Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Die Verletzung der Ehre verjährt nicht

Im Gespräch: Die Diplom-Psychologin Corinna Ter-Nedden über ihre Arbeit bei “Papatya”, der einzigen Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen in Deutschland

FREITAG: Darf ich ein Foto von Ihnen machen?

CORINNA TER-NEDDEN: Nein, das geht leider nicht! Grundbedingung für wirksamen Schutz und relative Sicherheit der bei uns aufgenommenen Mädchen ist, dass wir für Außenstehende sozusagen gesichtslos bleiben. Auch wir Mitarbeiterinnen müssen uns schützen. Sowohl die Adresse als auch die Telefonnummer von Papatya sind geheim, wir sind aber über den Berliner Jugendnotdienst zu erreichen.

Ist soviel Vorsicht nicht übertrieben?

Leider nicht. Wenn Mädchen und junge Frauen aus traditionell geprägten Familien zu uns fliehen, dann werden sie oft von ihrer Familie verfolgt, manchmal auch mit professioneller Hilfe.

Was können Sie bei Papatya für bedrohte Frauen tun?

Unsere vordringlichste Aufgabe ist es, ihnen Sicherheit zu bieten, einen Ort, an dem sie zur Ruhe kommen und darüber nachdenken können, wie ihr Leben weitergehen soll. Am Anfang haben sie oft Todesangst, gleichzeitig sind sie aber meist noch sehr stark an die Familie gebunden. Wir unterstützen sie in der inneren, aber auch in der tatsächlichen Auseinandersetzung mit der Familie.

Meist gibt es eine längere Leidensgeschichte, bevor die jungen Frauen zu uns flüchten, sie halten über lange Zeit Misshandlungen und Beschimpfungen aus, in der Hoffnung, die Familie werde sich ändern. Wenn sie sich entscheiden zu gehen, dann oft, weil sie überhaupt keinen anderen Ausweg mehr für sich sehen. Etwa ein Fünftel hat dann schon einen Selbstmordversuch hinter sich.

Könnten Sie das an einem konkreten Fall schildern?

Ja, da wäre zum Beispiel Sebnem, sie ist türkischer Herkunft, kam aus einem anderen Bundesland zu uns und war gerade 18 geworden. Ihr Vater hatte sie zusammengeschlagen, weil er vermutete, dass sie einen deutschen Freund hatte. Einen Freund zu haben, war streng verboten, ein deutscher Freund machte die Sache noch schlimmer.

Sebnem war nach der Trennung ihrer Eltern in der Türkei als Zwölfjährige mit ihrem Bruder zum Vater nach Deutschland gekommen. Im Kampf um das Sorgerecht hatte sie auf Druck des Vaters vor Gericht aussagen müssen, sie wolle bei ihm leben. Ihr Vater fürchtete, sie könne ihn wie ihre Mutter verlassen und verfolgte eine sehr konservative, sie einschränkende Erziehung. Sebnem durfte die väterliche Wohnung außer für die Schule oder manchmal mit ihrem Bruder nie verlassen. Mit zwölf Jahren war sie für den Haushalt zuständig. Sobald sie dagegen aufbegehrte, wurde sie geschlagen.

Ja, aber in die Schule konnte sie zumindest gehen?

Natürlich, an die Schulpflicht hat sich der Vater gehalten. Und die Schule ist für Mädchen wie Sebnem oft die einzige Möglichkeit, Kontakte außerhalb der Familie zu haben. Lehrerinnen und Schulsozialarbeiterinnen spielen häufig eine ganz zentrale Rolle für sie, weil sie außerhalb der familiären Kontrolle Gespräche führen können und ihre Probleme jemandem Erwachsenen anvertrauen können.

