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Zwei Berichte über das Rafah-Massaker

Von Amira Hass - Ha’aretz / ZNet 24.05.2004

Zwei in einer Box (Bericht vom 20. Mai 2004)

Rafah. Plötzlich hörte man draußen rufen: “Lasst alles stehen und liegen. Die Juden haben Raketen auf die Demonstration abgefeuert. Viele Opfer. Schickt Ambulanzen!” Der schreiende Mann rennt ins Innere einer kleinen Hütte, die im Hof des Krankenhauses steht. Von hier starten die Ambulanzfahrer.

Es ist gegen 14 Uhr nachmittags. Mehrere Ambulanzfahrer und Pfleger rennen mit verschwommenen Augen aus der Hütte zu ihren Ambulanzen. Als sie abfahren wollen, schießen schon andere Ambulanzen mit Sirenengeheul in den Hof. Sie kommen aus der Stadt. Im Hof versammelt sich eine Menge. Um einen Weg zu bahnen, schiebt jeder jeden beiseite. Die erste Ambulanz parkt ein. 6 Menschen rennen los, ziehen die Bahre eines kleinen Jungen heraus. Seine Kleider sind voller Blut. Andere rennen zur nächsten Ambulanz. Sie muss draußen parken, auf dem Gelände ist kein Platz.

Rund 20 Minuten geht das so. Krankenwagen fahren mit lauten Sirenen ab bzw. versuchen, in den Hof reinzukommen, um Verletzte auszuladen - darunter viele Kinder. Einige sind bewusstlos, ein Kind ist bei Bewusstsein, es weint. Alle Jugendlichen, die tragen helfen, haben blutbespritzte Kleider. Die Krankenwagen fahren raus, rein - spucken die Verletzten aus. Bald kommen Privatfahrzeuge und Taxis hinzu. Die Menschenmenge zieht die Opfer heraus; für einige gibt es Liegen, andere werden über der Schulter transportiert.

Am anderen Ende des Hofs liegt die Leichenhalle. Langsam füllt sie sich. Nur 6 Leichen kann man hier lagern. Seit der Morgendämmerung sind an diesem Dienstag im Viertel Tel Sultan 15 Palästinenser getötet worden. Einige Tote müssen daher zu zweit in eine Box. Man bringt sie in einen großen Kühlschrank, der normalerweise der Lagerung der Kartoffeln dient.

Tel Sultan steht unter Ausgangssperre. Eltern rufen beim Krankenhausdirektor an. Er muss ihnen schwören, die Toten nicht vor ihrem Eintreffen zu begraben. Aber wer weiß, wie lange die Ausgangssperre noch dauert, wann die Armee sie rauslässt…

Gestern wurden hier erneut vier Menschen getötet, unter ihnen ein 13jähriger. Die Umstände sind noch unklar. Man legt die Leichen in einen der Kartoffel-Kühlschränke, so hat man wieder mehr Platz in der Leichenhalle. Einige Jugendliche, die die Opfer hereintrugen, machten einen Fehler und brachten zwei Kinder direkt ins Leichenhaus. Jemand bemerkte den Irrtum, und die beiden vermeintlichen ?Leichen? wurden eiligst ins Krankenhaus geschafft. Zehn Minuten später kehrte eines der Kinder - mit baumelndem Kopf -, in die Leichenhalle zurück. Dann treffen die Eltern ein. Langsam wird klar, wer die Opfer sind bzw. wieviele: acht Tote - vier davon Kinder im Alter von 10, 11, 13 und 14 Jahren. Die andern 4 Toten sind 18, 20, 20 und 31 Jahre alt. Es gibt 62 Verletzte. 16 davon Kinder unter 18.

Gegen 13 Uhr, nach dem Mittagsgebet, hatten sich die Menschen im Shabura-Flüchtlingslager versammelt, um nach Tel Sultan zu marschieren - etwas mehr als zwei Kilometer - eine Solidaritätsdemo. Das Flüchtlingslager Tel Sultan war durch Panzer und Sandsäcke abgeschirmt. Unterwegs schlossen sich immer mehr Menschen an. Ein Feuerwehrauto transportierte Wasser und Lebensmittel - in symbolischer Quantität -, der Marsch ging in Richtung belagertes Viertel. Dort gibt es kaum noch Wasser und keinen Strom. Menschen kamen aus ihren Häusern und schlossen sich den Marschierern an. Schätzungen schwanken zwischen mehreren hundert und zweitausend Leuten.

