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Der wichtigste Terrorismus ist “Unserer”

Von John Pilger - New Statesman / ZNet 16.09.2004

Die Welt teilt sich in zwei feindlich Lager: Islam und “wir”. Das ist die unfehlbare Botschaft von westlichen Regierungen, Presse, Radio und Fernsehen. Für Islam, lies Terroristen. Es erinnert an den kalten Krieg, als die Welt zwischen “Roten” und uns geteilt und sogar eine Strategie der Vernichtung zu unserer Verteidigung zulässig war. Jetzt wissen wir, oder wir sollten wissen, dass soviel davon eine Farce war; der Öffentlichkeit zugänglich gemachte amtliche Dokumente machen deutlich, dass die sowjetische Bedrohung nur für den öffentlichen Konsum war.

Jeden Tag, wie während des Kalten Krieges, wird uns ein moralischer Ein-Weg-Spiegel wie eine wahre Spiegelung der Ereignisse vorgehalten. Der neuen Bedrohung wird mit jedem Terroranschlag Antrieb verliehen, sei es in Beslan oder Jakarta. Durch unseren Ein-Weg-Spiegel gesehen machen unsere Führer bedauernswerte Fehler, aber ihre guten Absichten werden nicht in Frage gestellt.

Tony Blairs “Idealismus” und “Anständigkeit” werden durch seine zugelassenen Mainstream-Kritiker dargestellt, wenn sich die zurechtgebastelte griechische Tragödie seines politischen Niedergangs auf der Bühne der Medien öffnet. Obwohl Blair Anteil an dem Töten von mehr als 37.000 irakischen Zivilisten hatte, sind Blairs Ablenkungen (und nicht seine Opfer) Neuigkeiten: von seiner geheimnisumwobenen Rivalität mit dem Finanzminister Gordon Brown, seiner zweiten Hälfte, bis zu seiner damaszenen Wendung zu den Gefahren der Erderwärmung. Im Bezug auf die Greueltat von Beslan kann Blair ohne Ironie oder Widerspruch sagen, dass “dieser internationale Terrorismus sich nicht durchsetzen wird”. Dieses sind die gleichen Worte, die Mussolini sprach, kurz nachdem er Zivilisten in Abyssinia bombardiert hatte.

Es gibt wenige Ketzer, die hinter den Ein-Weg-Spiegel blicken und die völlige Unehrlichkeit von all diesem sehen und die Blair und seine Kollaborateure mit Kriegsverbrechern im wörtlichen wie im legalen Sinne identifizieren und Beweise seines Zynismus und seiner Unmoral präsentieren; aber sie haben große Unterstützung in der Öffentlichkeit, deren Bewusstsein nach meiner Erfahrung nie größer war. Es ist die leidenschaftliche Gleichgültigkeit der britischen Öffentlichkeit, wenn nicht Verachtung für die politischen Spiele von Blair und Brown und ihrer Gerichte und ihr steigendes Interesse dafür, wie die Welt wirklich ist, was die Mächtigen nervös macht.

Lasst uns einige Beispiele ansehen, wie die Welt präsentiert wird und wie sie wirklich ist. Die Besetzung des Iraks wird als Durcheinander präsentiert: ungeschicktes, inkompetentes amerikanisches Militär gegen islamische Fanatiker. In Wirklichkeit ist die Besetzung ein systematischer, blutrünstiger Angriff auf die Zivilbevölkerung durch eine korrupte amerikanische Offiziersklasse, genehmigt durch ihre Vorgesetzten in Washington. Letzen Mai benutzten die US-Marinesoldaten Kampfpanzer und Kampfhubschrauber, um die Slums von Fallujah anzugreifen. Sie gaben das Töten von 600 Leuten zu, was eine weit höhere Ziffer ist als die gesamte Anzahl von Zivilisten, die durch die “Aufrührer” während des letzten Jahres getötet wurden. Die Generäle waren ehrlich; dieses sinnlose Gemetzel war Rache für das Töten von drei amerikanischen Söldnern. 60 Jahre zuvor tötete die SS-Division des dritten Reiches 600 französische Zivilisten in Oradour-sur-Glane als Rache für die Entführung eines deutschen Offiziers durch den Widerstand. Gibt es da einen Unterschied?

In diesen Tagen schießen die Amerikaner routinemäßig Raketen auf Fallujah und andere dicht besiedelte städtische Gebiete ab; sie ermorden ganze Familien. Wenn das Wort Terrorismus irgendeine modere Anwendung hat, dann ist es dieser Terrorismus der Industriestaaten. Die Briten haben einen anderen Stil. Es gibt mehr als 40 bekannte Fälle von Irakern, die durch britische Soldaten getötet worden sind. Nur ein Soldat wurde angeklagt. In der jetzigen Ausgabe des Magazins “The Journalist” schrieb Lee Gordon, ein freiberuflicher Reporter: “Als Brite im Irak zu arbeiten ist gefährlich, besonders im Süden, wo unsere Truppen einen Ruf für Brutalität haben (was nicht zu Hause berichtet wird).” Noch wird zu Hause von der wachsenden Unzufriedenheit unter britischen Soldaten berichtet. Das beunruhigt das Verteidigungsministerium dermaßen, dass es sich angeschickt hat, die Familie des 17-jährigen Soldaten David McBride zu beruhigen, indem es ihn von der AWL-Liste genommen hat, nachdem er sich geweigert hatte, im Irak zu kämpfen. Fast alle Familien von im Irak getöteten Soldaten haben die Besetzung und Blair angeprangert, was bisher einmalig ist.

