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In jedem Israeli ein Siedler

Von Amira Hass - Ha’aretz / ZNet Deutschland 06.07.2005

Die Jagdsaison ist auf ihrem Höhepunkt - die Siedler sind ihre Beute. Sie sind in einem Maße zum Ziel der Medienkritik geworden, dessen man sich kaum erinnern kann. Sie werden dafür kritisiert, dass sie ihre Kinder zur Straßenblockade schicken, dass sie Soldaten schlagen und verfluchen, fürs Verschwinden-lassen der blau-weißen Bänder an PKWs (zuweilen auch der Antennen), fürs Besetzen eines palästinensischen Hauses in Muasi und fürs Steinewerfen auf einen palästinensischen Jugendlichen. Der verwöhnte Gör der Nachbarschaft, der glaubte, er solle alles bekommen, ist plötzlich in Wut geraten, und die Nachbarn verlieren die Geduld. Aber das Kind ist verdorben worden, weil ihn die ganze Nachbarschaft verwöhnt hat. Und er ist davon überzeugt, dass er alles bekommen soll, weil die Nachbarn all die Jahre hindurch durch ihr Tun bewiesen haben, dass dies so in Ordnung sei.

Es begann damit, dass alle Regierungen und das Justizwesen das Verhalten der Siedler gegenüber den Palästinensern tolerierten. Es erreichte 1994 mit Yitzhak Rabins Nachsichtigkeit einen Gipfel, als er statt die fundamentalistischen Siedler Hebrons auf Grund des allgemeinen Abscheus über das von Baruch Goldstein begangene Massaker zu evakuieren, eine lange Ausgangssperre über die Palästinenser Hebrons verhängte. So gab er grünes Licht für die ständigen kriminellen Akte der Verfolgung und Vertreibung - lange vor dem Lynchen in Muasi.

Seit 1967 waren es Israels Regierungen, die die Kolonisierungspolitik der neu eroberten Gebiete planten: von der Annexion von etwa 70 qkm der Westbank an Jerusalem bis zu den Nahal-Außenposten, die schließlich zu Städten wurden. Messianische Siedler zwangen die Mapai und Labor-Regierungen, dem von ihnen ausgewählten Ort zuzustimmen - und die Regierungen waren glücklich, dazu gezwungen zu werden. Der Unterschied bestand nur darin, dass die messianischen Siedler auch göttliche Ermächtigung für den kollektiven israelischen Appetit von Besitz beanspruchten. Sie wollten nicht auf Sicherheitsdoktrinen angewiesen sein. Die Siedler sind das Ergebnis einer israelischen Politik, die sich wachsender Unterstützung der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit erfreute, besonders nachdem Menachim Begin und Ariel Sharon ab 1977 die Siedlungen zu einem Massenunternehmen machten. Und während der ganzen Oslo-Periode, selbst unter Rabin und Ehud Barak, lief das Massenunternehmen weiter.

Die großzügige Kompensation, die den 8.000 Siedlern im Gazastreifen gezahlt wird, hat keinen sozialen Massenprotest ausgelöst. Tausende von Israelis wissen doch, dass seit langem Juden Juden vertrieben haben - nicht nur Palästinenser: Familien, die mit ihren Schulden nicht mehr fertig werden, werden von guten Juden, von Regierungsangestellten, aus ihren Häusern vertrieben. Zehntausende von Israelis wissen, dass auf einander folgende israelische Regierungen ihre Eltern zu einer nationalen Mission sandten, um in entfernteren Gegenden den Weg für eine Siedlung vorzubereiten. Sie leiden bis zum heutigen Tag unter Diskriminierung, Vernachlässigung und chronischer Arbeitslosigkeit.

Doch war diese Kenntnis nicht ausreichend, um den öffentlichen Diskurs oder das Regierungsverhalten dazu zubringen, sich mit der explosiven Frage zu beschäftigen, warum Siedler mehr Rechte haben - nicht nur als Palästinenser - sondern auch ihre jüdischen Landsleute innerhalb der Grünen Linie. Diese Frage ist durch ihre explosive Kraft neutralisiert worden, weil das Westbanksiedlungsunternehmen dem sozialwirtschaftlichen Aufstieg vieler Israelis diente. Etwa 400.000 Israelis wohnen in den Westbanksiedlungen. Sie haben Hunderttausende Verwandte und Freunde, die sie regelmäßig besuchen und für die die Siedlungen eine natürliche und prägende Realität sind. Sie wissen, dass auch sie Häuser in Gilo, Maaleh Adumin oder Alon Shvut und wo anders erhalten können, die sie sich nicht in Israel leisten können. Für sie ist dies eine Möglichkeit, sich mit der allmählichen Zerstörung des Wohlfahrtsstaates auseinander zu setzen.

Auch jene, die nicht beabsichtigen, in die Siedlungen umzuziehen, profitieren von deren Existenz. Die Siedlungen sichern Israels dauernde Kontrolle über die Westbank und seine Wasserressourcen ab und sichern so auch die ungerechte Verteilung des Wassers in einem Verhältnis von 7: 1 zu ungunsten der Palästinenser ab. Wir Juden können also verschwenderisch sein, als lebten wir in einem Land mit reichlich Wasser. Die größeren Schnellstraßen werden auf gestohlenem palästinensischen Land gebaut - wie die moderne Ringstraße rund um Jerusalem oder die Straße 443, eine zusätzliche Zufahrtsstraße nach Jerusalem - nur für Israelis. Diese Straße dient nicht nur den Siedlern, sondern vielen anderen, deren entwickeltes Mittelklassebewusstsein benötigt Komfort, Effizienz und Zeitsparen. Unternehmer, Baugesellschaften und Architekten; Beschäftigte von Israels Stromgesellschaft, die öffentlichen Arbeitsabteilungen und das Erziehungsministerium; Zeitungsbesitzer, die riesige Annoncen über neue Wohngegenden nur fünf Minuten von Jerusalem veröffentlichen - alle profitieren von dem Bauboom. Und dies ohne die Tatsache zu erwähnen, dass die Siedlungen für ihre Bewohner und Erbauer eine andauernde Sicherheitsbedrohung darstellen und deshalb das Anwachsen der Sicherheitsindustrie nötig macht.

Im Herz eines jeden Israeli lebt ein kleiner Siedler. Deshalb ist die Kritik von heute begrenzt und verfehlt völlig den springenden Punkt: die illegale und unmoralische Kolonisierungspolitik. Diese Politik profitiert letzten Endes von einer ständig wachsenden israelischen Öffentlichkeit. Die Frage nach der Zukunft der Region beunruhigt sie deshalb nicht.

Quelle: ZNet Deutschland vom 06.07.2005. Übersetzt von: Ellen Rohlfs.

Veröffentlicht am

07. Juli 2005

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