Vorneweg marschierten die Kinder. “Die IDF-Kollaborateure, die denen Bescheid sagen über jedes Gässchen, wo ein Bewaffneter steht, damit sie eine Rakete auf ihn abschießen können, hätten dem Shin Bet (israelischer Geheimdienst) auch sagen können, dass überwiegend Kinder und Jugendliche marschierten, dass es keine bewaffneten Männer gab und es eine Volksdemonstration war”, sagt jemand.

Nach anderthalb Kilometern kommen die Marschierer auf einen Platz. Die Straße macht eine Linksbiegung. Bis Tel Sultan ist es jetzt noch rund ein halber Kilometer. Die Kinder marschieren voraus und sehen die Panzer. Ältere sind hinter ihnen. Sie sehen, wie die Panzer sich sacht bewegen und ihre Gefechtstürme in ihre Richtung schwenken. Über ihren Köpfen zwei Helikopter - nichts Ungewöhnliches. A., der in der Mitte der Straße marschiert, sieht, wie die Hubschrauber einen “Hitzeballon” abfeuern - so nennt man das in Rafah.

Plötzlich schlägt etwas in den Strommasten neben ihm ein. Es folgt eine Explosion, er fällt um - auch andere um ihn herum. A. kann sich erinnern, dass er noch einmal den Kopf hebt. Dann habe es eine weitere Explosion gegeben. Sie riss die Stahltüren der Läden auseinander. Aus einiger Entfernung sah A.?s Mutter, wie er fiel. Sie sei “vor Angst fast gestorben”. A. ist sich sicher, die erste Explosion kam von einem Panzer. Andere hingegen sprechen von Raketenbeschuss. Die erste Explosion hatte viele Demonstranten getroffen. Etliche rannten, um zu helfen und wurden von der zweiten Explosion erwischt. Drei Stunden später ist der Platz noch immer voller Blut.

Ein kleiner Junge näherte sich der Straßenbiegung, um die Panzer zu sehen. Neben ihm ein Journalist. Sie wollten feststellen, wie weit die Panzer noch vom Platz entfernt sind: einen halben Kilometer, rund 600 Meter. Als ein scharfer Schuss aus Richtung der Panzer fällt, war klar, das Risiko lohnt sich nicht.

Dem Bulldozer nur einen Schritt voraus (Bericht vom 21. Mai 2004)

Rafah. Palästinensische Familien, die nahe der ägyptischen Grenze wohnen, haben ihre Lektion schon vor Jahren gelernt: Stets hat man mehrere kleine Taschen mit wichtigen Dokumenten, Bargeld und ein paar Sachen, an denen man hängt, parat und gepackt. Wenn sich das Baggern der Bulldozer nähert, in der Nähe Panzergranaten einschlagen oder Helikopter über einem kreisen - das letztemal am 12. Mai - schnappen sich die Menschen ihre Taschen und fliehen.

Wa?il Mansurs Familie - inklusive seiner Eltern, Großeltern und Nachbarn - hingegen hatte sich sicher gefühlt. Sie wohnen in einem relativ ruhigen Teil des so oft geschundenen Rafah. Nie hatten sie es für nötig gehalten, ‘Taschen zu packen’. Das Viertel, in dem sie leben, heißt Brazil. Es liegt rund 700 Meter von der Grenze entfernt. Zwischen ihren Häusern und der Grenze liegen mehrere Häuserzeilen. Zwei der Häuserreihen waren aber schon niedergemacht. Dennoch hatte die Mansur-Familie geglaubt, ihr Haus liege weit genug von der Grenze, außerhalb der Gefahrenzone.

Gestern Morgen, 8.30 Uhr: Ein riesiger Bulldozer, so erzählen sie, habe begonnen, die Häuser der Nachbarschaft niederzuwalzen. Die Nachbarn flohen um ihr Leben, einige barfuß, andere ließen Ausweise, Führerscheine (Mansur ist Taxifahrer), Geld, Kleidung und Bücher zurück. Der Bulldozer zerquetschte Mansurs Taxi. Ebenso untergepflügt wurde ein kleiner “Zoo”, den ein Nachbar vor zwei Jahren angelegt hatte, um die örtlichen Kindern zu erfreuen.