Es gibt doch auch noch Freunde …

Viele Mädchen, die wir sehen, dürfen von den Eltern aus keine Freunde, oft auch keine Freundinnen haben. Sie dürfen nicht rausgehen und oft auch keinen Besuch bekommen. Dementsprechend beschränken sich all ihre Möglichkeiten, Kontakt zu Gleichaltrigen außerhalb der Familie zu haben, auf die Schulstunden. Die Hilfe untereinander hat aber auch enge Grenzen, bei Minderjährigen auch rechtliche. Sebnem zum Beispiel hat die ständigen Schläge zu Hause nicht mehr ausgehalten und sich mit 15 Jahren bei einer Mitschülerin versteckt. Der Vater hat eine Vermisstenanzeige gestellt, und die Polizei hat sie bei der Freundin herausgeholt. Trotz ihres Flehens wurde sie wieder dem Vater übergeben, was nicht hätte passieren dürfen. Tatsächlich hat die Polizei vor Ort wohl wenigstens das Jugendamt über ihren Fall informiert. Die Folge war aber lediglich, dass das Jugendamt am nächsten Tag bei ihr zu Hause anrief. Während des Gesprächs hatte sie den Vater im Nacken, der ihr soufflierte, was sie zu sagen hatte. Nach dieser Erfahrung resignierte sie, zumal der Vater ihr drohte, er werde sie töten, sollte sie noch einmal weglaufen.

Dagegen stehen doch bundesdeutsche Gesetze gegen häusliche Gewalt.

Die sicher einen Fortschritt darstellen, aber gerade im Falle von Familien, die sich einem traditionellen Ehrkodex verpflichtet fühlen, meist zu kurz greifen. Auch wenn bei häuslicher Gewalt zum Beispiel der Ehemann von der Polizei der gemeinsamen Wohnung verwiesen wird, so nützt das der schutzbedürftigen Frau wenig, wenn umgehend dann seine Verwandten vor ihrer Tür stehen. Verstöße gegen Kontakt- und Näherungsverbote werden zudem bisher kaum geahndet.

Finden diese Familiendramen denn im rechtsfreien Raum statt?

Nicht in einem rechtsfreien Raum, aber Recht haben und sein Recht durchsetzen können, sind zwei paar Schuhe. Die Mädchen und auch wir hören immer wieder von den Familien, dass die Gesetze sie nicht interessieren. Auch Sebnems Vater hat zu ihr gesagt: “Die deutschen Gesetze sind mir egal, ich mache meine Gesetze und wenn ich dafür in den Knast gehe, ist mir das egal - Hauptsache meine Ehre ist gerettet.”

Hier fehlt es der Justiz an Einsicht in ihre Situation - ganz abgesehen davon, dass vermeintlich kulturelle und traditionelle Motive der Täter noch viel zu häufig zur Begründung milderer Urteile herangezogen werden. Wir brauchen einerseits mehr Wissen über kulturelle Hintergründe, andererseits aber auch ein Bewusstsein dafür, dass Menschenrechtsverletzungen an Frauen nicht mit solchen Motiven begründet werden dürfen.

Kam Sebnems Fall, wenn nicht vor Gericht, so doch zumindest zur Anzeige?

Welche Tochter zeigt ihren eigenen Vater an? Fast alle Mädchen, die wir sehen, schlagen sich mit Schuldgefühlen herum, fragen sich, ob die erlittenen Misshandlungen, die erlebte sexuelle Gewalt, die Verachtung und Lieblosigkeit nicht vielleicht doch etwas damit zu tun haben, dass sie schlechte, böse Mädchen sind, die nichts anderes verdient haben. Das Bewusstsein, durch ihr Weglaufen die Familienehre zu verletzen, wiegt schwer. Sie wissen, dass das Ansehen der Familie bei Nachbarn und Bekannten beschädigt ist, dass die Eltern sich vielleicht nicht mehr ins Heimatdorf trauen, dass die Heiratschancen ihrer Schwestern sinken, wenn klar wird, dass sie weggelaufen sind. Ihnen hier eine andere Sichtweise zu vermitteln, ist ein langer Prozess, zumal die Familie alles tun, um diesen psychischen Druck zu erhöhen.

Bei Sebnem allerdings stand die Angst vor ihrem Vater im Vordergrund. Ihr Vater hatte ihr immer wieder eingeschärft, dass er sie an jedem Ort der Welt finden würde. Spätestens seit ihrem missglückten ersten Fluchtversuch war sie zutiefst von seiner Allmacht überzeugt.

Aber Sie sind ja eine Kriseneinrichtung. Haben sich die Gemüter nicht nach wenigen Wochen wieder beruhigt?

