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Oskar Lafontaine und die Spaßguerilla des Kapitals

Sozialdemokratisches Programm: Über einen “Unzeitgemäßen”, der auch ein “Ungleichzeitiger” ist

Von Josef Reindl

Oskar Lafontaine hat nach seinem Rücktritt inzwischen das dritte Buch geschrieben. Politik für alle variiert noch einmal das Grundthema, das auch die beiden anderen Veröffentlichungen durchzieht: eine Abrechnung mit der politischen Klasse und der SPD, die nach seinem Urteil auf der ganzen Linie versagt hat. Der Autor setzt mit seiner Trilogie Das Herz schlägt links, Die Wut wächst und nun Politik für alle einen eigenen Akzent in der Kapitalismusdebatte, doch nimmt er nicht in erster Linie die Kapitalisten und Manager aufs Korn, sondern die politische Elite. Wo die anderen einen Souveränitätsverlust des Staates sehen, da sieht Lafontaine einen Kompetenz- und Niveauverlust des Herrschaftspersonals. Für den unverzeihlichsten Fehler hält er die Adoption des Neoliberalismus, dessen Handschrift die allermeisten Regierungsdekrete tragen. Es gibt für Lafontaine keinen in der Sache liegenden Grund für das kapitalfromme und arbeiterfeindliche Handeln seiner Ex-Genossen, es entspringt einzig einer wirkmächtigen Ideologie, die inzwischen fast schon Züge einer Heilslehre angenommen hat.

So richtig es ist, gegen die “organisierte Verantwortungslosigkeit”, der zufolge die Politiker keine Handlungsalternativen mehr haben, zu polemisieren, so problematisch ist es zugleich, ihre Handlungsmacht zu überschätzen. Bei Lafontaine scheint es manchmal so, als habe der einzelne Nationalstaat unbegrenzte Macht über die Ökonomie, als könne er nach Belieben das Kapital bändigen und in den Dienst der Gesellschaft stellen. Doch selbst im “Goldenen Zeitalter” des Sozialstaats konnten Regierungen allenfalls vermitteln, aber nicht herrschen und die Ökonomie nach eigenen Vorstellungen lenken. Und wenn Lafontaine heute Politikversagen für den Grund der sozial-ökonomischen Krise hält, so fällt er auf die Propaganda der Wirtschaftsverbände herein, die dem Staat die Schuld dafür geben, dass die angeblichen Arbeitgeber keine Arbeit mehr geben und die Halbgötter in den Vorstandsetagen kein ordentliches Wachstum mehr hinkriegen.

Den “Primat der Politik” gibt es nur in Sozialkundebüchern und in der bürgerlichen Politikwissenschaft - nicht im richtigen Leben. Ihn herstellen zu wollen, hieße, dem Kapital den Fehdehandschuh hinzuwerfen und ein anderes ökonomisches System zu entwickeln. Davon ist ein Lafontaine mit seinen Auffassungen so weit entfernt wie seine Kritikerkollegen. Er legt einen systemimmanenten alternativen Politikentwurf vor: ein sozialdemokratisches Programm, das den Sozialstaat verteidigt und auf keynesianische Globalsteuerung setzt.

Die Stärken von Lafontaines Ansatz liegen auf zwei Ebenen: einer diskursanalytischen und einer empirischen. Er lüftet den Schleier der Diskursproduzenten. Er zeigt, wie von der Wirtschaft bezahlte think tanks die neoliberale Soße anrühren, wie die großen Beratungsgesellschaften in die Verbreitung des Marktradikalismus investieren, wie die beamteten Herren Professoren Verzicht und Flexibilität der Lohnabhängigen fordern, wie die Pressebengel die Botschaft des Neoliberalismus nachplappern. Es ist nicht übertrieben, von einer neoliberalen Invasion zu reden, die zu einer kulturellen Hegemonie geführt hat.

Wo er Neoliberalismuskritik als Sprachkritik übt, läuft Oskar Lafontaine zu seiner besten Form auf. Dies gilt ebenso, wenn er uns den Klassencharakter der deutschen Gesellschaft in Erinnerung ruft. Die obszöne Seite des Kapitalismus, die eine “soziale Marktwirtschaft” notdürftig verbergen konnte, bricht heute wieder ungeschminkt hervor. Ja, die Reichen schämen sich noch nicht einmal mehr ihres Reichtums, sie stellen ihn zur Schau, sie haben das schlechte Gewissen abgelegt. Lafontaine führt uns die Politik als Klassenkampf vor, und zwar als Klassenkampf von oben, in dem die SPD zum einen Verbündeter der Reichen ist und zum anderen auf eigene Faust die Lebensbedingungen der unteren Klassen verschlechtert. Es ist erfrischend, eine Politikanalyse vorgelegt zu bekommen, die nicht vergessen hat, dass es soziale Klassen gibt.

