Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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“Gesundes Neues Jahr!”

Für eine etwas andere Gesundheitsreform

Von Peter Bürger

Wer trägt Verantwortung für die öffentliche Gesundheitssorge in unserer Gesellschaft? Die privaten Krankenkassen können auswählen, wen sie aufnehmen. Sie schielen auf die Bürger mit den höchsten Einkommen. Einfache Leute mit ernsten Gesundheitsproblemen klopfen bei ihnen vergeblich an. Für sie muss die “AOK” einspringen. Auch viele christliche Sozialpolitiker meinen, wir bräuchten zukünftig eine allgemeine Bürgerversicherung. Um den Weg in eine Zwei-Klassen-Medizin zu stoppen, sollen alle in einem gemeinsamen Boot sitzen. Nicht nur die niedrigen und mittleren Löhne bzw. Gehälter, sondern alle gesellschaftlichen Erträge wären dann Grundlage für die Finanzierung.

Solidarisch heißt: Auch die Großverdiener helfen mit, dass die chronisch Kranken in unserer Gesellschaft versorgt werden können. (Statt einer Einheits-Gesundheitsprämie trägt jeder gemäß seinen Gesamteinkünften etwas bei.) Solidarischer Krankenversicherungsschutz heißt ebenso: Die Lasten kinderreicher Familien werden auch von denen mitgetragen, die weniger stark in der Verantwortung für eine zukünftige Generation stehen. Ein wirklich vernünftiges Modell, so die Ansicht vieler Menschen im Land. Ergänzend sollte auch geguckt werden, wo unsere Krankenkassenbeiträge bleiben, wie transparent die kassenärztlichen Vereinigungen abrechnen, welche Gewinnspannen der Pharma- und Medizintechnik-Industrie wirklich verhältnismäßig sind, wie viel schlechte Organisation in unserem Gesundheitssystem auf das Prinzip Gier zurückgeht …

Doch die vernünftigen Stimmen finden noch wenig Gehör. Überall halten sich Politiker, selbsternannte Experten und Medienleute, die sich selbst jeden Medizinprofessor und jede Behandlungsmethode leisten können, für die Sprecher der ganzen Nation. Gebetsmühlenartig hören wir die Schlagwörter: mehr Privatisierung, mehr Wettbewerb, mehr Eigenverantwortung, mehr Kostensenkung, mehr Effizienz, Schluss mit der Bedienungsmentalität … In den USA, die Vorreiter solcher Markt-Parolen sind, gibt es inzwischen weit über 40 Millionen Menschen ohne Krankenversicherungsschutz! Auch bei uns dürfen dreiste Jungpolitiker schon mal darüber nachdenken, welche Operationen bei “unproduktiven” Rentnern der Gemeinschaft denn noch zumutbar seien. So spielt man die Jungen gegen die Alten aus. So bereitet man den Boden für eine Zukunft, die den Senioren vielleicht Sterbehilfe-Angebote präsentieren wird, wenn die Nierenwäsche zu teuer ist.

Leider merkt kaum jemand, wie ungesund sich das oberflächliche wirtschaftliche Konkurrenzgerede schon jetzt auf unser Gesundheitssystem auswirkt. Gesundheit ist eben keine bloße Ware. Wenn Menschen krank sind, dann brauchen sie eine professionelle Schulmedizin oder erprobte alternative Heilverfahren. Sie brauchen aber mindestens ebenso Zuspruch, Ermutigung und Vertrauen. Eine ganz wichtige Quelle für das Gesundwerden liegt in der zwischenmenschlichen Begegnung, im Gespräch, in der Berührung, in einem Lächeln oder einer behutsamen Geste. Die aufwendigste Behandlung bei einem Schwerkranken nützt oft gar nichts, wenn niemand merkt, dass der Kranke Angst hat, fast nichts versteht, sich allein fühlt oder den Lebenswillen verliert. Wer häusliche Krankenpflege, Krankenhaus-Stationen und Arztpraxen mit Stopp-Uhr, Preislisten und Einspartabellen organisiert, der zerstört unbezahlbare menschliche Energien für das Gesundwerden und schafft neue krankmachende Räume.

Genau das geschieht gegenwärtig. Stationen werden zusammengelegt. Pflege- und Arztstellen im Krankenhaus werden einfach nicht neu besetzt. Menschen, die in Gesundheitsberufen arbeiten, werden als unnötige Kostenfaktoren ausgemacht, unter Druck gesetzt oder in den Nervenzusammenbruch getrieben. Menschliche Dienstleistungen sind zu teuer. Die Grundpflege funktioniert mancherorts bereits nach dem Prinzip Autowaschanlage. Lieber mehr Psycho-Pillen aus dem Pharmasortiment als aufwendige psychologische Therapien und Betreuung. Beim Gasinstallateur würden Sie es nicht akzeptieren, dass er hektisch prüft, ob Ihre Gasleitung auch wirklich dicht ist. Aber bei Krankenpflegekräften will man Ihnen Vergleichbares weismachen. Man sagt: Die können auch unter Zeitdruck hochwirksame Arznei-Infusionen, die in Ihren Blutkreislauf gelangen, ganz genau dosieren. Und bei einer High-Tech-Operation nach neustem Standard soll angeblich eine höchst mittelmäßige Nachsorge auf einer personell unterbesetzten Station gut genug sein. Wenn was schief läuft, bleibt Ihnen ja vielleicht immer noch die Möglichkeit, Strafanzeige zu erstatten.