Wenn Mädchen sich unter solchen Bedingungen dauerhaft von der Familie trennen, bleibt ihre Gefährdung oft jahrelang bestehen. Die Verletzung der Ehre verjährt nicht. Manchmal werden sie von der gesamten Verwandtschaft mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln gesucht. Und leider ist es nicht nur schwer, als Person zu verschwinden, sondern noch schwerer, bei den vielen bürokratischen Vorgängen keine Spuren zu hinterlassen. Das fängt damit an, dass die Mädchen bei ihrer Flucht meist keine Papiere mitnehmen konnten und alles neu besorgen müssen. Auch Sebnem ist letzten Endes von ihrem Vater gefunden worden - wir wissen bis heute nicht sicher, wie. Dass sie in Berlin war, war ihm vermutlich über das Jugendamt vor Ort mitgeteilt worden, außerdem hatte er eine Fangschaltung bei seinem Telefon installieren lassen. Sebnem hatte ab und zu ihre Stiefmutter, die seit kurzer Zeit bei ihnen lebte, angerufen. Möglicherweise hat sich aber auch ein junger Mann türkischer Herkunft, den Sebnem in Berlin kennen gelernt hatte, als Tippgeber und Retter der Ehre betätigt.

Konnten Sie ihr nicht helfen?

Sebnem kam von einem Ausgang nachmittags nicht wieder zurück und rief abends kurz an, sie sei wieder bei ihrem Vater. Es war deutlich, dass er im Hintergrund war und sie nicht offen reden konnte. Wir haben dann die Berliner Polizei alarmiert, die wiederum die Polizei vor Ort einschaltete. Die ist dann hingefahren und hat allein mit Sebnem gesprochen, sie wollte aber nicht mit. Ein paar Tage später rief sie wieder an, wollte ihre Sachen geschickt bekommen und meinte resigniert, ihr Vater habe letzten Endes doch Recht mit seiner Prophezeiung behalten, er könne sie überall finden. Jetzt wolle sie vernünftig sein und sich in das fügen, was er für sie beschließe.

Für uns war das ziemlich erschütternd. Sie war insgesamt sieben Wochen in unserer Einrichtung, wollte in Berlin bleiben und ihren Realschulabschluss nachholen und das war nun das Ergebnis.

Ist die Geschichte von Sebnem ein besonders krasser Fall?

Wie man’s nimmt. Krass in bezug auf unser Scheitern, Sebnem ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Wenigstens ist sie nicht umgebracht worden, allerdings befürchten wir, dass der Vater sie in die Türkei bringen und dort verheiraten könnte, um das Risiko eines erneuten Weglaufens mit absoluter Sicherheit zu unterbinden. In bezug auf ihre Familiengeschichte ist Sebnem eher typisch. Wir haben zum Beispiel einen hohen Prozentsatz von Scheidungs- und Trennungsfamilien, etwa 40 Prozent. Viele Mädchen bei uns kommen aus bildungsfernen Familien, deren sozialer Status sowieso schon durch Arbeitslosigkeit, Scheidung, Trennung, Suchtprobleme in der Familie und Ähnliches prekär ist. Wenigstens der Gehorsam der Frauen und Kinder soll verdeutlichen, dass man noch Kontrolle über das eigene Leben hat.

Sind Ehrenmorde ein spezifisch islamisches Problem?

Nein. Wir nehmen bei Papatya grundsätzlich Mädchen unterschiedlichster Herkunft auf, wenn sie selbst meinen, Schutz zu brauchen. Etwa 60 Prozent haben nach wie vor einen türkischen Hintergrund, darunter sind aber durchaus auch Angehörige christlicher Minderheiten, zehn Prozent kommen aus Ex-Jugoslawien, zehn Prozent aus dem Libanon, der Rest ist bunt gemischt. Entscheidend ist, ob ihre Familie sich einem patriarchalen Ehrkodex verpflichtet fühlt und das hat meist wenig mit der Religion zu tun, viel aber mit dem Bildungsstand und mit einer Land/Stadt-Migration, zusätzlich zu der über Ländergrenzen. Wir haben Mädchen aus Flüchtlingsfamilien genau so wie aus binationalen Ehen. Man könnte vermuten, dass zum Beispiel deutsch-türkische Ehen toleranter seien, aber auch hier setzen sich meist über die Väter traditionelle Erziehungsvorstellungen durch.