So brillant Oskar Lafontaines Sprach- und Bourgeoisiekritik ist, so enttäuschend fallen seine ökonomisch-politischen Analysen und seine Programmatik aus. Indem er sich auf den Staat kapriziert und in der Verblendung und Dummheit der Politik die Wurzel allen Übels ausmacht, verzichtet er darauf, nach den Gründen zu suchen, die eine keynesianische Politik schon in den siebziger Jahren daran hinderten, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und das Wachstum zu beschleunigen. Dieses Manko offenbart, dass Lafontaine kein dialektischer Denker ist, dass er die neuen Entwicklungen im High Tech-Kapitalismus kaum zur Kenntnis nimmt und eher konventionelle Politikkonzepte verfolgt.

Konsequenterweise fällt denn auch sein Aktionsprogramm mehr als dürftig aus. Er entwirft kein, den heutigen Bedingungen entsprechendes, effizientes und durchsetzbares Regulationsregime, um damit den Beweis zu erbringen, dass der demokratische Staat auf Dauer den kapitalistischen Tiger reiten kann.

Lafontaine ist nicht nur ein “Unzeitgemäßer”, was ihn ehrt. Er ist auch ein “Ungleichzeitiger”, was für einen politisch Handelnden einem Todesurteil gleichkommt. Besonders manifest wird dies, wenn er sein Kapitalistenbild zeichnet. “Heute beherrschen die Havanna paffenden Herren in ihren Nadelstreifenanzügen die öffentliche Szene”, schreibt er. Weit gefehlt. Die neuen Herren sind smart, fit, durchtrainiert, rastlos, cool, von lockerer Härte, ideale Figuren des Turbo-Kapitalismus, Klone der Effizienzideologie, Business-Krieger, die treiben und die getrieben werden. Ihre Souveränität, ihre Macht ist relativ; sie hängen mehr im Hamsterrad der kapitalistischen Maschinerie, als dass sie gestalten würden. Je mehr sie die Bühne der Unternehmen bevölkern, desto sicherer kann man den “rheinischen Kapitalismus” verabschieden, der von starken, unverwechselbaren und mit der Produktion und den Produkten vertrauten Unternehmerpersönlichkeiten dominiert war. Mit dem McKinsey-Typus zieht die Herrschaft der Controller und Finanzstrategen herauf, die es gelernt haben, in der Perspektive kurzfristiger Profitmaximierung und der radikalen Infragestellung aller bestehenden Strukturen zu denken.

Wo sich oben mit dem McKinsey-Klon eine neue Individualitätsform herausbildet, da entwickeln sich auch unten andere Subjektformen. Lafontaine neigt dazu, die Lohnabhängigen nur in der Opferrolle zu sehen. Die modernen Rationalisierungsstrategien zielen aber darauf ab, den Arbeiter als Unternehmer anzurufen, die Arbeit zu subjektivieren. Jeder soll sich für den Erfolg des Unternehmens verantwortlich fühlen, jeder wird der Tendenz nach zu einem profit center, zu einer Ich-AG, zu Taylor in eigener Sache.

Dem Kapital ist es in einer beispiellosen Modernisierungsoffensive gelungen, die Köpfe der Beschäftigten zu kolonisieren. Die schärfsten Widersprüche toben heute in den Lohnabhängigen selbst: Sie sollen Unternehmer und Arbeiter gleichzeitig sein. Sie treten in ihrer Rolle als Schnäppchenjäger gegen sich in ihrer Rolle als Produzenten an, sie trachten als Geldanleger nach den hohen Renditen, die ihre Arbeitsplätze gefährden. Der moderne Arbeitnehmer ist ein zerrissenes Wesen. Erfolgsträchtige Politikkonzepte müssen ihn in dieser Paradoxie und Ambivalenz abholen und eine lebenswerte Dilemma-Balance in Aussicht stellen.

Eine andere Schwäche von Lafontaine ist, dass er zwar mit Verve gegen den Geldfetisch wettert, aber selber mit Haut und Haaren im Arbeitsfetisch steckt. Eine Sottise wie “Arbeiten ist schön - ich könnte stundenlang zusehen”, käme ihm, der sich in früheren Büchern auf Paul Lafargues Recht auf Faulheit berufen hat, heute wohl kaum mehr über die Lippen. Dabei ist es unübersehbar, dass der Arbeitsfuror allseits nur Unglück hervorbringt: Er ruiniert unsere Sozialversicherungssysteme, die an den Faktor Arbeit gebunden sind; er treibt uns in allerlei psychische Leiden, weil wir unsere Würde von der Arbeit ableiten und die Seele gegen die Zumutung des “Arbeitskraftunternehmers” rebelliert; er bringt ein demographisches Problem hervor, weil der Workaholic sich selbst genug ist; er führt zu dem paradoxen Phänomen von Überarbeit auf der einen und Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite.

Es gibt also genügend Gründe, dem Arbeitsfetisch zu entsagen, zumal in einer Zeit, in der aufgrund der informationstechnischen Revolution die Arbeit immer überflüssiger und sinnloser wird. Die Vergötterung, welche die Arbeit derzeit erfährt (Angela Merkel: “Sozial ist, was Arbeit schafft”), ist ein letztes Aufbäumen gegen die nüchterne Einsicht, dass in der Zukunft die Arbeit ihre Schlüsselstellung in der Gesellschaft verliert.