Für das Erkennen von Krankheiten und Komplikationen braucht man neben modernen Diagnoseverfahren vor allem das Zuhören und Hinsehen. Leute in Gesundheitsberufen bekommen die wichtigsten Informationen für einen Heilungsprozess nur, wenn sie sich für den Patienten wirklich Zeit nehmen (können). Doch die “Zeiten” des Landarztes sind vorbei. Sprechstunde, Arztvisite, Untersuchung, Pflegedurchgang, alles muss ganz schnell gehen. Zeit ist Geld. Das Wichtigste ist inzwischen die Dokumentation in Computerdateien. Durch diese schlechte Philosophie schleichen sich immer mehr Fehler ein. Für jede einzelne Verrichtung ist jemand spezialisiert. Am Ende fühlt sich keiner mehr für das Ganze verantwortlich. Die Kranken sind die eigentlichen Experten. Sie wissen am besten, was sie bedrückt und wo genau etwas nicht stimmt. Doch in einem hektischen Medizinbetrieb reden sie immer häufiger gegen taube Wände. Gleichzeitig gibt es immer mehr superteure Apparaturen, die manchmal nur zum Einsatz kommen, weil das Naheliegende nicht gesehen wird.

Oberste Grundregel für eine gute Medizin ist die Zusammenarbeit von Patienten und Gesundheitsberufen. Ohne die vertrauensvolle Partnerschaft dieser beiden Beteiligten läuft nichts richtig. Stattdessen aber haben wir im Gesundheitswesen noch immer Formen der professionellen Machtausübung von Gesunden über Kranke. Das blockiert vieles. Eine wichtige Reform wäre, dass beim Patientengespräch und am Krankenbett sich beide Partner auf gleicher Augenhöhe begegnen. Ängstlich geduckte Patienten vergessen immer, was sie sagen oder fragen wollten. Ärzte und Pflegekräfte, die aus der Höhe auf einen liegenden Kranken herabschauen, können die so wichtigen leisen Töne nicht hören. Auf die immer noch verbreiteten Großvisiten im Krankenhaus könnte man gut verzichten. Da überfallen bis zu zehn Leute einen einzelnen armen Patienten. Doch niemand weiß, wozu dieses Prozessions-Ritual eigentlich gut sein soll. Echtes Verstehen, Aufklärung und Vertrauen geschieht in Zweiergesprächen. Doch für solche “unproduktiven” Tätigkeiten bleibt vielen Stationsärzten immer weniger Zeit.

Für das Gesundwerden von Menschen brauchen wir ebenso eine gute Teamarbeit unter den verschiedenen Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Doch wer alle unter Druck setzt und den Wettbewerb zum obersten Prinzip erhebt, erreicht genau das Gegenteil. Dann arbeiten Ärzte, Pflegekräfte, Verwaltungspersonal, Hausdienste, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter und Krankenhausseelsorger gegeneinander statt an einem Strang zu ziehen. In Wirklichkeit sind aber alle aufeinander angewiesen. Ohne den Krankengymnasten hat der Chirurg am Ende umsonst ein neues Hüftgelenk eingesetzt. Ohne den Sozialdienst kommt der Tag der Entlassung, und keiner hat die notwendige Anschlussheilbehandlung organisiert. Solche Dinge kommen offenbar gehäuft vor. Daneben gibt es immer noch die antiquierte, typisch deutsche Hierarchie der “weißen Kittel”. Chefärzte und Professoren werden wie “Götter” gehandelt. Auch im Pflegebereich wird die Klage laut, die Organisation werde zunehmend unkollegialer gestaltet. Doch dergleichen ist für ein erfolgreiches Arbeiten im Gesundheitsteam kontraproduktiv. Je mehr Hierarchie, desto weniger offen wird in beide Richtungen über Probleme oder gar Fehler gesprochen.

Unerlässlich für das Gesundwerden ist weiterhin eine gute Zusammenarbeit mit den Angehörigen. Doch die Pflegekräfte dürfen in Krankenhaus oder Hauskrankenpflege schon beim Patienten nur tun, was in streng kontrollierten Leistungskatalogen steht. Wo soll dann noch die Zeit für “lästige” Angehörige herkommen? Auch beim Arzt wird die Krankenkasse ein tiefergehendes Gespräch mit Angehörigen kaum angemessen honorieren. Solche Signale der Leistungsträger sind so falsch wie es nur eben geht. Angehörige können oft wertvolle Hinweise geben. Sie sind in der Nachsorge oder bei der konsequenten Durchführung von Therapien oft die wichtigsten Begleiter. Angehörige, die im Krankenhaus über Nacht am Bett eines Schwerkranken oder Sterbenden bleiben, sind durch niemanden zu ersetzen. Die enge Zusammenarbeit mit Angehörigen sollte überall eine Selbstverständlichkeit sein.

