanitäre Blockade geplagt sind. Indem er Geldspenden für Kleinkinder sammelte, die an Durchfall starben, durchbrach Dr. Rafil Dhafir einen Belagerungszustand, welcher laut Unicef den Tod einer halben Million Kinder unter 5 Jahren verursacht hatte. Der damalige Justizminister der Vereinigten Staaten, John Ashcroft, nannte Dr. Dhafir, ein Muslim, einen “Terroristen”, eine Bezeichnung, die selbst vor dem Richter in seiner politisch motivierten Travestie eines Prozesses nicht bestehen konnte.

Der Dhafir-Fall ist nicht außergewöhnlich. Im gleichen Monat entschieden drei US- Richter am Bundesberufungsgericht zugunsten des vom Bush-Regime propagierten “Rechts”, einen amerikanischen Bundesbürger “auf unbestimmte Zeit” in Haft zu halten, ohne ihn eines Verbrechens zu beschuldigen. Das war der Fall des Joseph Padilla, eines Kleinkriminellen, der angeblich Pakistan besucht hatte, bevor er vor dreieinhalb Jahren im Flughafen von Chicago verhaftet wurde. Es fand nie eine Anklage gegen ihn statt, und es wurden auch keine Beweise gegen ihn vorgelegt. Jetzt ist der Fall so sehr in juristischer Komplexität verstrickt, dass er George W. Bush über das Gesetz stellt und die Gesetzesvorlage ächtet. In der Tat stimmte der amerikanische Senat am 14. November effektiv für ein Verbot des Habeas Corpus, indem er eine Änderung billigte, die eine Entscheidung des Höchsten Gerichts über den Haufen warf, wonach Gefangene in Guantanamo Zugang zu Bundesgerichten haben sollten. So wurde der Prüfstein von Amerikas höchst zelebrierter Freiheit auf den Müll geworfen. Ohne Habeas Corpus kann eine Regierung ihre Widersacher einfach wegsperren und eine Diktatur errichten.

Eine ähnliche schleichende Tyrannei wird überall auf der Welt eingesetzt. Trotz all seiner Probleme im Irak hat Bush die Empfehlungen einer messianischen Verschwörungstheorie mit dem Namen “Projekt für ein neues amerikanisches Jahrhundert” aufgegriffen. Geschrieben von seinen ideologischen Sponsoren kurz vor seiner Machtübernahme, prophezeite sie seine Amtszeit als militärische Diktatur hinter demokratischer Fassade: “die Kavallerie an einer neuen amerikanischen Grenze”, gelenkt von einer Mischung aus Verfolgungs- und Größenwahn. Über 700 amerikanische Stützpunkte sind jetzt strategisch in willfährigen Ländern platziert, namentlich an den Toren zu den Quellen von fossilen Brennstoffen und den Nahen Osten und Zentralasien umzirkelnd. “Präventive” Aggression ist die Police, einschließlich des Gebrauchs nuklearer Waffen. Die chemische Waffenindustrie ist zu neuem Leben erwacht. Raketenabkommen wurden zerrissen. Das Weltall ist militarisiert worden. Die globale Erwärmung ist bereitwillig angenommen worden. Die Regierungsgewalt des Präsidenten war niemals größer. Das Justizsystem wurde untergraben, zusammen mit der Zivilfreiheit. Der ehemalige führende CIA-Analyst Ray McGovern, der einst die tägliche Kurzeinweisung für das Weiße Haus vorbereitete, sagte mir, die Autoren der PNAC und diejenigen, die jetzt weisungsbefugte Positionen einnehmen, seien in Washington als “die Verrückten” bekannt gewesen. Er sagte, “wir sollten jetzt sehr um den Faschismus besorgt sein”.

In seiner epischen Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur am 7. Dezember sprach Harold Pinter von einer “riesigen Kulisse von Lügen, die wir verspeisen”. Er stellte die Frage, weshalb “die systematische Brutalität, die weit verbreiteten Gräueltaten, die rücksichtslose Unterdrückung des freien Denkens” des stalinistischen Russland im Westen wohl bekannt war, während amerikanische Staatsverbrechen lediglich “oberflächlich berichtet, nicht jedoch dokumentiert, geschweige denn als solche erkannt” würden.

Es hat Stille geherrscht. Überall auf der Welt lässt sich die Auslöschung und das Leid zahlloser Menschen auf zügellose amerikanische Macht zurückführen, “aber man wüsste es nicht”, sagt Pinter. “Es ist nie passiert. Nichts ist je passiert. Selbst als es passierte, passierte es nicht. Es machte nichts. Es war von keinerlei Interesse.”

Zu seinem Verdienst hat der Guardian in London jedes Wort von Pinters Warnung veröffentlicht. Zu seiner Schande, aber nicht überraschend, ignorierte es der öffentliche Fernsehsender. Diese geballte Newsnight- Aufgeblähtheit über Kunst, all diese wiedergekäuten Eitelkeiten vor den Kameras bei Booker-Preisverleihungen, aber für Großbritanniens größten lebenden Dramatiker konnte die BBC keinen Slot finden, und, um die Wahrheit zu sagen, ehrte sie ihn damit.

