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Wird die Antikriegsbewegung sich ihren Aufgaben diesmal gewachsen zeigen?

Falluja und die Realität des Krieges

Von Rahul Mahajan - Counterpunch / ZNet 09.11.2004

Der Angriff auf Falluja hat begonnen. Er wird uns als Befreiung der Bevölkerung Fallujas verkauft; man will uns weismachen, dass es sich dabei um einen notwendigen Schritt zur Einführung der “Demokratie” im Irak handelt. Das ist eine Lüge.

Ich war während der Belagerung der Stadt im April 2004 in Falluja (>> Die Tore zur Hölle öffnen sich. Ein Bericht aus Bagdad ), und ich möchte mit den folgenden kargen Worten ein Bild davon zeichnen, was ein solcher Angriff in Wirklichkeit bedeutet.

Falluja ist heiß und trocken; ähnlich wie Südkalifornien ist das Gebiet nur durch intensive Bewässerungsmaßnahmen zu einer landwirtschaftlichen Region geworden. Falluja gilt seit Jahren als besonders fromme Stadt; die Menschen nennen den Ort die Stadt der 1000 Moscheen. Als Saddam Hussein Mitte der neunziger Jahre verlangte, sein Name solle in den traditionellen Ruf zum Gebet aufgenommen werden, weigerten sich die Imame, das zu tun.

Zu Beginn des Angriffes im April bombardierten die US-Streitkräfte das Kraftwerk, und für die nächsten paar Wochen war die Stadt dunkel und ohne Strom. Elektrizität gab es nur aus Generatoren und für besonders wichtige Einrichtungen wie Moscheen und Krankenhäuser. Die Stadt wurde unter Belagerung gestellt und das Verbot, Nahrung, Medizin und andere Güter des grundlegenden Bedarfs hinein zu bringen, wurde erst durchbrochen, als die irakische Bevölkerung die Straßensperren der Belagerer massenhaft ignorierten.

Das Bombardement und die Angst vor weiteren Bombardierungen erzeugten eine allgegenwärtige Angst. Nichtkombattanten und Familien mit Kranken, Alte und Kinder verließen die Stadt in Scharen. Nachdem sie zunächst gelegentlich versucht hatten, die Menschen am Verlassen der Stadt zu hindern, ließen die US-Streitkräfte schließlich jedermann gehen - mit Ausnahme so genannter “Männer im wehrfähigen Alter”, das heißt, Jugendliche und Männer im Alter zwischen 15 und 60 Jahren. Das Hindern von Nichtkombattanten am Verlassen eines Ortes ist ein Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht.

Eines ist klar: Wenn eine Militärführung schon davon ausgeht, dass jede männliche Person im wehrfähigen Alter als Feind zu betrachten ist, ist dies das sicherste Anzeichen dafür, dass sie sich samt ihrer Armee im falschen Land befindet und dass der Krieg, den sie führt, ein Krieg gegen die Bevölkerung und nicht gegen deren Unterdrücker ist. Ein solcher Krieg kann kein Befreiungskrieg sein.

Das wichtigste Krankenhaus Fallujas liegt abseits des größeren Teils der Stadt auf der anderen Seite des Euphrat. Gleich zu Beginn ihres Angriffs sperrten die Amerikaner die größte Brücke und schnitten damit das Krankenhaus von der Stadt ab. Ärzte, die Patienten behandeln wollten, mussten dazu das Krankenhaus verlassen und waren dann ausschließlich auf die Geräte angewiesen, die sie mitnehmen konnten. Diese benutzten sie dann zur Einrichtung von Behelfskrankenhäusern. Das Nothospital, das ich damals besuchte, war vor den Angriffen eine Nachbarschaftsklinik gewesen, das nur ein einziges Vierbettzimmer und keine Operationsmöglichkeiten hatte. Die Ärzte hielten die Blutkonserven jetzt in einem umfunktionierten Getränkeautomaten auf Temperatur. Von einem anderen Krankenhaus erzählte man mir, es sei zuvor eine Autowerkstatt gewesen. Diese de facto-Schließung eines Krankenhauses (die nicht die einzige im Irak war, die ich dokumentieren konnte) stellt ebenfalls eine Verletzung der Genfer Konvention dar.

In Falluja hörte man im Hintergrund kontinuierlich das Getöse von Artillerie, unterbrochen vom kürzeren, schrilleren Lärm der Panzerfäuste der Mudschaheddin. Schon nach ein paar Minuten bleibt einem keine andere Wahl, als die Geräusche nicht mehr zu beachten, aber tatsächlich hört man sie unbewusst dennoch die ganze Zeit. Selbst heute fühle ich mich, wenn ich das Geräusch von Donner höre, oft direkt an den 10. April 2004 und in die staubigen Straßen Fallujas zurückversetzt.

Zusätzlich zu ihrer Artillerie, den Bombern, die 500-, 1000- und 2000-Pfund-Bomben abwarfen, und den mörderischen AC-130 Spectre-Kampfhubschraubern, die innerhalb von weniger als 60 Sekunden einen ganzen Häuserblock zerstören können, setzten die US-Marines im gesamten Stadtbereich Scharfschützen ein. Mehrere Wochen lang bestand Falluja aus etlichen voneinander abgegrenzten Häuserzügen, die jeweils durch ein Niemandsland getrennt waren, das von Scharfschützenfeuer bestrichen wurde. In der Regel trafen die Scharfschützen keinerlei Wahl, sondern feuerten auf alles, was sich bewegte. Von den zwanzig Personen, die ich in die Klinik kommen sah, in der ich mich für ein paar Stunden aufhielt, waren nur fünf “Männer im wehrfähigen Alter”. Stattdessen sah ich alte Frauen, alte Männer, und außerdem ein zehnjähriges Kind mit einem Kopfschuss, der, wie die Ärzte mir erklärten, tödlich sein würde, obwohl sie das Kind in Bagdad vielleicht hätten retten können.