Nur durch Anerkennen des Terrorismus von Staaten ist es möglich, Akte des Terrorismus von Gruppen und Individuen zu verstehen und damit umzugehen, die, wie entsetzlich auch immer, im Vergleich doch winzig sind. Ferner ist ihre Quelle unentrinnbar der öffentliche Terrorismus, für den es keine Mediensprache gibt. Auf diese Weise war der Staat Israel fähig, viele Außenstehende zu überzeugen, dass er nur ein Opfer des Terrorismus ist, wobei im Grunde genommen sein eigener unerbittlich geplanter Terrorismus die Ursache für die berüchtigte Vergeltung durch palästinensische Selbstmordattentäter ist. Bei allem abwegigen Zorn Israels gegen die BBC - eine erfolgreiche Form von Einschüchterung - berichteten BBC-Reporter niemals von Israelis als Terroristen: dieser Ausdruck gehört ausschließlich zu Palästinensern, die in ihrem eigenen Land inhaftiert sind. Es ist nicht überraschend, wie die kürzliche Untersuchung der Glasgow Universität folgerte, dass viele Fernsehzuschauer in Britannien glauben, dass die Palästinenser die Angreifer und Besetzer sind.

Am 7. September tötete ein palästinensischer Selbstmordattentäter 16 Israelis in der Stadt Beersheba. Jeder Fernsehbericht erlaubte dem Sprecher der israelischen Regierung diese Tragödie zu nutzen, um eine Rassentrennungsmauer zu bauen - wobei die Mauer zu den bedeutendsten Ursachen palästinensischer Gewalt zählt. Fast jeder Nachrichtenbericht kennzeichnete das Ende einer fünfmonatigen Periode von “vergleichbarer Ruhe und Frieden” und “einer Pause in der Gewalt”. Während dieser fünf Monate von vergleichbarer Ruhe und Frieden wurden 400 Palästinenser getötet, 71 von ihnen durch Ermordung. Während der Pause von Gewalt wurden mehr als 73 palästinensischer Kinder getötet. Ein Dreizehnjähriger wurde mit einer Kugel durchs Herz getötet, eine Fünfjährige wurde ins Gesicht geschossen, als sie Arm in Arm mit ihrer zweijährigen Schwester ging. Der Körper des vierzehnjährigen Mazen Majid wurde von 18 israelischen Kugeln durchlöchert, als er und seine Familie aus ihrem niedergerissenen Haus flohen.

Nichts davon wurde in Britannien als Terrorismus berichtet. Das meiste davon wurde gar nicht berichtet. Schließlich war das eine Periode von Frieden und Ruhe, eine Pause der Gewalt. Am 19. Mai feuerten israelische Panzer und Helikopter auf friedliche Demonstranten, wobei sie acht von ihnen töteten. Die Greueltat hatte eine bestimmte Bedeutung; die Demonstration war Teil einer wachsenden gewaltlosen palästinensischen Bewegung, die friedlichen, oft von Gebeten begleitete Protestversammlungen entlang der Rassentrennungsmauer abgehalten hat. Der Aufstieg dieser Bewegung im Stile Ghandis wird kaum von dem Rest der Welt zur Kenntnis genommen.

Die Wahrheit über Tschetschenien wird ähnlich unterdrückt. Am 4. Februar 2000 attackierten russische Flugzeuge das tschetschenische Dorf Katyr Yurt. Sie benutzten “Vacuum-Bomben”, die Benzingas freigeben und menschliche Lungen aussaugen, und durch die Genfer Konvention verboten sind. Die Russen bombardierten einen Konvoi von Überlebenden unter einer weißen Flagge. Sie töteten 363 Männer, Frauen und Kinder. Es war einer von zahllosen, relativ unbekannten Akten von Terrorismus in Tschetschenien, begangen durch den russischen Staat, dessen Führer Vladimir Putin die “völlige Solidarität” Blairs hat.

“Wenige von uns”, schrieb der Dramatiker Arthur Müller, “können einfach unseren Glauben aufgeben, dass die Gesellschaft irgendwie Sinn machen muss. Der Gedanke, dass der Staat seinen Verstand verloren hat und so viele unschuldige Menschen bestraft, ist nicht zu tolerieren. Und so muss der Beweis innerlich abgestritten werden.” Es ist Zeit, dass wir damit aufhören es abzustreiten.

John Pilgers neues Buch “Tell Me No Lies: investigative journalism and its triumphs” (Erzähl mir keine Lügen: investigativer Journalismus und seine Erfolge) wird nächsten Monat im Jonathan Cape-Verlag veröffentlicht.

Quelle: ZNet Deutschland vom 30.09.2004. Übersetzt von: Orginalartikel: The Most Important Terrorism Is ‘Ours’

Veröffentlicht am

02. Oktober 2004

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