Was die BBC angeht, so passierte es einfach nie, genauso wie das Töten einer halben Million Kinder durch Amerikas mittelalterliche Belagerung des Irak in den 90ern nie passierte, genau wie die Dhafir und Padilla-Prozesse und die Senatsabstimmung nie stattfanden, die die Freiheit verboten. Die politischen Gefangenen von Belmarsh existieren kaum; und ein großes, unerschrockenes Polizeiaufgebot der Londoner Polizei fegte nie Maya Evans mit sich weg, als sie öffentlich um die britischen Soldaten trauerte, die für nichts getötet wurden, nur für die verrottete Macht.

Bar jeder Ironie aber mit boshaftem Kichern führte die Nachrichtensprecherin Fiona Bruce von der BBC als Nachrichtenteil einen Weihnachts-Propaganda-Film über Bushs Hunde ein. Das passierte. Jetzt stellen Sie sich Bush vor, wie er folgendes liest: “Hier sind die verspäteten Nachrichten, eben reingekommen. Von 1945 bis 2005 versuchten die Vereinigten Staaten, 50 Regierungen, viele von ihnen Demokratien, zu stürzen und 30 Volksaufstände zu zermalmen, die tyrannische Regimes bekämpften. Bei diesen Aktionen wurden über 25 Ländern Bomben abgeworfen, die mehreren Millionen Menschen das Leben kosteten und die Verzweiflung weiterer Millionen verursachten.” (Mit Dank an William Blums Rogue State, Common Courage Press, 2005).

Die Ikone des Schreckens von Saddam Husseins Herrschaft ist ein Film von 1988 voll erstarrter Leichen in der Kurdischen Stadt Halabja, Körper von Menschen, die in einem Angriff mit Einsatz von chemischen Waffen getötet wurden. Der Angriff wurde sehr oft von Bush und Blair erwähnt und der Film sehr oft von der BBC ausgestrahlt. Zu der Zeit, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, versuchte das Auswärtige Amt, das Verbrechen in Halabja zu vertuschen. Die Amerikaner versuchten, dem Iran die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Heute, in einem Zeitalter der Bilder, gibt es keine Bilder zu dem chemischen Waffenangriff auf Fallujah im November 2004. Das ermöglichte es den Amerikanern, ihn abzustreiten, bis sie kürzlich durch die Nachforschungen von Internet-Anwendern gestellt wurden. Für die BBC passieren amerikanische Gräueltaten einfach nicht.

1999, als ich in Washington und dem Irak filmte, fand ich heraus, wie groß das Ausmaß der Bombenangriffe in den von den Amerikanern und den Briten damals als “no fly” Zonen bezeichneten Gebieten war. Während der 18 Monate bis zum 14. Januar 1999 flogen die amerikanischen Flugzeuge 24.000 Kampfeinsätze über dem Irak; fast jeden Einsatz mit Bomben und Beschüssen. “Wir haben alles bis auf die letzte Scheune”, protestierte ein US-Bediensteter. “Es gibt noch ein paar Dinge zu bombardieren, aber nicht viele.” Das war vor sechs Jahren. In den letzten Monaten hat sich der Luftangriff auf den Irak vervielfältigt; die Auswirkungen auf dem Boden sind unvorstellbar. Für die BBC ist es nicht passiert.

Die böse Farce erstreckt sich auch auf jene Pseudo-Humanitären in den Medien und anderswo, die selbst nie die Wirkungen von Clusterbomben und in der Luft zerborstenen Granaten gesehen haben, jedoch weiterhin Saddams Verbrechen beschwören, um den Alptraum im Irak zu rechtfertigen und einen Quisling- Premierminister zu schützen, der sein Land verraten und die Welt gefährlicher gemacht hat. Eigenartigerweise bestehen einige von ihnen darauf, sich als “Liberale” und als “links von der Mitte”, sogar als “Antifaschisten” zu bezeichnen. Sie wünschen sich ein wenig Ehrenhaftigkeit, nehme ich an. Das ist verständlich, angesichts der Tatsache, dass die tabellarische Liste des Gemetzels von Saddam Hussein vor langer Zeit von derjenigen ihres Helden in der Downing Street übertrumpft wurde, der als nächstes einen Angriff auf den Iran unterstützen will.

Das kann sich nicht ändern, bis wir im Westen in den Spiegel schauen und den wahren Zielen und dem Narzissmus der Macht ins Auge sehen, die in unserem Namen ausgeübt wird: ihren Extremen und ihrem Terrorismus. Die traditionelle Doppelmoral zieht nicht länger; inzwischen gibt es Millionen wie Brian Haw, Maya Evans, John Catt und dem Mann im Nadelstreifenanzug mit seinem Trauerkranz. In den Spiegel sehen bedeutet zu verstehen, dass eine gewalttätige und undemokratische Ordnung von denen aufgezwungen wird, deren Taten sich kaum von den Taten der Faschisten unterscheiden. Der Unterschied war immer die Entfernung. Jetzt holen sie ihn sich nach Hause.

Quelle: ZNet Deutschland vom 11.01.2006. Übersetzt von: Gesine Stone. Orginalartikel: The Quiet Death Of Freedom

Veröffentlicht am

12. Januar 2006

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