In einer Hinsicht jedoch war das Feuer der Scharfschützen durchaus nicht wahllos: Jeder einzelne Krankenwagen, den ich sah, war von Kugeln durchlöchert. Zwei der Autos, die ich mir näher ansah, wiesen klare Spuren eines absichtlichen, gezielten Beschusses auf. Freunde von mir, die sich herauswagten, um verwundete Menschen zu bergen, wurden ebenfalls beschossen.

Als wir erstmals über diese Fakten berichteten, brach ein fast einhelliger Chor der Empörung über uns herein. Viele wollten die Berichte schlicht und einfach nicht glauben. Einige Leute fragten mich, woher ich denn wissen wolle, dass nicht die Mudschaheddin hinter dem Beschuss steckten. Eine wirklich interessante Frage. Stellen wir uns einmal vor, Brownsville in Texas wäre von den Vietnamesen eingeschlossen und bombardiert worden (wovor uns in Wirklichkeit natürlich George W. Bush während des Vietnamkrieges so mutig beschützt hat), und dabei wären auch die Krankenwagen der Stadt beschossen worden. Ich nehme doch stark an, dass unter diesen Umständen keiner auf die Idee gekommen wäre, die Frage, aufzuwerfen, ob vielleicht die Bewohner von Brownsville selbst auf ihre eigenen Ambulanzen geschossen haben. Davon abgesehen wurden unsere Berichte später vom irakischen Gesundheitsministerium und sogar vom US-Militär bestätigt.

Nach den zuverlässigsten Schätzungen wurden bei den Angriffen im April 2004 900-1000 Menschen direkt getötet - das heißt, in Stücke gerissen, verbrannt oder erschossen. Meiner auf Medienberichten und eigenen Beobachtungen vor Ort beruhenden Schätzung nach waren davon etwa zwei Drittel Nichtkombattanten.

Aber das von diesem Angriff angerichtete Unheil geht weit über diese Zahlen hinaus. Man kann derzeit überall von der Bombardierung so genannter Schlupfwinkel des Terroristen Sarkawi in Falluja lesen, aber die entsprechenden Berichte sagen einem nicht, was das konkret heißt. Wir lesen von Präzisionsschlägen, und es stimmt, dass die US-amerikanischen satellitengelenkten Waffen, solange sie - wie in 80 bis 85 % der Fälle - wie vorgesehen funktionieren, sehr akkurat sind. Ihr “Zielradius” beträgt 10 Meter, was besagt, dass sie das Ziel auf zehn Meter genau treffen. Aber der Radius der Explosionswirkung selbst noch der kleinsten dieser Waffen, der 500-Pfund-Bombe, beträgt 400 Meter, und jede einzelne dieser Bomben lässt das gesamte Wohnviertel erzittern und Fenster und Geschirr zu Bruch gehen. Eine Stadt unter einem solchen Bombardement ist eine Stadt in ständiger Angst.

Wir lesen die Berichte über so und so viele Getötete und so und so viele Verwundete, und in der Tat sollten wir uns diese Zahlen merken, denn Zahlen sind wichtig. Aber zugleich ist es ebenso wichtig, sich daran zu erinnern, dass sie aus einem Kriegsgebiet stammen und schweres Leid für alle Menschen bedeuten, die dort leben. Der erste Angriff der Besatzungsmacht auf Falluja war ein militärischer Fehlschlag, und diesmal ist der Widerstand stärker, besser bewaffnet und besser organisiert. Das heißt, dass das US-Militär, um zu “gewinnen”, sämtliche Hemmungen beiseite schieben muss. Selbst im schrecklichen Grauen solcher Ereignisse gibt es noch graduelle Unterschiede, und wir - und vor allem die Bevölkerung in Falluja - müssen uns auf noch viel Schlimmeres gefasst machen. George W. Bush hat soeben erst von dem neuen Mandat gesprochen, das die Welt ihm erteilt habe.

Der jetzige Angriff wird, genau wie der Angriff im April, international verurteilt werden, aber die US-Regierung wird diese Appelle ignorieren; abgesehen vom Widerstand im Irak selbst werden die einzigen, von denen sich die Bevölkerung Fallujas eine Minderung der Schrecken erhoffen kann, wir sein, die Antikriegsbewegung im Rest der Welt. Wir haben eine Verantwortung, der wir im April nicht gerecht geworden sind und vor der wir auch im August, als die Stadt Najaf auf ähnliche Art angegriffen wurde, versagt haben. Werden wir uns unserer Aufgabe diesmal gewachsen zeigen?

Rahul Mahajan ist Verantwortlicher der Website “Empire Notes”, die regelmäßig Kommentare zur US-Außenpolitik, zur Besatzung des Irak und zur Situation des US-amerikanischen Imperiums bringt. Er hat den besetzten Irak zweimal besucht und war während der Belagerung der Stadt im April 2004 in Falluja (>> Die Tore zur Hölle öffnen sich. Ein Bericht aus Bagdad ). Er veröffentlichte zuletzt das Buch Full Spectrum Dominance: U.S. Power in Iraq and Beyond. Seine E-Mail-Adresse ist rahul@empirenotes.org.

Quelle: ZNet Deutschland vom 10.11.2004. Übersetzt von: Michael Schiffmann.

Veröffentlicht am

10. November 2004

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