Schließlich ist ein gutes Verhältnis von Patienten untereinander von höchstem Wert. Egal ob reich oder arm, alt oder jung, gesetzlich oder privat versichert, Kranke verstehen andere Kranke oft am allerbesten. Wenn einige Krankenhäuser Begegnungsräume auf Stationen einrichten oder gemeinsame Mahlzeiten als Möglichkeit anbieten, handeln sie nicht unbedingt nach dem Kostenprinzip. Sehr oft merken sie jedoch, dass sich Patienten untereinander etwas geben, das sie von gesunden Helfern vielleicht gar nicht bekommen können. Solche Erfahrungen sollten nicht nur in Einrichtungen engagierter kirchlicher oder anthroposophischer Träger gemacht werden.

Das “Allheilmittel Markt” setzt auf Discountpauschalen für die breite Masse. Das Konkurrenzprinzip produziert - neben der unangetasteten Pfründesicherung - schon heute vielfachen Unsinn. Die kassenärztliche Vereinigung der Niedergelassenen beargwöhnt eine Krankenhausambulanz, die eine bestimmte Krankheit spezialisiert und mit hohem Standard behandelt. Die Krankenhäuser ihrerseits betrachten den Hausarzt durchaus nicht immer als kollegialen Partner. Profitorientierung als Grundhaltung fördert kaum die Bereitschaft, Patienten an einen im konkreten Fall geeigneteren Kollegen zu verweisen. Das Lieblingsstichwort: Eigenverantwortung. Man suggeriert, die meisten Patienten könnten sich als “Kunden” über die für sie erreichbaren optimalen Behandlungsangebote am besten selbst orientieren. Das ist für die Mehrheit der Menschen, die keinen Mediziner im Bekanntenkreis haben, reine Utopie!

Die größte Mogelpackung des aktuellen Sozial- und Gesundheitswesen steckt vielleicht im sogenannten Qualitätsmanagement. In den meisten Fällen ist dieses großspurige Projekt faktisch nichts anderes als ein verdecktes Kostenkontrollinstrument. In die aufwendige Pflegestufe gelangen nur noch Scheintote. Von ganzheitlicher Versorgung haben die Vordenker oft keine Ahnung. Dafür werden immer mehr Selbstverständlichkeiten und Banalitäten, die sich mit einem Preisschild versehen lassen, in den Dokumentationskatalog aufgenommen. Die Gesundheitsberufe verbringen noch mehr Zeit an EDV-Tabellen statt am Krankenbett. Doch der virtuelle Papierberg hat sehr oft wenig Wert. Wirkliche Qualitätskontrolle (individuelle Pflegekonzepte, Verlaufsüberprüfung, Psychosoziales etc.) ist nur selten erwünscht oder möglich.

Das ganze ökonomisierte Unwesen produziert Kosten! Wer Krankenhaussozialdienste unzureichend besetzt, produziert oft den nächsten Krankenhausaufenthalt. Wer meint, weniger Pflege und Krankengymnastik tue es auch, bezahlt danach viel Geld für Folgeschäden. Vorbeugende Gesundheitssorge ist am ehesten einzusparen. Und weil jeder nur auf seinen eigenen Haushalt und nicht auf das Ganze sieht, behandeln Ministerien, die selbst keine AIDS-Medikamente bezahlen müssen, die AIDS-Aufklärung stiefmütterlich. Allen Ernstes wollen manche durch Beitragssenkung sogar den belohnen, der gar nicht erst zum Arzt geht und damit unter Umständen zu spät etwas gegen ein Problem tut.

Über Gesundheit reden viele Politiker/innen, die nicht etwa Menschlichkeit, sondern - ganz wörtlich - das Wirtschaftswachstum für das “Maß aller Dinge” halten. Viele Menschen werden in unserer Gesellschaft krank, weil an ihrem Arbeitsplatz nur noch Konkurrenz und Profit zählen. (In meiner Heimat ist 2005 ein Arbeiter nach der Kündigungsmitteilung tot zusammen gebrochen! Zuvor war er aus Angst um seinen Arbeitsplatz trotz Herzbeschwerden nicht zum Arzt gegangen.) Das Gesundheitswesen darf auf keinen Fall mit den Krankmachern infiziert werden. Der Preis, den wir alle dafür zu zahlen hätten, ist zu hoch!

Die Bürgerversicherung wäre ein wichtiger Lösungsschritt. Doch eine Gesundheitsreform, die uns wirklich gesünder werden lässt, schaut auch auf andere Dimensionen. Sie berücksichtigt, dass Krankheit und Gesundheit eine Frage des menschlichen Miteinanders sind. Deshalb brauchen wir nicht nur Medikamente und Geräte, sondern genügend Frauen und Männer, die in allen Gesundheitsberufen für ihre wichtigen Aufgaben angemessen bezahlt werden. Aus welchem Grund sollte eine Gesellschaft mit stetig wachsenden Wirtschaftserträgen und genügend Arbeitskräften dafür kein Geld übrig haben?

Peter Bürger ist Theologe und freier Publizist

Veröffentlicht am

01. Januar 2006

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