Leider hat Oskar Lafontaine bisher den Geldfetisch zwar scharf kritisiert, aber nicht gründlich hinterfragt. Warum hat denn heute das fiktive Kapital die Macht übernommen? Weil es enorm viel davon gibt. Warum existiert soviel Geld-, Aktien-, Finanzkapital? Weil die produktiven Kapitalisten ganze Arbeit geleistet und eine riesige Profitmasse akkumuliert haben, weil durch die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme enorme Summen in die privaten Versicherungen und in Pensionsfonds fließen, weil all dieses Kapital nicht in der Realwirtschaft reinvestiert wird, sondern als fiktives Kapital auf den Aktienmärkten sein Unwesen treibt. Kapital, das nicht produktiv angewendet wird, vagabundiert herum, ist beständig auf der Suche nach der höchsten Verzinsung, es treibt Spekulationsblasen hervor und führt Krieg gegen ganze Währungen und Volkswirtschaften. Es operiert wie eine Spaßguerilla des Kapitals. Warum aber meidet es die Anlage in der Realwirtschaft?

Die Neoliberalen glauben, das liege an der niedrigen Rendite, und sie verordnen deshalb der Wirtschaft ein Sanierungsprogramm, an dessen Ende zweistellige Profitraten stehen sollen. Doch genützt hat ihre bittere Medizin nicht. Worin ist also dann die Investitionszurückhaltung begründet? Könnte es sein, dass die Spaßguerilla rational handelt, dass es nicht nur nicht genug zu verdienen gibt im produktiven Sektor, sondern dass der produktive Sektor an eine Grenze stößt? Die jetzt schon Jahrzehnte währende geringe Investitionsneigung in fast allen entwickelten Ländern deutet darauf hin: der Kapitalismus ist erschöpft, sein Energiestrom versiegt langsam, er “verfault”. Das neoliberale Trommelfeuer und die permanente Anrufung des Gottes “Innovation” vermögen nur mühsam zu verdecken, dass wir in ein Stadium des “rasenden Stillstands” eingetreten sind. Das Kapital hat sich alles einverleibt, es macht sich jetzt über die öffentlichen Güter her (Public Private Partnership, Cross Border Leasing), und es hat den Menschen samt seiner Gene ins Visier genommen. Andere lohnende Ziele sind nicht mehr in Sicht.

Von der schöpferischen Zerstörung, die den modernen Kapitalismus ausgezeichnet und ihn so überlebensfähig gemacht hat, ist nur noch die Zerstörung geblieben. Der Kapitalismus erfindet sich nicht mehr neu, wie er das in der Vergangenheit getan hat, er zersetzt sich vielmehr von innen heraus. Er wird ein Exit-Kapitalismus - die Kapitalgeber gehen kein Risiko mehr ein, sondern sie denken bei ihren Engagements schon den Ausstieg mit. Aus dieser Perspektive ist der Neoliberalismus keine Konterrevolution gegen den Sozialstaat und die “soziale Marktwirtschaft”, sondern das letzte Aufgebot des Kapitals gegen seine andauernde Verwertungskrise.

Oskar Lafontaine hat von alldem eine Ahnung, doch er wagt den Sprung aus der Logik des Kapitalismus nicht. Er klammert sich an eine Ausformung dieses Systems, die nicht mehr zurückzuholen ist. Ludwig Erhard und Walter Eucken werden für ihn zu Gewährsleuten seines Politikansatzes. Das ist hoffnungslos anachronistisch! Lafontaine kann so auch den Neoliberalismus nur als Ideologie brandmarken, die er zweifelsohne ist. Doch warum diese Ideologie solche Erfolge feiert, warum sie so großen Einfluss hat, das vermag er nicht oder nur als Ergebnis von Manipulation zu erklären.

Die Wirkungsmacht des Neoliberalismus resultiert aus der Umcodierung der Kapitalismuskritik (Bürokratie, Hierarchie, Zentralismus, Arbeitsteilung, Entfremdung) in eine Kritik der sozialen Einhegung des ökonomischen Prozesses. Der Neoliberalismus zieht im Namen der Freiheit und mit dem Gestus des echten Reformers gegen alles ins Feld, was sich dem Imperialismus der Ökonomie in den Weg stellt. Sein marktradikales Projekt ist nach einem Jahrzehnt postmoderner Dekonstruktion noch einmal ein utopischer Entwurf, der auf dem “gesunden Menschenverstand” des “homo oeconomicus” aufsetzt. Darin, in der Verknüpfung von Vision und common sense liegt seine Anziehungskraft begründet. Der Neoliberalismus ist die konkrete Utopie des Kapitals … und weit und breit ist kein Gegenentwurf zu sehen. Seine Apologeten und seine Jünger sind nicht verführt und manipuliert worden, wie Lafontaine suggeriert. Sie wissen, was sie tun!

Josef Reindl ist Sozialwissenschaftler am Institut für Sozialforschung Saarbrücken.

Siehe auch Oskar Lafontaine: Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft, Econ Verlag, Berlin 2005.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 25 vom 24.06.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Josef Reindl und Verlag.

Veröffentlicht am

01. Juli 2005

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