Zuvor - Mittwochabend, 22 Uhr - hatten gepanzerte IDF-Fahrzeuge mit Helikopter-Unterstützung in Brazil Stellung bezogen. Mansurs Eltern lebten zusammen mit 13 anderen Personen in einem Gebäude mit Asbest-Dach. Mansurs Haus, in dem 17 Menschen lebten, bestand aus Beton und Asbest. Mansur hatte Angst um das Leben seiner Lieben: Eine Kugel könnte durch die dünnen Hauswände dringen, jemanden töten.

Aus Angst um ihr Leben drängten sich Mittwochnacht also “Frauen, Männer und Kinder” aus beiden Gebäuden in zwei Räumen von Wa?il Mansurs Haus - in der Hoffnung, die IDF ‘Operation Regenbogen’ ziehe bald vorüber. Mittwochnacht machte niemand in Rafah ein Auge zu. Dicht über den Dächern flogen Helikopter; Raketen zischten durch die Luft; überall war Gewehrfeuer zu hören.

Wie alle Menschen Rafahs wartete die Mansur-Familie - mit ihren 31 Mitgliedern in zwei Räumen - auf eine morgentliche Beruhigung der Lage. Gegen 7.30 Uhr bereiteten die Frauen das Frühstück. Die Familienmitglieder hofften auf einen normalen Tag. Aber eine Stunde später brach die Hölle los. Mansur erinnert sich: In Panik und Angst schrien die Nachbarn. Er sei losgerannt, um ihnen zu helfen. Erstaunt habe er festgestellt, dass der Bulldozer im Begriff stand, auch sein Haus niederzureißen und das seiner Großeltern. Mansur: “Ich flehte ihn an (den Bulldozerfahrer), aufzuhören und uns aus dem Haus zu lassen. Er blockierte den Eingang. Der Fahrer saß hinter Glas und hat uns nie gehört… Nur noch eine Sekunde, und wir wären tot gewesen - 50 Personen, Kinder, Alte, Frauen, alle standen wir mit dem Rücken zur Wand, während der Bulldozer auf uns zubaggerte. Der Fahrer hat uns nie gehört. Die Zerstörung ging so schnell vor sich - bevor wir irgendetwas sagen konnten, um sie zu stoppen”.

Was die Mansur-Familie rettete, war eine Eisenleiter, die in den Hof des Nachbarhauses führte. Mansur: “Zuerst ließen wir die Kinder auf die Leiter klettern, dann, unter großen Schwierigkeiten, die alten Leute. Sie fürchteten sich hochzuklettern, aber die Angst trieb uns an, sie zu drängen. Gerade, als wir alle im Nachbarhaus waren, begann der Bulldozer, auch dieses zu zerstören”.

Mansur erzählt weiter. Als sie aus diesem zweiten demolierten Haus flohen, hätte ein Soldat in einem Panzer die verängstigte Familie aufgefordert, die Hände hochzuheben. “Wir sahen, alles in der Gegend lag in Ruinen. Die Geschäfte waren zerstört, der Asphalt aufgebrochen, die Strommasten umgestürzt. Wir hoben die Hände und gingen an den Panzern vorbei, während sie feuerten. Mein Großvater, 85, kann nicht gehen. Ich trug ihn auf meinem Rücken. Ich ging langsam. Der Soldat im Panzer brüllte mich an: “Schneller, schneller?.

Der Sprecher der israelischen Armee (IDF): “Als Teil des Kriegs gegen die Infrastruktur des Terrors, den die IDF führt, operieren Armeekräfte im Viertel Brazil. Im Rahmen dieser Aktivität kam es zu einigen Außenschäden an Gebäuden in der Gegend. Das einzige Gebäude, das die IDF-Kräfte zerstörten, war ein leeres Gebäude, das von Terroristen genutzt wurde, die auf IDF-Truppen schossen. Die Behauptung lokaler Anwohner, ihre Häuser seien zerstört worden, ist nicht korrekt”.

Quelle: ZNet Deutschland vom 27.05.2004. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “Rafah Reports” .

Veröffentlicht am

27. Mai 2004

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