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Alltag in Bagdad - aus der Ferne betrachtet

Von Dahr Jamail - ‘Dahr Jamail’s Iraq Dispatches’ / ZNet 23.05.2005

Der Zusammenbruch des Irak beschleunigt sich. Wir haben es heute in den Nachrichten gesehen: Im Süden lieferten sich Mitglieder der Mahdi-Armee - der Miliz des Schiitengeistlichen Muqtada al-Sadr - Feuergefechte mit Mitgliedern der ING, der Irakischen Nationalgarde. Dazu muss man wissen, dass sich die ING im Süden überwiegend - vielleicht sogar zu hundert Prozent - aus Leuten der Badr-Armee (Schiitengruppe) zusammensetzt. Somit kämpfen jetzt also Schiiten gegen Schiiten.

Gleichzeitig laufen die Dinge in Bagdad kaum besser. Mein Übersetzer und Freund Abu Talat hat mit seiner Familie gesprochen. Sie lebt im Bagdader al-Adhamiya-Distrikt. Genau gegenüber Adhamiya, auf der anderen Tigris-Seite, liegt das überwiegend von Schiiten bewohnte Khadamiyah-Viertel. Adhamiya ist überwiegend sunnitisch.

Als in Khadamiyah eine Autobombe explodierte, die einen ING-Mann (mindestens einen) tötete, feuerten ein paar Leute aus Khadamiyah mit Gewehren über den Tigris auf Adhamiya. Laut zweier Quellen aus Adhamiya wurden dabei mehrere Häuser schwer beschädigt - zerborstene Scheiben und zerschossene, pockennarbige Mauern, usw.. Als das Feuer von Adhamiya aus erwidert wird, bombardiert ein amerikanisches Kriegsflugzeug eine kleine Moschee auf der Adhamiyah-Seite des Tigris. Die Gründe sind bislang unbekannt.

Abu Talat telefoniert mit seiner Frau über IM (Internet mobil). Dabei kollabiert sie fast, ganz in ihrer Nähe wird geschossen, fallen Bomben. “Was kann ich nur tun?” fragt Abu Talat mich. Er sitzt am Computer nebenan im Internet-Café. “Meine Familie ist in großer Gefahr. Was kann ich tun, um ihnen zu helfen?” Ich starre ihn ratlos an…. habe keine Antwort. Ich helfe Abu Talat, die Telefonnummern seiner Freunde und Familienangehörigen herauszufinden, die in der Gegend um Bagdad leben. Sie sollen herausfinden, wie es um seine Familie steht. Er macht fünf Anrufe, um über ihre Situation konstant auf dem Laufenden zu sein - und weint. Zwischen den Anrufen setzt er das Telefon ab und nimmt den Kopf in beide Hände.

Später redet er mit seiner Schwester. Von ihr erfährt er, dass irakische Soldaten in den Häusern ihres Viertels Razzien durchführen. Sie verhaften Männer im “kampffähigen” Alter. Laut Definition des US-Militärs, das ja auch Häuser-Razzien durchführt, bedeutet ‘kampffähiges Alter’ circa zwischen 15 und 50. “Fast hätten sie auch meinen Neffen mitgenommen”, sagt Abu Talat frustriert. “Aber dank seines Vaters, der ihnen mitteilte, sein Sohn sei Arzt und gehe heutzutage nicht mehr aus dem Haus, ließen sie ihn zufrieden”.

Abu Talat hat veranlasst, dass seine Frau mit den beiden jungen Söhnen zu einem Verwandten geht - um zu verhindern, dass die Jungen festgenommen werden. Dabei ist der eine gerade mal 14. Ahmed ist ein Junge mit sanfter Stimme, der keiner Fliege etwas zuleide tut. Als ich im Februar in Bagdad war, tranken wir im Haus von Abu Talat Tee. Plötzlich kam Ahmed herein und wollte seinem Vater die Schuhe polieren. “Das brauchst du nicht - vor Dahr”, sagte Abu Talat zu seinem Jüngsten. “Du bist mein Vater, ich dein Sohn”, antwortete Ahmed. “Ich poliere deine Schuhe gerne. Dahr versteht schon, dass ein Sohn so etwas für seinen Vater tut”. Abu Talat hob die Hände und strahlte. Ein breites Lächeln überzog sein Gesicht.

Auch meine Freundin Aisha, hier bei uns, ist Irakerin. Auch einer ihrer Freunde lebt in Adhamiyah. “Nur einen Tag, bevor das alles passierte, ist er aufgebrochen, um seinen kranken Sohn zur Krebsbehandlung nach Amman zu bringen”, erzählt mir Aisha, während wir spät an diesem Abend unter Palmen sitzen - es herrscht nahezu Vollmond - , und bei ihrer Mutter das Abendessen einnehmen. Sie sagt, ihr Freund sei überzeugt, sein Sohn wurde durch abgereichertes Uran vergiftet (DU poisoning). “Er (der Freund) hat erfahren, dass ein Raum seines Hauses zerstört wurde, weil ein amerikanischer Helikopter eine Rakete darauf abschoss”, sagt Aisha und schüttelt den Kopf.

Nach den (dramatischen) Ereignissen vom 20. Und 21. Mai haben sich die Dinge in Bagdad inzwischen beruhigt - etwas beruhigt.

Doch auch am heutigen Tag kommt Abu Talat panisch zu mir - ob ich mich an die Nummer von Ahmeds Mobiltelefon erinnere. “Man hat gerade auf ihn geschossen”, erzählt er. Ich teile die Panik meines Freundes, fange an, nach der Nummer zu kramen. Ahmed ging die Straße entlang, als zwei Männer auf ihn zu kamen und seinen Ring und das Mobiltelefon verlangten. Ahmed brüllte: “Diebe! Diebe!” Daraufhin traten sie ihn, bis er am Boden lag. Sie feuerten ihre Pistolen über seinen Kopf. Mit vorgehaltener Waffe fuhren sie fort, ihn auszuplündern. Das alles hat Abu Talat von seinem ältesten Sohn erfahren.

Abu Talat ruft jetzt zu Hause an. Es geht Ahmed gut, sagt er, aber er weine. “Morgen hat er Prüfungen, er schläft jetzt.” Abu Talat stehen die Tränen in den Augen. “Es geht ihm gut, aber er ist völlig mit den Nerven runter”. Ja, so lebt es sich heutzutage in Bagdad, und so lebt es sich mit einem guten Freund an der Seite, dessen Familie in Gefahr schwebt, und der von Amman aus versucht, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Abu Talats Familie ist nur eine Familie - unter 5,5 Millionen Irakern - die in dieser brutalen, chaotischen, rechtlosen Situation (Produkt der britisch-amerikanischen Besatzung, die ihr Land zerstört hat) ums Überleben kämpfen.

Quelle: ZNet Deutschland vom 25.05.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Daily Life in Baghdad, from Afar

Veröffentlicht am

27. Mai 2005

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