Was Not tut, ist eine offene Diskussion mit den Familien über ihren Ehrbegriff. Für manche Familien ist es schon eine Ehrverletzung, wenn die Nachbarn das Mädchen auf der Straße mit einem Jungen haben reden sehen. Für andere bedeutet erst eine uneheliche Schwangerschaft die Familienkatastrophe. Die Ehre zu “reinigen” gilt innerhalb der Community als ehrenhaft. Dementsprechend gibt es kein Unrechtsbewusstsein. Im Gegenteil, der Täter wird meist sogar bewundert. Das ist ein sozialer Erwartungsdruck, der umgekehrt dann auch auf den Männern lastet. Väter und Brüder mit liberaleren Einstellungen werden schnell verachtet. Männer können übrigens auch selbst Opfer von Ehrenmorden werden, vor allem, wenn sie eine Beziehung mit einer Frau eingehen, deren Familie das nicht akzeptiert. Und sie haben zum Beispiel als Homosexuelle ebenfalls mit massivem familiärem Druck bis hin zu Zwangsverheiratungen zu rechnen.

Hinter dem Verhalten der Familien stehen oft althergebrachte, patriarchalische Vorstellungen von Familienehre, die wahrscheinlich älter sind als der Islam. Im Islam gibt es weltweit ja sehr unterschiedliche Strömungen, die auch sich auch sehr unterschiedlich zu Gewalt im Namen der Ehre verhalten. Ich denke aber, dass gerade auch die muslimischen Verbände in Deutschland in der Pflicht stehen, massiv darüber aufzuklären, dass Ehrenmorde nicht mit dem Islam zu vereinbaren sind.

Hat denn der letzte spektakuläre Ehrenmord an einer Türkin am 7. Februar in Berlin nicht wenigstens die Behörden wachgerüttelt?

Zumindest sind die Medien aufmerksam geworden. Wir brauchen das Eingeständnis der Politik, dass wir auch in Deutschland ein Problem mit Ehrenmorden haben. Verglichen mit anderen Ländern wie Pakistan oder Jordanien haben wir zwar nur Einzelfälle von real ausgeführten Ehrenmorden. Aber dramatisch ist ja schon die Drohkulisse durch die männlichen Mitglieder der Familie. Wir möchten, dass sowohl in Bezug auf Ehrenmorde als auch auf Zwangsverheiratung stärker hingeguckt wird und dass sowohl Ausmaß als auch Ursachen und Folgen wissenschaftlich untersucht werden.

Papatya ist bundesweit die einzige Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen. Mädchen aus anderen Bundesländern werden oft, gerade wenn sie schon volljährig sind, an die regulären Frauenhäuser verwiesen. Die können ihren Bedürfnissen nach intensiver Beratung und Betreuung aber gar nicht gerecht werden.

Jugend- und Sozialämter, Polizei und Schulen müssen geschult werden, um sich auf die Situation von Opfern von Gewalt im Namen der Ehre einzustellen. Typische Missverständnisse bestehen zum Beispiel darin, dass sich Behördenmitarbeiter gar nicht vorstellen können, dass sich die Familie im Gespräch freundlich und kompromissbereit verhält, der Tochter aber hinterher massive Gewalt antut. Auch der Schutz vor Verschleppung in die Heimat der Eltern, etwa zur Verheiratung, muss verbessert werden.

Das Gespräch führte Thomas Klatt. Thomas Klatt ist Theologe und Journalist, Leiter des Evangelischen Journalistenbüros Berlin


Nach Einschätzung von Frauenrechtlerinnen sind seit Sommer 2004 in Deutschland mindestens zehn Ehrenmorde an Frauen verübt worden. 1986 wurde in Berlin vom türkisch-deutschen Frauenverein die Krisen- und Übergangseinrichtung Papatya (Türkisch: Kamille) gegründet, um Mädchen und jungen Frauen an einer geheimgehaltenen Adresse kurzfristig die Flucht vor familiärer Gewalt zu ermöglichen. Bei Papatya arbeitet ein Team von türkischen, kurdischen und deutschen Sozialpädagoginnen und einer Psychologin, die die Opfer rund um die Uhr betreuen. Papatya hat bisher über 1.200 Mädchen und junge Frauen betreut, die im Schnitt rund sechs Wochen in der Kriseneinrichtung bleiben, pro Jahr nimmt Papatya etwa 60 bis 70 Mädchen auf.

Zudem bietet die Einrichtung Internetberatung an: www.papatya.org . E-Mail: beratung@papatya.org


Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 26 vom 01.07.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Thomas Klatt und Verlag.

Veröffentlicht am

06. Juli 2005

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